eJournals lendemains 35/140

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
35140

Das Leben als Kunst in Bild und Text. Georges Perecs La Vie mode d’emploi als Alternative zum Nouveau Roman

2010
Franz Penzenstadler
ldm351400044
44 Dossier Franz Penzenstadler Das Leben als Kunst in Bild und Text. Georges Perecs La Vie mode d’emploi als Alternative zum Nouveau Roman 1. Pour un nouveau roman - Oulipo und Nouveau Roman als konvergente Tendenzen? Daß G. Perecs 1978 erschienener Text La Vie mode d’emploi. Romans (im folgenden: VME) als paradigmatisch für ein spezifisch modernes spielerisches Erzählen gelten kann, steht außer Zweifel. 1 Und außer Zweifel steht, daß sich eine Traditionslinie ziehen läßt, die von R. Roussel ausgeht und die Vertreter des neueren Nouveau Roman ebenso einbezieht wie Theorie und Praxis der Gruppe Oulipo, zu der sich Perec seit 1966 bekannt hat. 2 Insofern das Spiel mit Sprache in beiden Fällen aus einer kritischen Reflexion über die Vorgegebenheit, Materialität und Arbitrarität der Sprache hervorgeht, konvergiert die narrative Praxis A. Robbe-Grillets oder J. Ricardous mit der literarischen Praxis von Oulipo. Die Frage ist jedoch, inwieweit auch die Konsequenzen aus dieser Reflexion konvergieren. Für J. Ricardou resultiert daraus eine Konzeption des literarischen Textes als radikaler antireprésentation und auto-représentation. 3 Die meisten Vertreter von Oulipo hingegen stellen die Repräsentationsleistung sprachlicher Zeichen nicht grundsätzlich in Frage und ziehen aus ihrer Beschäftigung mit dem Sprachsystem eine ganz andere Folgerung, nämlich das Bewußtsein der Unhintergehbarkeit von Regeln und Konventionen und der Tatsache, daß diese Regeln nicht natürlich, sondern arbiträr sind und somit sowohl die vorgegebenen modifiziert als auch neue frei erfunden werden können. Ich denke daher, daß es an der Zeit und aus der historischen Distanz zu Perecs Text wie zum Nouveau Roman der 1960er und 70er Jahre auch möglich ist, weniger deren Affinitäten, die in der Forschung zu Perec nach wie vor im Vordergrund zu stehen scheinen, als deren Divergenz näher zu beleuchten. Ein markanter Unterschied zwischen profilierten Vertretern des Nouveau Roman, wie Robbe-Grillet oder Ricardou, und der Gruppe Oulipo zeigt sich bereits in der jeweiligen Einstellung zur Geschichte der Literatur. Der Nouveau Roman versteht sich als Avantgarde einer teleologischen Evolution, welche die „notions périmées“ einer realistischen Ästhetik - konsistente Charaktere, eine kohärente Geschichte und gesellschaftliches Engagement - hinter sich läßt und ausgehend von Flaubert über Proust, Faulkner u.a. zu einem Roman führt, der weniger in einer „écriture d’une aventure“ bestehe als in einer „aventure de l’écriture“. 4 Wenn hingegen G. Perec eine „Histoire du lipogramme“ skizziert, dann geht es ihm nicht um 45 Dossier einen Evolutionsprozeß, sondern um das gelegentliche historische Erscheinen eines an sich zeitlosen literarischen Spiels. 5 Denn generell besteht das Interesse von Oulipo an der Literaturgeschichte in einem Eruieren universaler Prinzipien des Funktionierens von Literatur. 6 Die fundamentale Erkenntnis, die aus dieser Beschäftigung mit Literatur resultiert, ist das eigentlich innovative Moment von Oulipo in der Geschichte der literarischen Avantgarden seit der Romantik: dem ständigen Ruf nach einer Befreiung von angeblich überholten Konventionen setzt Oulipo nämlich die Notwendigkeit von Regeln in Form einschränkender contraintes entgegen, die die Textgenerierung determinieren. 7 Diese textgenerierende Funktion der contraintes gleicht auf den ersten Blick den générateurs, die der Poetik des Nouveau Roman nach die production des Textes bestimmen. 8 Beide implizieren ein kritisches Hinterfragen des Geniekonzepts der traditionellen Ausdrucks- oder Mimesisästhetik, die ihre Konventionen naiv ignoriert, sie jedoch unreflektiert befolgt Bei den contraintes handelt es sich jedoch im Unterschied zu den Generatoren nicht um einen Mechanismus, mittels dessen sich der Text idealiter auch ohne Beteiligung des Autors generieren könnte - obwohl in Wahrheit der Autor durchaus Basis und Operationen der Textgenerierung selbst bestimmt -, sondern um Voraussetzungen der Textgenerierung. 