eJournals lendemains 35/140

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2010
35140

Fleuron du système éducatif? Gesellschaftliche Elitebildung durch die Grandes Ecoles

2010
Christoph Barmeyer
ldm351400094
14: 43: 55 94 Discussion Christoph Barmeyer Fleuron du système éducatif? Gesellschaftliche Elitebildung durch die Grandes Ecoles Einleitung In diesem Beitrag werden Einblicke in das faszinierende System der Grandes Ecoles gegeben, dieser zentralen Bildungsinstitutionen, die Teil der exception française sind. Grandes Ecoles sind Hochschulen, die zum einen zur Elitebildung beitragen, zum anderen ein zentrales und beständiges Element der Strukturierung der französischen Gesellschaft repräsentieren, sind sie doch für Karriereentwicklung, Netzwerkbildung und strategische Positionierung der französischen Elite in Staat und Wirtschaft entscheidend. Ziel des Beitrags ist es, zentrale Merkmale und Funktionsweisen dieses einzigartigen Hochschulsystems zu beschreiben und seine Wirkungsweise auf die französische Gesellschaft, insbesondere die Elitenbildung, zu analysieren. Es wird diskutiert, ob die Grandes Ecoles noch immer einen hohen Stellenwert als wichtige berufliche Sozialisationsinstanzen der französischen Gesellschaft besitzen oder ob ihr Einfluss im Zuge nationaler Reformbestrebungen und internationaler Standardisierungsprozesse schwindet und sie im Begriff sind, ihre jahrhundertealte zentrale Stellung im französischen Gesellschaftssystem zu verlieren. 1 Nous sommes fiers de nos grandes écoles. Elles sont le fleuron de notre système éducatif et forment, pour certaines depuis plus de deux cents ans, une grande partie des élites de notre pays. Mais depuis plusieurs dizaines d’années, elles ne jouent plus suffisamment leur rôle dans le renouvellement des élites, recrutant dans un public socialement de plus en plus favorisé. [...] L’objectif que j’avais fixé de 30% de boursiers dans chaque lycée à classe préparatoire est d’ores et déjà en passe d’être atteint […]L’étape suivante est de parvenir à ce même taux, 30%, dans chaque grande école: je dis bien dans chaque grande école. Mais également, car ce sont des secteurs où la reproduction sociale est tout aussi importante, dans les études de droit ou de médecine.2 Staatspräsident Nicolas Sarkozy forderte also im Januar 2010 eine 30%ige Stipendien-Quote, die angehenden Studierenden aus sozial benachteiligten Gesellschaftsschichten die Möglichkeit geben soll, eine Grande Ecole zu besuchen. Auf diese Weise soll innerhalb der Grandes Ecoles eine mixité sociale entstehen. Seine Forderung führte zu Polarisierungen zentraler Akteure des französischen Bildungssystems: Während Pierre Tapie, Direktor der Wirtschaftshochschule ESSEC und Präsident der Vereinigung französischer Grandes Ecoles, sich gegen Stipendien aussprach und auf einem für alle Kandidaten gleichen Aufnahmewettbewerb, concours, beharrte, ergriff der Direktor der Pariser Grande Ecole Sciences Politiques, Richard Descoings Partei für eine ouverture sociale. Diese könnte die 95 Discussion bisher vorherrschende relative Homogenität einer Bildungsbürger-Elite, wie sie seit Jahrzehnten kritisch thematisiert wird, auflösen und zu einer Bildungsdemokratisierung führen. Das Bildungssystem, das eigentlich im Sinne des republikanischen Ideals der égalité seit der III. Republik für Chancengleichheit sorgen soll, „L’élite est ouverte à tous, et que le meilleur gagne! “, trägt nach wie vor zu einer Elitenbildung, jedoch auch zunehmend zur gesellschaftlichen Ungleichheit bei (Peters 2004). Dabei ist es doch gerade das Bildungssystem, das neben faktischem Wissen auch die Werte der französischen Republik vermitteln (Argenson 2008) und somit ein gesellschaftliches Integrationsmodell darstellen soll (Dubet et al. 2010). 1. Die Grandes Ecoles im französischen Hochschulsystem Bevor auf drei zentrale Merkmale der Grandes Ecoles eingegangen wird, ist es sinnvoll, die Grandes Ecoles als Hochschulen im französischen Bildungssystem zu verorten und ihr Verhältnis zu den universités zu illustrieren. Seit vielen Jahrzehnten ist das französische Hochschulsystem von einer fortdauernden, sich in den letzten Jahren noch akzentuierenden Dualität geprägt (Peters 2006): Auf der einen Seite finden sich staatliche personell und finanziell schwach ausgestattete Universitäten, die einen Großteil der französischen Studierenden aufnehmen, nämlich 2,3 Mio. Studierende im Jahre 2007. Die Universitäten sind vor allem für die akademische Ausbildung und Vergabe universitärer Diplome (Licence, Master) zuständig, die ihren Höhepunkt im Erwerb des Doktortitels (Doctorat) hat. Auf der anderen Seite finden sich etwa 220 teils staatliche, teils private Grandes Ecoles, die nach einem strengen Auswahlverfahren lediglich 5% der französischen Studierenden annehmen, aber über fast 30% des Hochschulbildungsbudgets verfügen. Die meisten Grandes Ecoles sind Ecoles d’Ingénieurs und Ecoles de Commerce. Die angesehensten Très Grandes Ecoles sind die Ecole Polytechnique (1794 3 ), die Ecole Normales Supérieure (1794) und die HEC (Ecole des Hautes Etudes Commerciales, 1881), die Ecole des Mines (1783), die Ecole des Ponts et Chausées (1747), die Ecole Centrale (1882) sowie die ENA (Ecole Normale d’Administration, 1945). Allerdings weisen sie unterschiedlichste Statute auf und unterliegen - anders als die Universitäten - keiner gesetzlichen Definition. Dementsprechend unterschiedlich sind die angebotenen Studiengänge, die