eJournals lendemains 39/156

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
39156

Wozu noch Weber?

2014
Hans-Peter Müller
Yves Sintomer
ldm391560008
8 DDossier der Legitimitätsfrage ansetzt, ohne der strikten Lehre des methodologischen Individualismus zu folgen. Zweitens kann ein Klassiker freier benutzt werden, um mit ihm an zeitgenössischen Fragen zu arbeiten. Wie es M. Rainer Lepsius nahelegt, ist es durchaus möglich, aktuelle Probleme mit Weber zu untersuchen, ohne die ohnehin nicht mehr relevanten Aspekte der weberianischen empirischen Forschung zu behandeln. Zudem kann man Webers Fragestellungen und Begriffe mit Fragen und Begriffen von anderen Autoren oder Strömungen zu neuen Synthesen zusammenführen und damit die Soziologie im Hinblick auf Gegenwartsfragen erneuern. Dies haben die großen Soziologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Pierre Bourdieu in Frankreich und Jürgen Habermas und Niklas Luhmann in Deutschland unternommen. Man könnte sogar behaupten, dass Webers Fragestellungen, selbst wenn sie teilweise überholt sind, nichtsdestotrotz wichtige Orientierungspunkte für die Gesellschaftswissenschaften darstellen. In diesem Sinne untersuchen Frank Meier und Uwe Schimank die Frage der Organisation im Lichte von Webers Konzeption der Bürokratie. Drittens kann Weber in historischer Perspektive gelesen und nutzbar gemacht werden. In dieser Hinsicht wird das Werk Webers als „grandioser Versuch“ (Osterhammel 2013: 1279) betrachtet, die Emergenz der Modernität in der Welt zu untersuchen und die europäische Gesellschaft mit der nicht-abendlichen Welt zu vergleichen. Weber muss dann im politischen und intellektuellen Kontext seiner Zeit situiert werden, um die Aspekte, die Weber mit seinen Zeitgenossen teilt, von denjenigen zu unterscheiden, die die Originalität seines Denkens zeigen und die, selbst wenn sie historisch und sozial bestimmt sind, fast hundert Jahre nach seinem Tod noch ansprechen. In diesem Sinne sind die Beiträge von Aurélien Berlan über die Beziehung von Max Weber zu den zwei - kulturellen und sozialen - „Kritiken“ seiner Zeit, von Hinnerk Bruhns zu Webers Haltung zum Ersten Weltkrieg und von Edith Hanke zu Revolution und Charisma zu verstehen. Dieses Dossier bietet eine Reihe von Perspektiven. Patrice Duran betont die Relevanz von Webers Begriff der Legitimität, den er als eine wichtige Neuheit in der Geschichte der Gesellschaftswissenschaften bezeichnet. Einerseits zeigt er, dass die Legitimitätsfrage mit der Herrschaft verbunden ist. Andererseits ist sie mit der Geltung verbunden. Dieser zweite Aspekt, der bis jetzt in Frankreich kaum untersucht wurde, ist entscheidend, um zu verstehen, wie Herrschaft und Gehorsamkeit für eine Masse von beherrschten Akteuren in der Dauer zusammen gehen. Duran liest die Herrschaftssoziologie Webers mit Blick auf das erste Kapitel von Wirtschaft und Gesellschaft, in dem Weber die soziologischen Grundkategorien vorstellt, und Duran zeigt, dass die Geltung das entscheidende Element für die Konstitution einer Ordnung ist, in der die Akteure davon ausgehen können, dass die sozialen Normen das Verhalten der anderen Akteure tatsächlich eingrenzen und Interaktion möglich wird. Die Legitimität einer Ordnung geht insofern weit über die interpersonalen Befehl-Gehorsamkeits-Beziehungen hinaus und setzt ein 9 DDossier Nachdenken über die Bedingungen einer politischen und insbesondere einer nationalen Gemeinschaft voraus. Frank Meier und Uwe Schimank gehen der Bedeutung von Webers berühmtem Bürokratiemodell für