9 Sie minimieren weder idealiter noch in der Praxis die Rolle des Autors als Textproduzenten, im Gegenteil: im Idealfall produziert dieser nicht nur trotz der Beschränkungen durch die Regel einen sinnträchtigen ernsten oder amüsanten Text, sondern fungiert zugleich als Erfinder der contrainte bzw. eines oder mehrerer Regelsysteme, die dem Text zugrundeliegen. Daß Perecs VME mit Konventionen des traditionellen Romans bricht, wird dem Leser jedoch, längst bevor er dessen oulipistische Regelsysteme durchschaut hat, von den ersten Seiten an bewußt. Dies soll in den folgenden beiden Abschnitten unter verschiedenen Gesichtspunkten etwas eingehender illustriert werden. Dabei sind Analogien zum Nouveau Roman unübersehbar, deutlich wird dabei allerdings auch, daß radikale literarische Autorepräsentation nicht die notwendige Alternative zur Repräsentation von Wirklichkeit i.S. referentieller Illusion ist. 10 2. Die Problematisierung von Mimesis und die mimetische Dimension in La Vie mode d’emploi 2.1. Die Ironisierung des Romans Auch wenn Perecs Roman - wie noch zu zeigen sein wird - kein anti-mimetischer Text ist, so steht er zumindest insoweit nicht naiv in der Tradition realistischen Erzählens, als er die Konventionen klassischer Genres dieses Erzählens implizit reflektiert und ironisiert. In VME wird nämlich von mehreren Romanen oder Romanprojekten berichtet, deren Geschichte knapp zusammengefaßt wird und von denen hier vorerst zwei herausgegriffen werden sollen. Als mises en abyme des Romans selbst können sie nur in ihrer allgemeinen Eigenschaft als Romane im Roman verstanden werden, während die Struktur von VME weder hinsichtlich der histoire- 46 Dossier noch der discours-Ebene darin gespiegelt wird. VME stellt die Räume und Wohnungen eines Pariser Mietshauses in einem bestimmten Augenblick (23.Juni 1975, gegen 8 Uhr abends) dar, mit deren Beschreibungen Geschichten um deren aktuelle und frühere Bewohner verknüpft sind. Diese räumliche Strukturierung des Darstellungsgegenstandes bestimmt auch die diskursive Anordnung des Textes: jedes Kapitel enthält die Beschreibung je eines Raumes, während die Geschichten der meisten Figuren diskontinuierlich erzählt werden - häufig über mehrere, nicht zusammenhängende Kapitel verteilt. Die globale Struktur von VME präsentiert also unmittelbar weder eine chronologische noch eine kausale Kohärenz. Der ca. 400seitige Roman, der in Kap. LXXXIX auf Mme Moreaus Nachttisch liegt und den ihre Freundin Mme Trévins unter dem Pseudonym Célestine Durand- Taillefer verfaßt hat, mit dem Titel „La Vie des Sœurs Trévins“, erinnert demgegenüber allenfalls an den Titel und den Umfang von VME. 11 Erzählt sind darin die Lebensgeschichten der fünf Nichten Mme Trévins’, angefangen von deren Geburt als Fünflinge über spektakuläre Erfolge und Mißerfolge bis zu ihrer endgültigen gesellschaftlichen Etablierung. Der Leser von VME erfährt allerdings am Ende der knappen Zusammenfassung des Inhalts auch, daß alles in diesem klassischen Familienroman - Autorname, Erscheinungsort, Existenz und Biographie der Figuren - natürlich frei erfunden ist, daß in die Fiktion allerdings Autobiographisches und Geschichten von Bewohnern des Hauses eingegangen sind. Dieser Roman besitzt also alles, was von einem realistischen Roman zu erwarten ist: außergewöhnliche und daher erzählenswerte Ereignisse, 12 eine klare chronologische und kausale Struktur, einen über die fiktionale Verarbeitung vermittelten, aber durch die Fiktivierung eben auch verschlüsselten Bezug zur Realität und die Eigenschaft der Fiktionalität, die der Text nicht selbst signalisiert, der Leser jedoch mit wachsender Skepsis ob der Unwahrscheinlichkeit des Gelesenen zunehmend ahnt. 13 Daß damit eine überholte Romankonzeption ironisiert wird, liegt auf der Hand. Aber worin liegt das kritische Potenzial dieser Ironisierung? Nicht so sehr die relative Unwahrscheinlichkeit der erzählten Lebensgeschichten macht diesen Roman als Abbildung von Wirklichkeit suspekt, sondern vielmehr die unreflektierte Konventionalität seiner histoire-Konstitution, die durch die Parallelisierung der erzählten Lebensläufe zutage tritt: nur oberflächlich betrachtet erscheinen diese nämlich als einmalige Geschichten, in Wahrheit beruhen alle fünf auf dem gleichen einfachen histoire-Schema ‘ erfolgversprechender Beginn einer Karriere - Abbruch durch eine unverschuldete Katastrophe - neuer Erfolg und märchenhafter Aufstieg’. 14 Der realistische Roman erzählt demnach immer dieselbe Geschichte, nur die Variation im Detail garantiert die Illusion authentischer Wirklichkeitsabbildung. Auch der „roman-feuilleton“, ein klassischer Detektivroman, den Gilbert Berger zusammen mit seinen Schulkameraden verfaßt (Kap. XXXIV) und dessen sukzessive Entstehung der Erzähler nachzeichnet, ist keine Spiegelung von Perecs Roman, auch wenn er durchaus ‘ moderne’ Züge trägt. Die Rolle des Autors als eines genialen Schöpfers erscheint reduziert, insofern der Roman das Produkt eines Kollektivs ist. Noch deutlicher ist auf moderne Literaturkonzeptionen zum einen da- 47 Dossier durch angespielt, daß der Text unter massivem Rekurs auf ein präexistentes literarisches Universum zustandekommt: mehr oder weniger bekannte Kriminalromane, ein Film, Zeitungsberichte über Finanzskandale in der Filmindustrie, aber auch „un article sur le curare dans Science et Vie, un autre sur les épidémies d’hépatite dans France-Soir, […] une lecture hâtive du Cid […].