finanzielle Ausstattung, die Qualifikationen der Lehrenden und Lernenden, die Größe und der Einfluss der jeweiligen Ehemaligen-Netzwerke etc. Die Grandes Ecoles bieten zwar eine theoretische Ausbildung, verstehen sich jedoch in erster Linie nicht als akademische Institution, sondern als berufsvorbereitende Bildungsinstitutionen. Bezeichnend ist, dass Grandes Ecoles keinen Doktortitel verleihen; dieser hat in Frankreich kein hohes Ansehen, steht er doch für eine zu theoretische und (zu) enge und (zu) spezialisierte Ausbildung. So verwundert 96 Discussion es nicht, dass die Erwerbslosenquote der diplomierten Doktoranden (10%) im Jahre 2007 über der der diplomierten Master-Absolventen (7%) lag. Die Forschungstätigkeit dieser Institutionen ist entsprechend schwach. Eine Ausnahme bilden die „großen“ Ecoles de Commerce, deren Hochschullehrer eine rege Publikationsaktivität in bestimmten „gerankten“ angelsächsischen wissenschaftlichen Zeitschriften, Journals, aufweisen. Diese hohe Publikationsaktivität hat jedoch weniger mit intrinsischen Motivationsfaktoren, wie wissenschaftlicher Neugierde an Inhalten und Problemstellungen, Kreativität für Konzept- und Modellbildung oder Freude an akademischer Produktivität zu tun, als vielmehr mit extrinsischen Motivationsfaktoren: Zum einen wird in jährlichen Zielvereinbarungsgesprächen zwischen Hochschullehrer und Direktor eine Anzahl von Publikationen festgelegt, die auch eingehalten werden muss; zum anderen existiert ein Prämiensystem; wird ein Beitrag in einem renommierten Journal veröffentlicht, erhalten die Autoren mehrere Tausend Euro „Belohnung“. Diese „ökonomischen“ Anreize finden sich bisher weder in den öffentlichen Grandes Ecoles noch in den Universitäten. Folgende Tabelle 1 zeigt, bewusst in einer Dichotomie von Extremen, Unterschiede zwischen Universitäten und Grandes Ecoles auf. Grandes Ecoles Französische Universitäten Hohes soziales Prestige Geringes soziales Prestige Selektion der Studierenden keine Selektion der Studierenden i.d.R. ein Abschlußdiplom ohne Notenangabe Diplomvielfalt und -heterogenität mit Notenangabe enge Beziehungen zu Unternehmen und Ehemaligen kaum Beziehungen zu Unternehmen und keine zu Ehemaligen praxisorientierte und teilweise theoretische Herangehensweisen theoretische Herangehensweisen intensive Betreuung durch Lehrkräfte i.d.R. kaum Betreuung durch Lehrkräfte zahlenmäßig kleine Unterrichtsgruppen zahlenmäßig große Unterrichtsgruppen Studierende haben ausgeprägtes Selbstwertgefühl und Corps-Geist Studierende haben wenig Selbstwertgefühl und keinen Corps-Geist gut organisiert in Gruppen und Vereinigungen („Associations“) kaum organisiert in Gruppen und Vereinigungen Tab. 1: Unterschiede zwischen Grandes Ecoles und französischen Universitäten (basierend auf Barmeyer 2001a, 181) 97 Discussion Anhand dieser dichotomen und leicht überzeichneten Gegenüberstellung - die wiederum variiert nach jeweiligem Status der Hochschule - wird deutlich: Die beschriebene Dualität ist weniger eine horizontale, als eine vertikale: Bezeichnend ist, dass die Grandes Ecoles in der gesellschaftlichen Hierarchie sozialen Prestiges den Universitäten übergeordnet sind mit Ausnahme von Ausbildungen, die die Grandes Ecoles nicht anbieten, wie Rechtswissenschaften, Medizin und Pharmazie (Cytermann 2007). Es besteht folglich ein vertikales Gefälle zwischen den gesellschaftlich hoch angesehenen Grandes Ecoles - die sich wiederum in zwei „Klassen“ unterteilen - und den Universitäten. Diese vertikale Dualität, so einige Autoren, repräsentiere ein vorrevolutionäres Stände-System: Il y a quelque chose d’archaïque dans l’organisation de l’enseignement supérieur en France qui rappelle de manière caricaturale l’Ancien Régime, avec une noblesse, un clergé et un tiers état. La noblesse, ce sont les grandes écoles d’ingénieurs ou de commerce, les écoles normales supérieures et l’ENA. Le clergé regroupe les établissements à statut particulier comme Sciences Politiques, quelques universités avec un statut dérogatoire comme Paris-Dauphine, et des écoles d’ingénieurs ou de commerce moins prisées que les grandes et qui sont dites, avec une condescendance très monarchique, „de province“. Enfin, le tiers état rassemble plus de deux tiers des étudiants et regroupe les universités et les instituts universitaires de technologie (Lorenzi/ Payan 2003, 13-14). Ein vielbeachteter kulturhistorischer Erklärungsansatz dieser Segmentierung stammt von dem französischen Organisationssoziologen Philippe D’Iribarne, der das heutige Frankreich noch als eine Société des Rangs, eine moderne Ständegesellschaft mit Privilegien, sieht, in dem Individuen um ihren „Platz“, ihre „Stellung“ ringen müssen: „La France demeure la patrie de l’honneur, des rangs, de l’opposition du noble et du vil, des ordres, des états, qui se distinguent autant par l’étendue de leurs devoirs que par celle de leurs privilèges (D’Iribarne 1989, 258). Anzunehmen, dass ein gewisser Wettbewerb in der Hochschullandschaft sich nur zwischen Grandes Ecoles und Universitäten abspiele, wäre zu kurz gegriffen. Die vertikale Hierarchisierung findet sich auch zwischen den verschiedenen Grandes Ecoles. Dieses Phänomen wird von den in Frankreich viel beachteten und einflussreichen Classements, den ständig in den Medien präsenten Hochschulrankings, einerseits eindrucksvoll illustriert, andererseits tragen diese auch erheblich zur Kontinuität dieses Wettbewerbs bei. Die seit langem angesehensten Grandes Ecoles sind die Ingenieurshochschulen Ecole Polytechnique, Ecole des Mines und Ecole Centrale sowie weitere, den Ministerien unterstehenden Grandes Ecoles. Daran schließen sich eine Vielzahl weniger angesehener Ingenieurshochschulen an. Ecoles d’Ingénieur und Ecoles de Commerce haben ihre separaten Rankings (Guiomard 2007). Tabelle 2 illustriert ein Ranking der Ecoles de Commerce. 