die Organisationsforschung nach. Nach wie vor ist Webers Modell ein Referenzpunkt, wenn auch meist ein negativer. Seine These, dass die fachgetriebene Bürokratie die rationalste, weil effizienteste Form der Verwaltung sei, wird nicht nur durch das Alltagsverständnis widerlegt, in der Bürokratie geradezu als Inbegriff von Ineffizienz und Schwerfälligkeit gilt, sondern auch von der Organisationsforschung selbst. Es gibt eben nicht nur verschiedene Typen der Organisation, sondern auch der Bürokratie. Was in der Organisationsforschung unterschlagen wird, ist jedoch Webers genuin gesellschaftstheoretisches Interesse. Für ihn ist die Bürokratie die rationalste Form der Herrschaftsausübung im Vergleich zur traditionalen und charismatischen Herrschaft. In diesem Doppelbezug auf Organisation und Gesellschaft, so Meier und Schimank, liegt ein Erkenntnispotenzial, von dem Organisationswie Gesellschaftsanalyse profitieren könnten. Aurélien Berlan untersucht das Verhältnis Max Webers zur Kulturkritik seiner Zeit. Er analysiert die unterschiedlichen Kulturkritiken von Nietzsche über Burckhardt bis hin zu Stefan George und zeigt, dass die Kulturkritik Webers mit diesen nicht zu vereinbaren ist. Um seine historische Diagnose zu formulieren, bezieht sich Weber sowohl auf die kulturelle als auch auf die soziale Kritik seiner Zeit, die seine Zeitgenossen jedoch als unvereinbar betrachten. Die erste Kritik betrifft die pathologischen Eigenschaften der Formen des modernen Lebens. Sie prangert den Fortschrittsbegriff der Moderne von Standpunkt einer Lebensphilosophie aus an und versteht sich als idealistisch. Die zweite Kritik, die des historischen Materialismus, betrifft die Ungerechtigkeit in der kapitalistischen Gesellschaft im Namen einer alternativen Moderne und versteht sich als materialistisch. Im Rahmen seiner pessimistischen Überlegungen zum „stahlharten Gehäuse“ liegt die Originalität - und sicherlich auch die Aktualität - Webers in seiner Theorie der Rationalisierungsprozesse, deren Zentrum eine Überlegung zu den typischen Menschen der Moderne bildet, die die Selbständigkeit der Kultur hervorhebt und gleichzeitig die Unmöglichkeit einer Rückkehr zur Vormoderne und die Unvermeidbarkeit der Fortentwicklung des Kapitalismus und der Bürokratie betont. Hinnerk Bruhns reflektiert das Verhältnis Webers zum Ersten Weltkrieg zwischen 1914 und 1920. Weber teilt zunächst die allgemeine Kriegsbegeisterung und bedauert, zu alt zu sein, um selbst kämpfen zu können. Sein Heidelberger Lazarettdienst ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein des überzeugten Patrioten. Aber bald schon, vor allem im Kontext der ausufernden Kriegszielforderungen der deutschen Nationalisten, sucht er verzweifelt nach Mitteln und Wegen, um den Krieg in einer für alle Seiten akzeptablen Weise zu einem raschen Ende zu bringen. Ähnlich wie Durkheim in Frankreich notiert er die enorme Gemeinschaftsbildung, bei der zusammenwächst, was sonst klassenmäßig getrennt ist: die Nation als „gesellschaftliche Gemeinschaft“ (Parsons). Der Krieg als realisierte 10 DDossier Gewaltandrohung ist ihm ein Schicksal, dem man sich stellen muss. Bruhns zeigt überzeugend auf, dass Weber trotz seiner nüchternen Bilanz des verlorengegangenen Krieges in ihm nicht die Zäsur erblickt, die wir heute mit der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts verbinden. Zudem bleibt es ihm durch seinen frühen Tod erspart zu erleben, welche Gewalt und Vernichtung in Gestalt des von Hitler- Deutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkriegs noch kommen sollte. Edith Hanke knüpft an die Überlegungen von Hinnerk Bruhns an. Sie beschäftigt sich mit Webers Konzeptualisierung des historischen Wandels und in diesem Rahmen insbesondere mit den Begriffen Charisma und Revolution. Während der Begriff Charisma - der von der Religion auf das politische Feld ausgeweitet wird -, eine bedeutende Innovation seiner Soziologie ist, findet der Begriff der Revolution keinen bestimmten Platz in seinem Werk. Weber arbeitet keine Theorie der Revolution aus, aber er schreibt über historische Revolutionen, und gegen Ende seines Lebens kündigt er eine Theorie der Umwälzungen an, die schließlich nicht geschrieben wird. In seiner ersten Herrschaftssoziologie benutzt Weber das Charisma und die Revolution vor allem, um außerordentliche Ereignisse in der Vergangenheit und insbesondere das spezielle Schicksal des Abendlandes zu erklären. In diesem Sinne betrachtet er die Revolutionen von 1907 und 1920, um seine Konzeption der Revolution zu überprüfen. Dann verbindet er miteinander die revolutionären Ereignisse und seine Kategorien und leitet hieraus die charismatische Revolution, die traditionelle Revolution und die durch die Veralltäglichung des Charismas entstandene plebiszitäre Führerdemokratie ab. Gleichzeitig versucht er empirisch, die zeitgenössischen Revolutionen voneinander zu unterscheiden. Hier will Max Weber gegenwärtige Ereignisse soziologisch und anthropologisch verstehen, um sie auf einer politischen Ebene schärfer kritisieren zu können. Das Interview mit M. Rainer Lepsius beantwortet nicht nur einige der auch hier aufgeworfenen Fragen. Vielmehr nennt er eine Reihe von Gründen, warum Weber nicht so rasch vergessen werden dürfte. Seine Begriffsbildung, seine Konstellationsanalyse, seine Wirkung, die weit über die Grenzen der Soziologie hinausreicht, und seine wuchtige und bilderreiche Sprache beeindrucken noch immer die nachfolgenden Generationen. ‚Max Weber und kein Ende‘? - so schnell sicherlich nicht und das ist auch gut so. Bernardou, Vanessa / Félix Blanc / Raphaëlle Laignoux / Francisco Roa Bastros (ed.), Que faire du charisme? Retours sur une notion de Max Weber, Rennes, PUR, 2014. Dülffer, Jost „Die geplante Erinnerung. Der Historikerboom und der Erste Weltkrieg“, in: Osteuropa, 64, 2-4, 2014, 351-367. Kaesler, Dirk, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie. München, Beck, 2014. Kaube, Jürgen, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Berlin, Rowohlt, 2014. Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München, C.H. Beck, 2013. Lallement, Michel, Tensions majeures. Max Weber, l’économie, l’érotisme, Paris, Gallimard, 2013. 11 DDossier Löwy, Michael, La cage d’acier. Max Weber et le marxisme wébérien, Paris, Stock, 2013. Weber, Max, La domination, Paris, La Découverte, 2013. Müller, Hans-Peter / Steffen Sigmund (Hrsg.), Max Weber-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart, Metzler, 2014. Radkau, Joachim, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. Aktualisierte Taschenbuchausgabe, München, Hanser, 2014. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Soziologie. Unvollendet. MWG I/ 23, Tübingen, Mohr-Siebeck, 2014a. Weber, Max, Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904-1911. MWG I/ 9. Tübingen, Mohr-Siebeck, 2014b. Weber, Max, La ville, Paris, La Découverte, 2014c. Weber, Max, „Les trois types purs de la domination légitime“, in: Sociologie, 3, 5, 2014d, 71- 112. Weber, Max, Les Concepts fondamentaux de la sociologie, Paris, Gallimard, 2014e.