“ (S. 209) Zum anderen ist die Vermitteltheit der Geschichte in einer mehrfach verschachtelten Thematisierung künstlerischer Vermittlungsmodi gespiegelt: ein Maler verfertigt das Porträt eines Schauspielers in einer Szene, die eine Episode aus einem Roman darstellt. 15 Andererseits präsentiert der Roman aber eine Folge von haarsträubenden Zufällen und eine ebenso haarsträubende Häufung von coups de théâtre in der letzten Episode, die zur Entdeckung des Täters führen. Damit gerät die Geschichte aber in eine Aporie, weil es den Autoren nicht gelingen will, die Unschuld aller zuvor Verdächtigten zu erweisen. Das - wenn auch vorläufige - Ende ist also geschlossen und offen zugleich. Als Wirklichkeitsabbildung kann dieser Roman freilich kaum überzeugen, doch auch als ‘aventure d’écriture’ der drei untereinander uneinigen jungen Autoren, erscheint er eher als ein Projekt, das in seiner Unschlüssigkeit zwischen ‘illusion référentielle’ und ‘illusion littéraire’ zum Scheitern verurteilt ist. 2.2. Reflektierte Konventionalität von Mimesis Perecs Konsequenz aus solch kritischer Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten von Mimesis ist nun nicht der Weg in die auto-représentation, den der Nouveau Roman gesucht hat, denn VME bleibt ein im klassischen Sinne höchst lesbarer Text. 16 Perec scheint die Möglichkeit von Wirklichkeitsdarstellung nicht zu negieren, vielmehr scheint ihm zu genügen, deren generelle Problematik zu reflektieren. Daher die im Text in immer neuen Varianten erzählten Versuche, Wirklichkeit zu erfassen und abzubilden. Eine im Text zentrale Metapher für diesen Versuch ist das Puzzle, das zwar ein gegenständliches Sujet abbildet, aber dieses erst nach einem längeren Reflexions- und Erkenntnisprozeß zu erfassen erlaubt. Dieser Prozeß besteht in einem klassischen hermeneutischen Verfahren, das sich ständig zwischen Hypothesen über den möglichen ‘Sinn’ des Puzzleteils und Hypothesen über den ‘Sinn’ des Ganzen hin und her bewegt, weil sich das Ganze nicht als Summe der isolierten Teile verstehen läßt, sondern sich erst aus diesen zusammensetzt. Dies ist bereits im Préambule des Romans, der ausführlich über „l’art du puzzle“ unter Hinweis auf die Gestalttheorie handelt, reflektiert. Die Faszination, die einer der Protagonisten - nämlich Percival Bartlebooth, von dem noch ausführlich die Rede sein wird - für Puzzles hegt, teilt dieser mit einer Faszination für alte Landkarten. Diese ist Thema in Kap. LXXX. Es ist dort die Rede von drei Karten im Besitz Bartlebooths: eine alte Karte Amerikas, die entgegen heutiger Konvention den Norden oben und den Süden unten abbildet, eine Karte von Japan, auf der erstmals die Provinzen mittels japanischer Ideogramme und lateinischen Lettern beschriftet sind, und schließlich eine aus Bambusrohren und Muscheln bestehende ‘Karte’ aus dem Pazifik, die anstelle einer korrekten Abbildung von Entfernungen, Himmelsrichtungen und Konturen der Küsten nur Meeresströmungen, do- 48 Dossier minante Winde und Inseln oder Klippen verzeichnet, aber für die Seefahrt sich als mindestens so praktikabel erweist wie konventionelle Seekarten. Der Titel der Karte Amerikas ist zudem strittig und je nach Lesart gibt sie Aufschluß über die Frage, wer letztlich den Kontinent als erster entdeckt hat. Damit ist generell über Wirklichkeitsabbildungen dreierlei gesagt. Erstens, alle Wirklichkeitsabbildung beruht notwendig auf Darstellungskonventionen, die bekannt sein müssen, um nicht desorientierend zu wirken - die Drehung einer Karte Europas um 90 Grad nach rechts, läßt Westeuropa als Dänemark, d.h. das Bekannte als fremd erscheinen 17 - und die Abbildungskonventionen sind nicht in einem absoluten Sinn adäquat oder inadäquat, sondern nur im Hinblick auf einen spezifischen Zweck (pazifische Karte). Zweitens, Wirklichkeitsabbildungen erhalten ihren Sinn erst durch die Sprache (‘Beschriftung’). Und drittens, Wirklichkeitsabbildungen, insbesondere anderer Epochen, können zu einem Rätsel werden und implizieren u.U. ganz unterschiedliche Geschichten. Für Perecs implizite Ästhetik bedeutet dies: mimetische Literatur verliert dann nicht ihre Berechtigung, wenn sie ihren mimetischen Charakter und ihre Verfahren und Konventionen mitreflektiert bzw. bewußt macht. 2.3. Die dominante Rolle der Deskription Unter makrostrukturellem Gesichtspunkt betrachtet entfernt sich VME vom realistischen Roman Balzacs oder Zolas allein schon dadurch, daß der Text nicht die Geschichte eines Pariser Mietshauses oder seiner Bewohner erzählt, sondern nacheinander dessen Räume beschreibt. 18 Dies bedingt zunächst eine signifikante Dominanz der Deskription in quantitativer Hinsicht 19 bei gleichzeitigem Verlust ihrer traditionellen Funktionen, nämlich einer indexikalischen Relation zwischen räumlichem Milieu und Figuren oder einer konnotativ-symbolischen Sinnvermittlung. 20 Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch eine auffällige Tendenz zu Exhaustivität und detaillierender Exaktheit der Deskriptionen. 