98 Discussion Ecoles Rang Puissance Rang International Rang Dynamique HEC Paris 1 1 9 Essec Paris 2 2 7 ESCP Europe Paris 3 10 5 EM Lyon 4 6 7 Edhec Lille Nice 5 12 1 Audencia Nantes 6 6 3 Grenoble EM 7 8 2 ESC Toulouse 8 17 11 Rouen BS 9 4 16 Bordeaux EM 10 13 19 EM Strasbourg 11 18 14 Euromed Marseille 12 9 12 „ „ „ „ ESC Chambéry 30 30 24 Tab. 2: Auszug aus dem Ranking der Grandes Ecole de Commerce 2010 der Zeitschrift (Challenges, http: / / www.challenges.fr/ classements/ ecoles_de_commerce/ avec_prepas/ index.html) Mehr als in Frankreich zugegeben wird, lassen sich die unterschiedlichen Rankings, die neben objektiven Kriterien, wie Anteil ausländischer Professoren oder Studierender, Anzahl wissenschaftlicher Publikationen in international renommierten Zeitschriften, innovative Pädagogik, Betreuungsrelation zwischen Studierenden und Lehrenden, Arbeitsmarktchancen, Höhe des Einstiegsgehalts etc., auch vom Kommunikations- und Marketinggeschick der jeweiligen Hochschule geprägt sind, kritisieren. Wie alle Evaluationen sind auch sie nicht gegen Manipulation gefeit. Nebenbei sei auch bemerkt, dass die Grandes Ecoles über ein beeindruckendes jährliches Kommunikationsbudget, teilweise mehrere hunderttausend Euro jährlich verfügen, von denen deutsche Hochschulen weit entfernt sind. Die vorgestellte Dualität des Hochschulsystems ist zwar Kritiken ausgesetzt (Sonntag 1997, Lebèque/ Walter 2008), doch eine Annäherung zwischen Grandes Ecoles und Universitäten wird vor allem von Seiten der Universitäten angestrebt. Die Universitäten erhoffen dadurch ihre Studienbedingungen, Motivation der Lehrenden und finanzielle Ausstattung zu verbessern. Allerdings ist von einseitig ersehnten Annäherungsprozessen, deren Folge weniger Elitenbildung und mehr Forschung an den Grandes Ecoles, mehr Ansehen für die Universitäten wäre, tatsächlich nichts zu spüren. 99 Discussion 2. Gesellschaftliche Effekte und Eliten: Grandes Ecoles-Absolventen in Führungspositionen von Staat und Wirtschaft Im Anschluss an die dargestellte Dualität des französischen Hochschulsystems und seine Hierarchisierung zwischen „noble“ und „vil“ (D’Iribarne 1989) wird nun gezeigt, in welchem Maße und in welchen Bereichen die Grandes Ecoles-Absolventen tätig werden. Die Absolventen der Grandes Ecoles bilden seit Jahrzehnten die Speerspitze einer politischen und wirtschaftliche Elite (Maclean et al. 2006), die an einflussreichen Schnitt- und Schaltstellen Frankreichs die Geschicke des Landes lenkt und gestaltet (Joly 2005, Peters 2006). Aus diesem Grunde sprechen Soziologen wie Pierre Bourdieu (1989), Ezra Suleiman (1979, 1997) und Michael Hartmann (2007) von einer „Reproduktion der Elite“, wie es sich bis in die Umgebung des Staatspräsidenten beobachten läßt: die meisten französischen Regierungen des 20. Jahrhunderts rekrutierten sich unter Absolventen der renommiertesten Grandes Ecoles, vor allem der ENA, die im Anschluss an eine vorangehende Grande Ecole, wie etwa das IEP besucht wurde (Kasten 1). Michel Rocard, „18 juin“4 (1958), ehem. Premierminister Jacques Chirac, „Vauban“ (1959), ehem. Staatspräsident Jacques Attali, „Robespierre“ (1970), Wirtschaftler, ehem. Berater François Mitterrands Martine Aubry, „Léon Blum“ (1975), Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Bürgermeisterin von Lille François Hollande, „Voltaire“ (1980), ehem. Vorsitzender der Sozialistischen Partei Ségolène Royal, „Voltaire“ (1980), Vorsitzende des Regionalrats Poitou-Charentes, ehem. Präsidentschaftskandidatin 2007 Dominique de Villepin, „Voltaire“ (1980), ehem. Premierminister Laurent Wauquiez, „Nelson Mandela“ (2001), Beigeordneter Staatssekretär für Beschäftigung Kasten 1: Bekannte, in der Politik tätige ENA-Absolventen und die jeweiligen Jahrgangs-Bezeichnungen Jüngste und prominenteste Ausnahme ist dabei die Regierung von Staatspräsident Sarkozy, der im Übrigen selbst auch keine Grande Ecole besucht hat, sondern Absolvent der Université Paris X Nanterre ist. Das fehlende Réseau, Netzwerk, konnte sich der Jurist Sarkozy allerdings als langjähriger Bürgermeister des wohlhabenden Pariser Vorortes Neuilly-sur-Seine (1983-2002) und durch seine Anwaltstätigkeit für Großindustriellen-Familien wie Bouygues oder Lagardère, aufbauen, die er etwa zu Themen wie Erbschaftsnachfolge beriet. Neben Führungspositionen in der Politik gelangen die Grandes Ecoles-Absolventen auch in Großunternehmen auf viele Vorstands- und Aufsichtsratsposten; sie sind mit etwa 70-80% weit stärker vertreten als Universitätsabsolventen (Bauer/ Bertin-Mourot 1996). Bekannte Namen von ENA-Absolventen sind etwa Jean-Marie Messier (Jahrgang 1982), ehem. Direktor des Konzerns Vivendi, Louis Gallois (Jahrgang 1972), Präsident von EADS, Frédéric Oudéa (Jahrgang 1987), 100 Discussion Vorstandsvorsitzender des Bankkonzerns Société Générale, Louis Schweitzer (Jahrgang 1976), ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Renault-Nissan. Am Beispiel von drei Unternehmen der Baubranche, beispielhaft für andere Branchen, wird folgend die Dominanz von Grandes Ecoles-Absolventen illustriert (Tabelle 3) und gezeigt, aus welchen Grandes Ecoles die Unternehmensvorstände kommen (Tabelle 4). Unternehmen der Baubranche Prozentsatz Lafarge 73% Bouygues Construction 73% Vinci Construction 62% Gesamt 71% Tabelle 3: Prozentualer Anteil von Grandes Ecoles-Absolventen im Vorstand der drei großen französischen Bauunternehmen (2007) Grande Ecole Anzahl Ecole Polytechnique 7 Ecole Nationale des Ponts et Chaussées 6 IEP Paris und IEP Bordeaux 5 HEC und ESCP-EAP 4 Ecole des Mines de Nancy und Paris 4 ENA 2 Tabelle 4: Herkunft und Anzahl der Vorstandsvorsitzenden der drei großen französischen Bauunternehmen (2007) Auch in deutsch-französischen Unternehmen wie EADS werden Spitzenpositionen von Grandes Ecoles Absolventen besetzt. Selbst beim Fernsehsender ARTE ist der Président Jérôme Clément ein Enarque - Absolvent der Verwaltungshochschule ENA - und der Geschäftsführer Victor Rocaries stammt von der Wirtschaftshochschule HEC Paris. Untersuchungen zeigen, dass diese Tendenz stabil ist, ja sogar zunimmt (Barmeyer/ Schlierer/ Seidel 2007). Interessant ist auch zu sehen, wie sich das oben beschriebene Stände-System der Ausbildungsniveaus (Très Grandes Ecoles, Grandes Ecoles und Universitäten) und der Wert des jeweiligen Diploms im Mikrokosmos von Unternehmen, konkret in der Hierarchie der Organisation darstellt (Abb. 1). Diese hierarchische pyramidale Strukturierung macht es den Akteuren an der Basis der Pyramide auf diese Weise schwer, in höhere Positionen zu gelangen (Barmeyer/ Schlierer/ Seidel 2007). 101 Discussion Hierarchiestufen Ausbildungsniveau Unternehmensleitung Cadres Manager Hochschulen (Grandes Ecoles) 5jähriges Studium 5 jähriges Studium Universitäten 2 jähriges Studium mit Sekundärabschluss Angestellte Arbeiter Experten Sachbearbeiter ohne Sekundärabschluss Abbildung 1: Hierarchieebenen und Ausbildungsniveaus (Barmeyer/ Schlierer/ Seidel 2007, 225) 3. Zentrale Merkmale und Funktionsweisen der Grandes Ecoles Nachdem die Grandes Ecoles im französischen Hochschulsystem verortet wurden (1.) und auf gesellschaftliche Effekte und Eliten eingegangen wurde (2.), werden nun zentrale Merkmale dieser Bildungsinstitutionen beschrieben, die die Logiken und Funktionsweisen dieser Hochschulen erklären. 3.1. Kognitive Dimension: Wissen, strukturiertes Denken und Synthese-Fähigkeit Alle Grandes Ecoles haben gemeinsam, dass die Studierenden erst nach Bestehen eines schwierigen Aufnahmewettbewerbs, dem Concours d’entrée oder Concours d’admission, das Studium beginnen können. Anders als Universitäten, wählen die Grandes Ecoles also ihre Studierenden aus. Vorbereitungsklassen, die meist an privaten oder öffentlichen Gymnasien angeboten werden, sogenannte Classes préparatoires aux Grandes Ecoles (CPGE), bereiten auf den Concours vor (Unterweger-Treven 2006). Elitehochschulen 102 Discussion Wesentlichstes Merkmal der Grandes Ecoles ist also die eingangs diskutierte Selektion der Studierenden, die jedoch ausschließlich eine intellektuelle Auslese in Form des concours, des Aufnahmewettbewerbs, darstellt. Auf diese Weise sollen intellektuell schwächere oder weniger fleißige Kandidaten „ausgesiebt“ werden. Eine weitere Stufe der Selektion stellen die jährlichen Studiengebühren der privaten Grandes Ecoles von 5.000 bis 10.000 € dar. Dies ist jedoch nur eine theoretische Hürde, denn in der Praxis können die Studierenden ihr Studium durch eine bourse, ein Stipendium, zu günstigen Konditionen finanzieren. Diese bourse können sie nach wenigen Jahren Berufstätigkeit problemlos zurückzahlen, schließlich liegen die Einstiegsgehälter von Grandes Ecoles-Absolventen etwa 20-40% über denen der Universitätsabsolventen. Was sind nun zentrale Selektionslogiken des concours? An Lycées, Gymnasien, angesiedelte Vorbereitungsklassen, sogenannten classes préparatoires, werden die besten Abiturienten eines Jahrgangs in zwei Jahren auf den concours, der schriftliche und mündliche Prüfungen beinhaltet, vorbereitet. Wie bei den Grandes Ecoles, unterliegen auch die classes préparatoires einem Ranking, das die prozentuale Erfolgschance aller Kandidaten eines Jahrgangs auf Aufnahme in eine Grande Ecole veröffentlicht. Die renommiertesten dieser lycées, wie Louis le Grand oder Henri IV, liegen nahezu ausschließlich in Paris - ganz dem zentralistischen französischen System treu. In dieser zweijährigen Vorbereitungszeit, die einen sechstägigen Unterricht und zusätzlich individuelles Lernen am Abend und am Wochenende beinhaltet, erwerben die Kandidaten ein breites und zugleich profundes Allgemeinwissen, das je nach concours und zukünftiger Studienrichtung - Naturwissenschaft, Wirtschaft, Technologie und Literatur - unterschiedliche Themen abdeckt (Tabelle 5). Option Scientifique Option Economique Option Technologique Filière Littéraire Contraction de texte (3h) Première langue (4h) Deuxième langue (3h) Culture générale (4h) Culture générale (4h) Culture générale (4h) Dissertation Littéraire (4h) 1ère épreuve Mathématiques 1ère épreuve (4h) 1ère épreuve Mathématiques 1ère épreuve (4h) Mathématiques (4h) Dissertation Philosophique (4h) Histoire, géographie et géopolitique du monde contemporain (4h) Analyse économique et historique des sociétés contemporaines (4h) Economie et Droit (4h) Histoire (4h) Mathématiques 2ème épreuve (4h) Mathématiques 2ème épreuve (4h) Management et gestion de l’entreprise (4h) Géographie Mathématiques Sciences Sociales Troisième langue (4h) Tabelle 5: Themen des schriftlichen Concours 2010 