21 Die besagte Makrostruktur bedingt darüberhinaus eine strukturell-hierarchische Dominanz der Deskription, insofern alles Erzählen (von Geschichten über die Bewohner, von Geschichten der oben erwähnten Romane u.a.) jeweils der Deskription untergeordnet ist, d.h. daß die Narration ihren motivierenden Impuls erst durch entsprechende Deskriptionselemente erhält. Die notwendig zeitliche Dimension einer histoire und damit klassisches Erzählen wird so nicht völlig aufgehoben, aber auf eine hierarchisch nachgeordnete Ebene verschoben, im Vordergrund steht die ‘histoire’ statischer Sachverhalte. Die Momenthaftigkeit des Zeitpunkts ist dabei von den ersten Seiten an evident, auch wenn die exakte Zeitangabe - ganz im Gegensatz zu den Gepflogenheiten des realistischen Romans - erst im letzten Kapitel gegeben ist, wo im übrigen in sechs Abschnitten einige markante Situationsbeschreibungen aus den sechs Teilen des Romans rekapitulierend wieder aufgenommen werden. VME präsentiert sich somit als deskriptiver Text, der auch auf mikrostruktureller Ebene sich nicht an narrativen Textsorten orientiert, sondern an einer Art ‘Führer’, der den virtuellen Besucher des Hauses beschreibend, erklärend und Anekdoten erzählend begleitet. So beginnt das erste Kapitel mit der Beschreibung des Trep- 49 Dossier penhauses und motiviert dies entsprechend: „Oui, cela pourrait commencer ainsi, ici, comme ça, d’une manière un peu lourde et lente, dans cet endroit neutre qui est à tous et à personne […].“ (S. 19) 22 Damit entfernt sich Perecs Text einerseits weiter vom klassischen Roman als der Nouveau Roman, der sich in der Regel immer noch als narrativer Text präsentiert, auch wenn sich aus der Narration keine logisch konsistente Geschichte mehr rekonstruieren läßt, andererseits bleibt er aber auch näher an der Lesbarkeit klassisch mimetischer ‘illusion référentielle’. Aber wie kann der Illusionscharakter des Beschriebenen permanent bewußt gehalten werden? Schon an der Formulierung des oben zitierten Textbeginns erscheint der hypothetisch-konditionale Modus als etwas irritierend. An der zitierten Stelle ließe sich dieser Modus u.U. auf die im Titel genannte Textsorte („mode d’emploi“) beziehen. An späterer Stelle - zunächst etwas rätselhaft in der Formulierung „Sur le tableau la chambre est comme aujourd’hui“ (S. 46), dann in Kap. XXVIII und LI aber klar expliziert - findet sich jedoch eine plausiblere Erklärung: der Erzähler beschreibt nämlich, genau genommen, nicht das Mietshaus, sondern ein Gemälde, das der Maler Serge Valène plant und in dem sich das Gebäude mit offener Fassade und den einzelnen Räumen und Bewohnern dem Betrachter darbieten soll. 23 Die Deskriptionen vermitteln letztlich also nicht unmittelbar Wirklichkeit, sondern sind gebrochen durch das Bewußtsein eines Künstlersubjekts, das diese Wirklichkeit nur imaginiert. Gleichwohl aber bleibt diese erfundene Wirklichkeit aufgrund von Valènes relativ umfassendem Wissen über die reale Wirklichkeit des Hauses und seiner Bewohner - er ist nämlich auch der älteste Bewohner dieses Hauses - nicht ohne Bezug zu dieser. Zu beachten ist allerdings, daß die heterodiegetische Erzählinstanz des Textes nicht mit der Figur Valènes zu identifizieren ist, was sich des öfteren auch darin manifestiert, daß sein Wissen Sachverhalte umfaßt, die auch eine Figur, welche alle anderen Bewohner gut zu kennen scheint, nicht plausiblerweise in Erfahrung hätte bringen können. 24 Der deskriptiv-narrative Vermittlungsmodus der Erzählinstanz ist also gebrochen durch einen visuellen Vermittlungsmodus, der allerdings virtuell bleibt. Dies ist die eine Ebene der Spiegelung. Eine komplementäre Spiegelung erfährt jedoch auch die Ebene der vermittelten Sachverhalte. Es existiert nämlich kaum ein beschriebener Raum, der nicht Bilder (Gemälde, Plakate, Photographien usw.) enthielte. Die Statik der beschriebenen Räume und deren Deskriptionen erscheinen also potenziert in der Statik der Bilder und in der deskriptiven ‘Abbildung’ von Abbildungen. Doch auch die Tatsache, daß es sich bei den Deskriptionen eben nicht um ‘Abbildungen’, sondern um sprachlich-zeichenhafte Repräsentationen handelt, wird thematisch: der Text markiert nämlich nicht nur seine Schriftlichkeit, indem er wörtlich zitierte Texte durch unterschiedliche Schriftarten typographisch vom eigentlichen Text abhebt, sondern enthält auch eine Fülle von ikonisch-visuellen Abbildungen: Etiketten, Schilder, Aufschriften, Visitenkarten, die Titelblätter einer Partitur und einer Karte Frankreichs, das Inhaltsverzeichnis einer Zeitschrift, eine arabische Inschrift, einen Stammbaum, ein Kreuzworträtsel, eine Schachkonstellation 50 Dossier usw., kurz: aus der Alltagswelt vertraute graphische Darstellungen oder Schriftobjekte, die im schriftlichen Text abbildbar sind, werden als solche wiedergegeben, sodaß umgekehrt im Hinblick auf die sprachlichen Deskriptionen visueller Sachverhalte gerade deren Nicht-Visualität, d.h. deren Textualität, bewußt gemacht, ihr effet de réel also konterkariert wird. 2.4. Räumlichkeit als Konstitutionsprinzip des Textes Die quantitative und strukturelle Dominanz der Deskription in VME ist im Grunde nur ein Symptom der Wirklichkeitskonzeption, die dem Text zugrunde liegt. 25 VME beschreibt 99 der 100 Räume des Gebäudes und diese räumliche Struktur bestimmt auch die Narration: auch wenn die Bewohner des Hauses in vielfachen interaktiven Beziehungen zueinander stehen, so entwirft Perec damit bei aller vordergründigen Ähnlichkeit weder einen sozialen Kosmos wie Balzacs Comédie Humaine - von deren funktionaler Dimension als Gesellschaftspanorama einmal ganz abgesehen - noch eine komplexe histoire sich kreuzender Handlungsstränge. Die räumliche Motivation alles Erzählten bleibt bestimmend: entscheidend für die Figurenkonstellation sind nicht kausal-logische Relationen, sondern die räumliche Kontiguität der Nachbarschaft, wie sich insbesondere an der ausschließlich ‘räumlichen’ Relation zwischen aktuellen Wohnungsbesitzern und Vorbesitzern, zwischen aktuellen Mietern und Vormietern zeigt. Der Untertitel des Textes - „romans“ im Plural - findet gerade darin seine Berechtigung, daß sich die Geschichten eben nicht zu einer wie auch immer komplexen histoire zusammenfügen. Und ebenso verweist die Chronologie der erzählten Ereignisse im Anhang des Textes („Repères chronologiques“) darauf, daß der Text selbst diese eben nicht nach dem Prinzip chronologischer Kontinuität organisiert. 26 Die ‘räumliche’ Konzeption von Wirklichkeit in einem abstrakteren Sinne simultaner Verfügbarkeit manifestiert sich auch darin, daß im Rahmen der Deskriptionen und Erzählungen in Form von bewußt unmotivierten und pseudo-gelehrten historischen, geographischen und wissenschaftlichen Hinweisen ein geradezu enzyklopädisches Wissen über die Welt ausgebreitet wird, das die heterogene Vielfalt der Objekte, der Figuren, der Geschichten usw. ergänzt. Der Text bietet daneben aber auch ein Panorama aller nur denkbaren literarischen und nicht-literarischen Textsorten (Kriminalromane, Abenteuergeschichten, Bestiarium, Abhandlung, Brief, Zeitungsausschnitt, Verkaufskatalog, Lexikoneinträge, Kochrezepte usw.) und Darstellungsverfahren (homodiegetische Narration 27 , externe Fokalisation, fokalisierte Bewußtseinsdarstellung usw.). 28 Auch dies rechtfertigt den Untertitel „romans“. Dem Prinzip der Spatialität komplementär ist das Prinzip der Fragmentierung. Die Wirklichkeit ist nicht einfach als Ganzes abzubilden, sondern zunächst in Bruchstücken, die erst wieder zusammengesetzt werden müssen. Die im Text erzählten Geschichten von Figuren und Familien werden über mehrere Kapitel verteilt, und daß der Personen-Index im Anhang auch eine traditionelle Lektüre dieser Geschichten ermöglicht, unterstreicht gerade deren Fragmentierung im Text. 51 Dossier Wie dieses Prinzip - neben anderen Prinzipien der Wirklichkeitsabbildung - bereits in Kap. II thematisch wird, sei im folgenden in aller Kürze illustriert. Gleich die erste Wohnung, deren erster Raum im Text beschrieben wird, enthält drei Bilder, die indirekt bereits die wesentlichen Prinzipien der textspezifischen Mimesis thematisieren. Ein Werbeplakat zeigt „quatre moines à la mine gourmande attablés autour d’un camembert sur l’étiquette duquel quatre moines à la mine gourmande - les mêmes - sont de nouveau attablés. La scène se répète distinctement, jusqu’à la quatrième fois.“ (S. 24) Auf diese mise en abyme der Deskription, die in ihrer vierfachen Spiegelung das strukturelle Prinzip der mise en abyme selbst zum Thema macht, braucht nicht mehr näher eingegangen zu werden; anzumerken ist lediglich, daß darin auch die Frustration einer auf unmittelbares Konsumieren von Geschichten ausgerichteten Lektüre ironisiert sein dürfte. Ein weiteres Objekt ist folgendermaßen beschrieben: un plateau décoré supporte une verseuse à café, une tasse et sa soucoupe, et un sucrier en métal anglais. La scène peinte sur le plateau est partiellement masquée par ces trois objets; on en distingue cependant deux détails: à droite, un petit garçon en pantalon brodé est penché au bord d’une rivière; au centre, une carpe sortie de l’eau gigote au bout d’une ligne; le pêcheur et les autres personnages restent invisibles. (S. 23-24) Damit ist offenbar das Prinzip der Fragmentierung illustriert, wobei auffällig ist, daß es trotz der Fragmentarität möglich ist, den Sinn der dargestellten Szene in ihrem wesentlichen kausal-logischen Kern, wenn auch ohne deren weiteren Situationskontext, zu rekonstruieren. Fragmentierte Wirklichkeitsabbildung führt also nicht notwendig zu Sinnverlust, doch ihr Fragmentcharakter bleibt durch das Ausgeblendete (weitere beteiligte Figuren und Situationskontext) stets bewußt. Die zentrale metatextuelle Metapher für diese Art Fragmentierung, die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text zieht, ist das Puzzle. 