für die Aufnahme an einer Grande Ecole de Commerce samt Prüfungslänge pro Thema (http: / / www.hec.fr/ imprimer/ Grande-Ecole/ Admissions/ Admission-surclasses-preparatoires) 103 Discussion Beim Concours müssen die Kandidaten, junge Franzosen im Alter von 19 oder 20 Jahren, ihre intellektuellen Fähigkeiten, Allgemeinwissen und letztendlich ihre psychische und physische Belastbarkeit unter Beweis stellen. Auf kognitiver Ebene werden neben einer intensiven Wissensaufnahme, strukturiertes Denken - die streng gegliederte Aufsatzstruktur der Rédaction (Götze 1993) - Thèse-Antithèse- Synthèse - gefördert, die sich in der Problemlösungsfähigkeit ausdrückt. Fremdsprachen - insbesondere Deutsch - vor allem aber Mathematik, eine matière noble, weil neutral, objektiv und messbar, sind die entscheidenden Selektionshürden des concours (Barmeyer 2001b). Deshalb sind sie auch in allen vier Studienrichtungen enthalten. Mathematik, so die französische Auffassung, eigne sich am besten, um hoch geschätzte Fähigkeiten wie Abstraktions-, Analyse- und Synthesefähigkeit, esprit de synthèse, abzuprüfen. Diese führen zu Klarheit und Strukturiertheit im - strategischen - Denken, in der Kommunikation und im Handeln. Genannte Fähigkeiten werden in Frankreich höher eingestuft als fachliches Wissen und zeichnen, wie es Philippe D’Iribarne (1989, 2006) in seinen Studien zum französischen Ehrgefühl, l’honneur, immer wieder zeigt, seit Jahrzehnten Führungskräfte in Politik und Wirtschaft aus: Fachwissen ist kontextbezogen und veraltet schnell; es wird - austauschbaren - Experten überlassen. Allein die Betrachtung der Themen, der kurzen Prüfungsperiode (3. bis 18. Mai 2010) und der hohen Stundenzahl (26 Stunden) der Tabelle 4 macht deutlich, dass es sich beim concours um einen psychisch und physisch fordernden und anstrengenden „kognitiven Marathon“ handelt, der ganz in der Tradition der französischen Meritokratie und Ideale der Grande Revolution steht: Der gesellschaftliche Stand ist nicht mehr automatisch gegeben, sondern kann durch den „Erwerb von Bildungskapital“, wie Pierre Bourdieu (1989) es nennt, „erkämpft“ werden. Hat der Kandidat bestanden, wird er in den Kreis der „Erwählten“ aufgenommen. Hat er gar eine überragende Punktzahl erreicht, kann er sich die „beste“ Grande Ecole aussuchen. 5 Dass dieser grundsätzlich auf Chancengleichheit abzielende concours jedoch nicht zu mehr égalité führt, sondern bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und Ungleichheiten zementiert, belegen Zahlen des französischen Statistikamts: im Jahre 2000 stammen über 60% der Studienanfänger aus Haushalten der sozioprofessionellen Kategorie (CSP) der Führungskräfte, Unternehmensleiter und Freiberufler. Aus Angestellten- und Arbeiter-Haushalten stammten jeweils nur 5%, nur 3,5% kamen aus bäuerlichen Elternhäusern (Cytermann 2007). 3.2. Haltungs-Dimension: Wettbewerbsverhalten und Individualismus Bedeutend für die französische Kulturbildung und - berufliche - Sozialisation ist, dass nicht nur der Intellekt der Kandidaten entwickelt werden soll, sondern auch eine spezifische Haltung, ein Mind Set und das ab der Ecole Maternelle erlernt wird: Es handelt sich um émulation, der aus dem Jesuitentum stammende und durch Schulnoten geprägte anstichelnde Wettbewerb, der zu einem individualistischen und kompetitiven Verhalten führt und sich im späteren Führungsverhalten in Staat und Wirtschaft als hilfreich erweisen wird. Ebenso fördert der concours Quali- 104 Discussion täten wie Arbeitsmethodik und -organisation, Hierarchieakzeptanz sowie eine hohe Stressresistenz. Die Selektion in Verbindung mit relativ kleinen Strukturen und ausreichend finanziellen Mitteln - eine Grande Ecole nimmt pro Jahrgang nur einige hundert Studierende auf - führt zu einer gewissen Exklusivität, die wiederum sehr gute Studienbedingungen und ein sehr gutes Betreuungsverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden zur Folge hat. Dies wirkt sich wiederum auf die Lehrqualität und den Lernfortschritt aus. Grandes Ecoles stellen durch Bildungskapital sozial und territorial definierte Räume dar, in denen junge Menschen eine bestimmte Sicht der Welt erlernen. Durch dieses Selbstverständnis entwickelt sich ein besonders ausgeprägtes Selbstbewußtsein, ein Elite-Denken, das die Absolventen selbstsicher, kreativ und zupackend erscheinen lässt. Die These, dass in den Grandes Ecoles weniger Ausbildungsinhalte und spezialisiertes Wissen als das Erlernen einer bestimmten Haltung, wie Wirklichkeitsphänomene verstanden, interpretiert und gelöst werden können, im Mittelpunkt stehen, wird von den Ausbildungs- und Lehrplänen der bedeutendsten Grandes Ecoles gestützt. Diese messen - im Gegensatz zu Deutschland - dem Generalistentum und dem Allgemeinwissen eine hohe Bedeutung bei (Barmeyer 2001a). Ein Beispiel für die hohe Wertschätzung des Generalistentums ist die Ecole Polytechnique. Den Studierenden, die gleichzeitig zu Reserveroffizieren ausgebildet werden, wird neben naturwissenschaftlichen Inhalten vor allem enzyklopädisches und generalistisches Wissen vermittelt, das sie befähigt, strategisch und in großen Zusammenhängen zu denken. Nicht das Detail oder eine Struktur, sondern vielmehr Prozesse, Beziehungen und ihre Wirkungen stehen im Vordergrund. Schließlich kann Spezialistentum dazu führen, sich im Detail zu verlieren, Generalistentum dagegen hilft, den Überblick zu behalten; ein Blick auf die an der Ecole Polytechnique vermittelten