29 Auch dieses ist bereits im zweiten Kapitel präsent: „un puzzle de bois dont pratiquement toute la bordure a été reconstituée. Dans le tiers inférieur droit du puzzle, quelques pièces supplémentaires ont été réunies: elle représentent le visage ovale d’une jeune fille endormie […].“ (S. 23) Daß nicht die gesamte Wohnung, sondern vorerst nur einer ihrer Räume beschrieben wird, wird damit ebenso thematisch wie das Prinzip als solches. Das Kapitel erzählt desweiteren die Geschichte des Gatten der Bewohnerin, des Archäologen Fernand de Beaumont, die nun in narrativer Version die Problematik von Fragment und Rekonstruktion behandelt. Beaumont sucht in Spanien - letztlich vergeblich - nach Räumen, die nur durch textuelle Überlieferungen bekannt sind, deren Glaubwürdigkeit ihrerseits fraglich ist, nämlich nach der legendären Stadt der Araber Lebtit und deren königlichen Palast gewaltigen Ausmaßes. Der Erzähler erklärt in diesem Zusammenhang nun ausführlich Beaumonts Überlegungen und Hypothese und erzählt vom Beginn der Ausgrabungen. Aber das Unternehmen scheint zu scheitern, weil auf die textuellen Beschreibungen kein Verlaß ist. Dieser implizite ironische Verweis auf den Unterschied zwischen Wirklichkeit 52 Dossier und beschriebener Wirklichkeit erhält noch eine weitere ironische Wendung - nicht für Beaumont auf der Ebene der histoire, aber für den Leser des Textes -, insofern der zitierte Überlieferungstext von Borges stammt, aber wiederum verfälschend zitiert wird. 30 Die Geschichte Beaumonts ist damit aber noch nicht zu Ende. Erzählt wird noch sein Treffen mit Bartlebooth in der Nähe der Ausgrabungsstätten und am Ende steht die lakonische Information: „Puis, le 12 décembre 1935, il se suicida.“ (S. 27) 31 Nicht nur die Beschreibungen sind also fragmentarisch, auch die erzählten Lebensgeschichten bleiben - wie letztlich alles Erzählte und Beschriebene - fragmentarisch und wie vieles im Text rätselhaft, weil Ursachen oder Folgen von Ereignissen (Gibt es einen Zusammenhang zwischen Bartlebooths Besuch und Beaumonts Selbstmord? ) nicht immer eruierbar sind. Der Unterschied zwischen der verstörenden Rätselhaftigkeit des anti-mimetischen Nouveau Roman und der Rätselhaftigkeit fragmentarischer Wirklichkeitsabbildung im mimetischen Text ist demnach nur gradueller, nicht grundsätzlicher Art. Auch dies ist möglicherweise im zweiten Kapitel schon angesprochen. Neben bildlichen Darstellungen findet sich in der beschriebenen Wohnung auch ein aufgeschlagener Aktenordner mit einem Blatt, das eng mit mathematischen Formeln und Gleichungen beschrieben ist, die im Text wiedergegeben sind. Der mathematische Laie versteht dabei nur, daß es um einen „morphisme homogène“ geht, also wohl auch um eine - wenn auch höchst abstrakte - Abbildung von etwas, das aber rätselhaft dunkel bleibt. 32 Ob dieser zwischen die Bildbeschreibungen eingeschobene Absatz, wie ich vermute, als Hinweis auf die Aufhebung mimetischer Lesbarkeit von Texten und damit als konkurrierende Alternative zur sich selbst problematisierenden Mimesis in VME zu verstehen ist oder als Teil dieser Problematisierung, die auf diese Weise deskriptiv-narrative Mimesis mittels natürlicher Sprache als nur eine Möglichkeit von Wirklichkeitsabbildung ausweist, mag dahingestellt bleiben. Fragmentarität und Rätselhaftigkeit sind jedenfalls eine essentielle Eigenschaft von adäquater Mimesis, weil sie in der notwendig mehr oder weniger fragmentarischen Erfahrung von Wirklichkeit und deren mehr oder weniger rätselhaften Escheinung ihre Entsprechung hat. Fragmentierung ist jedoch nur die eine Operation, für die das Puzzle steht, ihr komplementär ist die Rekomposition der fragmentierten Wirklichkeit. Vielleicht nicht ganz zufällig wird dieses Moment exakt in der Mitte von VME zum Thema, während am Textbeginn die Fragmentierung im Vordergrund steht. Auch die Deskription in Kap. L markiert eine Art ‘Umkehrung’: nicht ein eingerichtetes Zimmer ist beschrieben, sondern ein Zimmer, dessen Einrichtung offenbar erst begonnen ist. Es ist frisch gestrichen, aber noch „entière vide de meubles“ (S. 283), ein großformatiges Bild, das noch nicht aufgehängt ist, spiegelt sich im blanken Fußboden. Dieses im folgenden ausführlich beschriebene Bild erscheint aus mehreren Gründen als mise en abyme des Textes: das große Format entspricht den 695 Seiten des Textes, der Maler des Bildes ist eigentlich „décorateur“ und gleicht darin dem Autor von VME, der im metaphorischen Sinn ebenfalls ‘Raumausstatter’ ist; er ist zudem der Großvater der künftigen Bewohner und somit wie der Autor für die ‘Zeu- 53 Dossier gung’ der Figur verantwortlich - nicht unmittelbar, aber durchaus dem Autor ähnlich, der ja auch zunächst über die Deskription Räume kreiert, aus denen erst sekundär die Figuren und deren Geschichten hervorgehen. Das Bild enthält außerdem wie der Text mehrere Spiegelungen: ein Bild im Bild und v.a. auch einen Spiegel, der wie in Velazquez’ Las Meninas die Betrachterperspektive reflektiert, allerdings signifikanterweise und im Unterschied zu Velazquez ohne den Maler, d.h. die Vermittlungsinstanz wird wie der anonyme Erzähler des Textes als Person nicht greifbar. Bemerkenswert ist jedoch weiterhin, daß das Sujet dieses Bildes nicht der Realität entnommen ist, sondern einem Kriminalroman, dessen Inhalt wiederum auf mehreren Seiten wiedergegeben ist. Wie schon der Titel „L’Assassinat des poissons rouges“ und das äußerst unwahrscheinliche Verbrechen und dessen Lösung vermuten lassen, ist auch hier ein traditionelles Genre realistischen Erzählens parodiert: A. Christies Murder on the Orient-Express scheint nämlich in absurder Weise überboten, insofern hier jede der in Frage kommenden Personen - außer der Inspektor und der als Zeuge fungierende Erzähler - ein Motiv für den Mord hat. Die Täter haben das Opfer jedoch nicht gemeinsam ermordet, sondern jeder für sich unabhängig voneinander mit jeweils verschiedenen Mitteln. Der Erzähler des Kriminalromans ist übrigens ein erzählender Maler, der Schöpfer des Bildes hingegen ‘erzählt’ die Geschichte mit seinen eigenen Mitteln, und zwar nicht indem er eine einzelne Situation herausgreift, sondern er konstruiert eine an sich unwahrscheinliche Situationskonfiguration, nämlich „un tableau qui rassemblerait en une scène unique presque tous les éléments de l’énigme“ (S. 285), insofern darin alle Beteiligten gleichzeitig abgebildet sind. Diese Transposition des Erzählten in ein Bild scheint mir nun nicht ironisiert, sondern als eine Abbildung der spezifischen Mimesiskonzeption, die dem Text selbst zugrunde liegt, nämlich die Transposition der Dynamik von Geschehen und Zeit in die momenthafte Statik eines Raums. Und diese Mimesis versteht sich nicht als eine realistische Abbildung eines beliebigen Wirklichkeitsausschnitts oder -fragments, sondern als eine Konstruktion, die das Disparate kondensierend zusammenfügt. Ergänzt ist diese Thematisierung der Konstruktionsprinzipien des Textes im folgenden, ebenfalls im wörtlichen Sinne zentralen Kapitel LI. Hier ist nämlich nun ausführlich von dem Bild die Rede, das Valène in seiner Vorstellung entwirft und das die bildliche Version des Gesamttextes darstellt. Wiedergegeben ist diese Imagination in Form eines inneren Monologs. Räume, Objekte und Bewohner erscheinen dabei gemäß dem Prinzip der Spatialität in langen Aufzählungen. Gegenstand ist also das Mietshaus mit all seinen Räumen, all seinen Objekten und all seinen Bewohnern - und in diesem Fall einschließlich des Malers Valène selbst: Il serait lui-même dans son tableau. […] Il serait debout à côté de son tableau presque achevé, et il serait précisément en train de se peindre lui-même, esquissant du bout de son pinceau la silhouette minuscule d’un peintre en longue blouse grise avec une charpe violette, sa palette à la main, en train de peindre la figurine infime d’un peintre en train de peindre, encore une fois une de ces images en abyme qu’il aurait voulu 54 Dossier continuer à l’infini comme si le pouvoir de ses yeux et de sa main ne connaissait plus de limites. (S. 291) Man hat dies in der Forschung meist einfach als autoreferentielle mise en abyme des Künstlers und seiner Tätigkeit verstanden, die den mimetischen Anspruch des Textes aufzuheben scheint, dabei jedoch zum einen übersehen, daß Valène im Text eben nicht mit der Erzählinstanz identisch ist und mithin an dieser Stelle nur die Fokalisierungsinstanz widerspiegelt, zum anderen daß Valènes Bild nicht nur den Künstler abbildet, sondern auch dessen mimetischen Gegenstand, und schließlich, daß hier vielmehr ein spezifisches Problem gerade mimetischer Kunst zum Thema gemacht wird, nämlich die Unbegrenztheit der Wirklichkeit und die natürlichen - mentalen sowie technisch-praktischen - Grenzen künstlerischer Abbildung. Das Haus und der Text können notwendigerweise nur eine begrenzte Anzahl von Räumen und Figuren enthalten. Und aufgezählt ist dann „la longue cohorte de ses personnages, avec leur histoire, leur passé, leurs légendes“ (S. 292). Allerdings nicht in üblicher Form, sondern in einem bemerkenswert räumlichen Textgebilde. Es handelt sich um drei ‘Quadrate’ zu je 60 Zeilen, deren Länge wiederum auf exakt 60 Spatien festgelegt ist. In jedem ‘Quadrat’ wandert der letzte Buchstabe der ersten Zeile im Textverlauf jeweils um eine Spatie nach links, bis er den Zeilenanfang erreicht hat. Die drei Buchstaben ergeben ‘a-m-e’, also âme, die ‘Seele’ des Textes - die im übrigen nicht der Künstler ist, sondern wie im Titel des Textes das Leben des Hauses, das er abbildet. Soweit das System im Prinzip, die Realisierung weist aber Ausnahmen auf: zum einen besteht das letzte Quadrat aus nur 59 Zeilen, zum anderen gibt es exakt eine Zeile, die 61 Spatien umfaßt, und exakt eine mit nur 59 Spatien. 