Kompetenzen (Kasten 2) ist aufschlussreich. Vermittelt werden pluridisziplinäre, analytische, soziale, didaktische und mathematische Kompetenzen. Die Fachkompetenz als Ingenieur findet interessanterweise keine Erwähnung. • socle pluridisciplinaire solide, associé à un haut degré de formalisation • aptitude à analyser les faits/ problèmes et à proposer des stratégies opératoires • compétences dans la modélisation et la manipulation des outils mathématiques • aptitude au travail en équipe • expérience de la recherche et de l’entreprise de durée variable selon le cycle/ diplôme considéré • compétences dans la communication écrite et orale • goût d’apprendre tout au long de la vie grâce aux méthodes d’apprentissage acquises au cours de la scolarité Kasten 2: Vermittelte Kompetenzen an der Ecole Polytechnique (http: / / www.polytechnique.edu/ accueil/ enseignement-programmes/ cycle-ingenieur-polytechnicien/ ) 3.3. Verhaltens-Dimension: Soziale Netzwerke und Beziehungen Netzwerke, Réseaux, von Führungskräften aus Wirtschaft und Politik haben einen sehr hohen Stellenwert in Frankreich. Schon sehr früh, spätestens ab dem Studium an einer Grande Ecole, werden Netzwerke geknüpft bzw. die Akteure werden 105 Discussion in bereits bestehende integriert. Hierdurch gelangen Absolventen einer Grande Ecole meist relativ schnell in verantwortliche und einflussreiche Positionen. Die Grandes Ecoles schaffen somit durch Selektivität und Ehemaligennetzwerke stabile, Jahrzehnte anhaltende Beziehungen unter Absolventen einer jeweiligen Grande Ecole, die sich durch alle einflussreichen politischen und wirtschaftlichen Organisationen ziehen (Barmeyer/ Schlierer/ Seidel 2007, Maclean et al. 2006). Neben der Qualität der Ausbildung ist somit die Netzwerkbildung in Verbindung mit einem ausgeprägten Zugehörigkeitsgefühl ein zentraler Erfolgsfaktor der Grandes Ecoles. Dabei bestehen besonders enge Verbindungen zwischen Absolventen derselben Grandes Ecoles, womöglich desselben Jahrgangs. Nach dem Prinzip der Zusammengehörigkeit funktionieren die réseaux. Sie sorgen folglich für den Zusammenhalt unter Absolventen einer Hochschule und haben auch auf diese Weise einen besonderen Einfluss auf die Auswahl der Mitarbeiter in Unternehmen und die Besetzung bestimmter Posten im Staatsdienst oder in Unternehmen. Die Absolventen kennen sich oft persönlich und fühlen sich in der Zugehörigkeit zu bestimmten Corps eng verbunden, was zu engen Verflechtungen zwischen Politik, Verwaltung und Privatwirtschaft führt. Ein Absolvent der Ecole Polytechnique etwa, der wie die Hochschule „X“ genannt wird, bleibt sein ganzes Berufsleben ein „X“, unabhängig davon, ob er für einen Bau-, Automobil- oder Pharma-Konzern arbeitet. Sein Netzwerk ist folglich nicht an eine Branche, ein Unternehmen oder staatliche Ministerien gebunden, wie es häufig in Deutschland der Fall ist, sondern an das réseau derselben Grande Ecole. Da diese Netzwerke alle Bereiche des französischen Lebens umspannen, kann auch von einer „Osmose der Eliten“ gesprochen werden (Barmeyer/ Schlierer/ Seidel 2007). Die Netzwerke der jeweiligen Hochschulen sind sowohl quantitativ als auch qualitativ bedeutend: Allein die HEC verfügt über ein Ehemaligen-Netzwerk mit 43.000 Absolventen. Zentrales Instrument ist das Annuaire, Absolventenbuch, das allen Absolventen ausgehändigt wird. Es führt die Ehemaligen nach Namen, Jahrgang, Funktion, Position und Profession auf. So lassen sich je nach Suchkriterium die Netzwerk-Partner in bestimmten Positionen und Funktionen schnell finden. Das Absolventenbuch der „erst“ seit 1945 bestehenden ENA aus dem Jahre 2004 füllt allein 800 Seiten. Diese Annuaires sind inzwischen auch im Internet zu finden; bei der berühmten Ecole Polytechnique nennt es sich „Les X sur le web“. 6 Zur Illustration wird beispielhaft der ENA-Absolventen-Jahrgang ‚Voltaire’ des Jahres 1981 herausgegriffen (Tabelle 6), der deutlich macht, wie eng die Akteure, unabhängig davon, in welchen Bereichen sie tätig sind oder welcher politischen Richtung sie angehören, miteinander verbunden sind. 106 Discussion Name Ségolène Royal Dominique de Villepin François Hollande Henri de Castries Jahrgang 1953 1953 1954 1954 Ausbildung: Hochschule Nancy II, IEP, ENA IEP, ENA HEC, IEP, ENA HEC, ENA Funktionen 1980-1982: Richterin am Verwaltungsgericht 1984-1988: Beraterin im Generalsekretariat vom Präsidenten 1988: Abgeordnete der Nationalversammlung für das Department Deux- Sèvres 1992-1993: Umweltministerin 1997-2000: Unterrichtsministerin 2000-2002: Familienministerin 2007: Präsidentschafts-kandidatin 1980: Ernennung zum Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten 1980-1995: verschiedene Funktionen im französischen Außenministerium und in Botschaften (USA/ Indien)7 1996-1999: Präsident des Verwaltungsrats des französischen Forstamtes „Office national des forêts“ (ONF) 1995-2002: Generalsekretär des Staatspräsidenten 2002-2004: Minister für auswärtige Angelegenheiten, Kooperation und Francophonie 2004-2005: Minister für innere Angelegenheiten, nationale Sicherheit und lokale Freiheiten 2005-2007: Premierminister 1980-1981: Tätigkeit am Rechnungshof 1983-1989: Mitglied im Gemeinderat von Ussel (Corrèze) für die Sozialistische Partei 1988-1993: Abgeordneter des Bezirks Tulle 1994-1997: Parteisekretär für Wirtschaftsfragen, Parteipressesprecher 1997: Abgeordneter des Bezirks Tulle und Ernennung zum Vorsitzender der Partei 1998-1999: Vize- Präsident des Regionalrates von Limousin 1999-2001: Abgeordneter im Europa-Parlament 2001: Bürgermeister von Tulle 2002-2007: Abgeordneter des Bezirks Tulle 2008: Generalberater des Kantons Vigeois, Präsident des Generalrates von Corrèze Finanzministerium (Inspection Office) Seit 1989: verschiedene Positionen bei AXA, Versicherungskonzern Derzeitige Funktion Seit 2004: Vorsitzende des Regionalrates von Poitou- Charentes 2010: Gründung der eigenen Partei „Solidarische Republik“ Abgeordneter in Corrèze (député de la première circonscription de la Corrèze) und Präsident des Conseil Général Vorstandsvorsitzender AXA Tabelle 6: Bekannte Absolventen des ENA-Jahrgangs „Voltaire“ (1981) (web1a-c) 107 Discussion Eng mit dem Réseau verbunden ist die schon im 19. Jahrhundert bekannte Pantouflage. Pantouflage bezeichnet den Wechsel von Führungskräften in Funktionen beim Staat in Funktionen in Unternehmen. Dabei besteht die Möglichkeit, nach einer Phase in der Wirtschaft wieder in den Staatsdienst zurückzukehren: Die Führungskräfte lassen sozusagen ihre „Pantoffeln“ beim Staat stehen und können wieder in sie „hineinschlüpfen“. Im Rahmen der Verstaatlichungen und Privatisierungen der letzten Jahrzehnte wurden viele hohe Verwaltungsbeamte oder Politiker als PDG (Président Directeur Général) in die Chefsessel von Unternehmen gesetzt (Abb. 2). Abbildung 2: „Pantouflage“ Das Prinzip der Pantouflage, aber auch die Tätigkeit in Unternehmen verschiedener Branchen lässt sich exemplarisch anhand der Karriere der 1959 geborenen Anne Louvergeon darstellen (Tabelle 7). Sie ist PDG des in 43 Ländern agierenden Nuklearkonzerns AREVA mit 48.000 Beschäftigten. 108 Discussion Jahr Berufliche Stationen und Funktionen 1978-1983 ENS (Lehramt Physik, Montanwesen), Ecole des Mines, dann Corps des Mines 1983-1984 Tätigkeit beim Stahlkonzern Usinor im Bereich Reaktorsicherheit 1984 Leitung der European Safety Studies des CEA (Commissariat à l’Energie Atomique) 1985-1988 Inspection générale des carrières (IGC) in Île de France 1988-1990 Stellvertretende Direktorin des Conseil général des mines 1990-1995 Wirtschaftsbeauftragte und Beraterin von Staatspräsident Francois Mitterand, Organisatorin für G7-Gipfeltreffen 1995 Partner bei der französisch-amerikanischen Investment-Bank Lazard Frères & Cie in Paris 1997 Einstieg bei Alcatel (Elektronikkonzern) 1998 Mitglied des Vorstands von Alcatel. Zuständigkeiten: Internationale Aktivitäten, Energie und Nuklearindustrie (Thomson, CSF, Alstom, Framatome) 1999 PDG von COGEMA (Compagnie Générale des Matières Nucléaires) Seit 2001 Fusion von COGEMA, Framatome und FCI zur AREVA-Gruppe: Anne Lauvergeon wird PDG bei AREVA Tabelle 7: Karriereweg und Pantouflage von Anne Louvergeon (web2) 4. Fazit In diesem Beitrag wurden ausgehend von strukturellen Elementen des französischen Hochschulsystems und den gesellschaftlichen Auswirkungen der Elitebildung, drei zentrale Merkmale dieser faszinierenden und für Frankreich zentralen beruflichen Sozialisationsinstanzen thematisiert und analysiert, die noch einmal zusammengefasst werden: 1. Kognitive Dimension: Die classes préparatoires, die auf die Grandes Ecoles, vorbereiten, fördern auf kognitiver Ebene neben einer intensiven Wissensaufnahme, ebenso strukturiertes Denken und Synthese-Fähigkeit, die sich in einer ausgeprägten Problemlösungsfähigkeit ausdrückt. 2. Haltungs-Dimension: Die classes préparatoires und einige Grandes Ecoles fördern auf einer Haltungsebene ein stark wettbewerbsorientiertes und individualistisches Verhalten, das sich im späteren Arbeits- und Führungsverhalten niederschlägt. 3. Verhaltens-Dimension: Die Grandes Ecoles schaffen durch ihre Selektivität und ihre Ehemaligennetzwerke stabile, jahrzehnte anhaltende Beziehungen unter Absolventen einer jeweiligen Grandes Ecoles, die sich durch alle einflussreichen politischen und wirtschaftlichen Organisationen ziehen. 109 Discussion Diese drei Merkmale lassen sich unter „Sozialisationseffekten“ subsummieren, die zur französischen Elitenbildung beitragen. Sie formen sozusagen Wissen und Haltung der Elite seit mehreren hundert Jahren: Die Grandes Ecoles - samt den classes préparatoires - sind zentrale Orte der Sozialisation, an denen nicht nur Wissen erworben wird, sondern auch Haltungen, ein gewisses Selbstverständnis und Werte, die das Denken und Handeln französischer Führungskräfte in Politik und Wirtschaft prägen. Diese Kombination von Merkmalen trägt zur Zugehörigkeit im französischen System der Elite bei. Kurz gesagt: Da diese drei Merkmale nicht für die Universitäten gelten, wird der Königsweg des gesellschaftlichen Aufstiegs über die Grandes Ecoles gegangen. Trotz nationaler Reformbestrebungen und internationaler Standardisierungsprozesse scheint die jahrhundertealte zentrale Stellung der Grandes Ecoles im französischen Gesellschaftssystem nicht zu schwinden. Durch die Kombination traditioneller und moderner Elemente erweisen sich die Grandes Ecoles - anders als die berufliche Bildung oder die universitäre Ausbildung - als Erfolgsmodell im französischen Bildungssystem und werden wohl noch weiter dazu beitragen, den französischen „Bildungsadel“, der die Geschicke Frankreichs bestimmt, entwickelt und prägt, auszubilden. Insofern deutet nichts darauf hin, dass sich die beschriebenen zentralen Merkmale und Logiken der Grandes Ecoles, die seit zwei Jahrhunderten bestehen, in naher Zukunft verändern werden. Literatur Argenson, Pierre-Henri d’: Réformer l’ENA, réformer l’élite pour une véritable école des meilleurs, Paris, L’Harmattan, 2008. Barmeyer, Christoph/ Schlierer, Hans-Jörg/ Seidel, Fred: Wirtschaftsmodell Frankreich. Märkte. Unternehmen, Manager, Frankfurt/ New York, Campus, 2007. Barmeyer, Christoph: „‘On ne sait que ce que l’on pratique.’ Einblicke in das französische Bildungssystem unter Einbeziehung kulturspezifischer Aspekte.“ In: Französisch heute, Nr. 2, Jg. 32, 2001a, 170-186. Barmeyer, Christoph: „‘Autoroutes pour la carrière’- die Grandes Ecoles de Commerce.“ In: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, 5, 2001b, 372-382. Bauer, Michel/ Bertin-Mourot, Bénédicte: Vers un modèle européen de dirigeants? Ou trois modèles contrastés de production de l’autorité légitime au sommet des grandes entreprises? Paris, Boyden, 1996. Bourdieu, Pierre: La Noblesse d’Etat. Grandes Ecoles et esprit de corps, Paris, Les Editions de Minuit, 1989. Cytermann, Jean-Richard (ed.): Universités et grandes écoles, Paris: La Documentation Française, 2007. Dubet, François/ Duru-Bellat, Marie/ Vérétout, Antoine: Les sociétés et leur école. Emprise du diplôme et cohésion sociale. Paris, Seuil, 2010. D’Iribarne, Philippe: La logique de l’honneur. Paris, Seuil, 1989. D’Iribarne, Philippe: L’étrangete française. Paris, Seuil, 2006. Götze, K. H.: Französische Affairen. Ansichten von Frankreich. Frankfurt/ M., 1993. Guiomard, Gwénolé: Les écoles de commerce et de management, Paris, Hobsons, 2007. Hartmann, Michael: Eliten und Macht in Europa - ein internationaler Vergleich, Frankfurt/ M., Campus, 2007. 110 Discussion Joly, Hervé: Formation des élites en France et en Allemagne, Paris, Cirac, 2005. Lebègue, Thomas/ Walter, Emmanuelle: Grandes écoles - la fin d’une exception française, Paris, Calmann-Lévy, 2008. Maclean, Mairi/ Harvey, Charles/ Press, Jon: Business elites and corporate governance in France and the UK, Basingstoke, Palgrave Macmillan, 2006. Lorenzi, Jean-Hervé/ Payan, Jean-Jacques: L’Université maltraitée. Pour sauver notre enseignement supérieur. Université, grandes écoles et recherche, Paris, Pion, 2003. Peters, Stephan: Elite sein. Wie und für welche Gesellschaft sozialisiert eine studentische Korporation? Marburg, 2004. Peters, Stephan: „Bildung ohne Volk. Zur Elitenrekrutierung in Frankreich.“ In: Gessmann, Martin/ Heidenreich, Felix (eds.): Bildung in Frankreich und Deutschland: Ideale und Politiken im Vergleich, Münster, LIT, 2006, 116-130. Schlierer, Hans-Jörg: „Reproduktion statt Meritokratie. Die Konzentration der Eliten in Frankreich.“ In: Dokumente, 63 (1), 2007, 15-19. Sonntag, Albrecht: „Bewahrenswerte Spezies. Krise der Grandes Ecoles de Commerce.“ In: Dokumente, 53, (1), 1997, 45-47. Suleiman, Ezra N.: Les élites en France. Grands corps et grandes écoles, Paris, 1979. Suleiman, Ezra N.: „Les élites de l’administration et de la politique dans la France de la V. République: Homogénéité, puissance, permanence.“ in: Suleiman E. N./ Mendras H. (eds.): Le recrutement des élites en Europe, Paris, 1997, 19-47. Unterweger-Treven, Silke: Die Idee der Elite und deren Realisierung durch die Institution Hochschule: Ein internationaler Vergleich, Frankfurt/ M., Lang, 2006. Web1a (Royal): http: / / www.zeit.de/ 2006/ 11/ Segolne http: / / www.focus.de/ politik/ ausland/ segolene-royal_aid_54081.html http: / / www.desirsdavenir.org/ accueil-lassociation/ segolene-royal/ biographie-de-segoleneroyal.html Web1b (de Villepin): http: / / www.archives.premierministre.gouv.fr/ villepin/ de/ acteurs/ biographie_108/ acteurs/ gouvernement/ premier_mi nistre_m146/ index.html http: / / www.tagesschau.de/ ausland/ villepin112.html Web1c (Hollande): http: / / www.depute-francoishollande.fr/ -Equipe- Web1d (de Castriés): http: / / www.axa.com/ en/ press/ biographies/ management/ decastries/ http: / / www.nzz.ch/ nachrichten/ wirtschaft/ aktuell/ langfristig_mehr_stabilitaet_1.6715934.html http: / / people.forbes.com/ profile/ henri-de-castries/ 3221 Web2: http: / / www.world-nuclear.org/ sym/ 2005/ lauvergbio.htm http: / / www.areva.com/ EN/ group-763/ anne-lauvergeon-chair-of-the-group-s-executiveboard-and-member-of-the-executive-committee.html http: / / www.spiegel.de/ wirtschaft/ 0,1518,456937,00.html http: / / www.businesspme.com/ articles/ economie/ 90/ anne-lauvergeon-presidente-dudirectoire-areva.html 111 Discussion 1 Diese Fragestellung wird nicht nur in der französischen Öffentlichkeit und Wissenschaft wiederholt diskutiert, sondern auch von deutschen Frankreich-Forschern wie Sonntag (1997), Barmeyer (2001b), Peters (2006), Schlierer (2007). 2 Rede von Nicolas Sarkozy am 11. Januar 2010. 3 Die Zahlen in Klammern betreffen das Gründungsjahr. 4 In Anführungsstrichen: Name des jeweiligen Absolventenjahrgangs 5 Interessant ist der Blick hinter die Kulissen, insbesondere die Kommentierung der Evaluatoren des concours, etwa auf der Homepage der HEC Paris. Dort beklagen die Evaluatoren das sinkende und schlechte Niveau der Kandidaten, etwa was Französisch- oder Fremdsprachenkenntnisse betrifft. Hier verliert der concours viel von seinem Glanz. 6 https: / / www.polytechnique.org 7 1980-1981: Außenministerium (Afrikanische und madagassische Angelegenheiten); 19841984-1989: Amt des ersten Sekretärs der frz. Botschaft in Washington und Leiter des Presse- und Informationsdienstes; 1989-1992: Zweiter und Erster Berater der französischen Botschaft in New Delhi; 1992-1995: Stellvertretender Direktor und Kabinettsdirektor im Außenministerium (Afrika, M Madagaskar)