33 Und dies ist die erste Stelle in VME, an der eine oulipistische contrainte offenkundig wird. 3. Die Generierungssysteme des Textes In meinen bisherigen Ausführungen dürften zwar die Unterschiede zwischen VME und dem Nouveau Roman in der Art Robbe-Grillets oder Ricardous deutlich geworden sein. Die Frage indes, inwieweit VME ein typisch oulipistischer Text ist, steht noch offen, denn das eben erwähnte oulipistische Regelsystem in Kap. LI macht VME insgesamt noch nicht zum Produkt eines oulipistischen Sprachspiels, aber es sensibilisiert für eine entsprechende Lektüre. Darüberhinaus dürfte die auffällige Wiederkehr ungewöhnlicher geometrischer Formen (Hexagon, Oktogon, Pyramide, Polyeder usw.), Körperhaltungen („à plat ventre“, „un bras à l’air“, „agenouillé“) oder die variierende Wiederholung von Namen bzw. Anspielungen auf diese Namen (Stan Laurel als Partner von Oliver Hardy, als „laurier“, als Laurelle de Dinteville; Baucis als Héléna Bossis, „beau 6“, „c’est si beau“ oder „la dame au tilleul“) den Leser, der mit générateurs des Nou- 55 Dossier veau Roman vertraut ist, von Beginn an ahnen lassen, daß es in VME ein ähnliches Generierungsverfahren geben muß. Perec hat dann kurz nach dem Erscheinen von VME in der Zeitschrift L’Arc die wichtigsten Generierungssysteme erläutert und seit der Faksimile-Veröffentlichung seines sog. Cahier de charges de La Vie mode d’emploi im Jahre 1993 ist deren Funktionieren bei der Textgenerierung relativ gut nachzuvollziehen. 34 Diese Systeme sind in der Perec-Forschung ausführlich beschrieben worden, ich gehe daher hier nur auf zwei näher ein und beschränke mich dabei auf das Nötigste. 35 Zunächst ist zu betonen, daß dem Text nicht ein bloßes Repertoire von thematischen und/ oder sprachlichen Generatoren zugrundeliegt, sondern mehrere Regelsysteme. Das erste betrifft die Reihenfolge der beschriebenen Räume. Perec greift dabei auf ein bekanntes mathematisches Problem zurück, bei dem es darum geht, mit den Zugmöglichkeiten des Springers jedes Feld des Schachbretts genau einmal und nur einmal aufzusuchen. Da das Gebäude jedoch aus 10 Etagen mit jeweils 10 Räumen besteht, muß diese Polygraphie des Springers modifiziert werden für ein ‘Schachbrett’ mit 10x10 Feldern, die den zu beschreibenden Räumen entsprechen. Deren Reihenfolge bzw. diejenige der Kapitel folgt den Bewegungen eines Springers auf diesem Quadrat, auf das der Gebäudeplan projiziert ist. Diese Bewegung beruht also auf einem exakten mathematischen Kalkül, erscheint aber gleichzeitig im Verhältnis zu vergleichbaren Gebäudebeschreibungen wie in Balzacs Le père Goriot oder Zolas Pot-Bouille als völlig unsystematisch und willkürlich, da nicht durch die histoire selbst, d.h. den Gegenstand der Beschreibung oder den Wahrnehmungsprozeß einer Figur realistisch motiviert. Auf den Plan des Gebäudes und die Notwendigkeit einer Orientierung auf diesem Plan wird im ersten Kapitel auch aufmerksam gemacht: eine Immobilienagentin steht im Treppenhaus mit einem „plan en coupe de l’immeuble indiquant schématiquement la disposition des appartements, précisant le nom des occupants […]“ (S. 20), mittels dessen sie sich bei der Suche nach Wincklers Wohnung zu orientieren sucht. Das zweite Generierungssystem betrifft nicht die Anordnung, sondern den Inhalt der Deskriptionen bzw. Narrationen jedes einzelnen Kapitels. Perec legt dafür als Basis 10 Reihen fest, die ihrerseits aus je zwei Reihenpaaren mit je 10 Elementen bestehen. Z.B. besteht die erste Reihe aus einem Reihenpaar ‘position’ (agenouillé, descendre ou accroupi, à plat ventre, assis usw.) und ‘activité’ (peindre, entretien, toilette, érotique, classement/ ranger usw.) sowie aus einem weiteren Reihenpaar ‘citation 1’ (Flaubert, Sterne, Proust usw.) und ‘citation 2’ (Mann, Nabokov, Roubaud usw.). Hinzu kommt noch eine weitere Reihe ‘COUPLES’, die sich aus 10 Paaren zusammensetzt (Laurel/ Hardy, Faucille/ Marteau, Racine/ Shakespeare, Philémon/ Baucis, Crime/ Châtiment, Labourage/ Pâturage usw.). Nach einem recht komplizierten mathematischen Kombinationsverfahren, auf das ich hier nicht näher eingehe, ergibt sich als contrainte für jedes Kapitel eine Liste von 42 aus diesen Reihen entnommenen Elementen, die in diesem Kapitel in irgendeiner Form realisiert werden müssen: eine Position, eine Aktivität, zwei Zitate, eine Farbe, eine geometrische Form, eine bestimmte Figurenanzahl usw. Die Aufgabe 56 Dossier des Autors besteht darin, eine Deskription bzw. Narration zu erfinden, die diese Vorgabe erfüllt, was noch dadurch erschwert wird, daß eine der Reihen auch die ungefähre Seitenzahl des Kapitels (zwischen wenigen Zeilen und mehr als 12 Seiten) a priori festlegt. Dem Erfindungsreichtum sind dabei keine Grenzen gesetzt, wie oben am Beispiel der Umsetzung von ‘Laurel’ und ‘Baucis’ nur angedeutet ist. Das besonders Interessante an diesen contraintes ist nun aber ein weiteres Moment. Ihre determinierende Kraft ist nämlich keine absolute, sondern diese ist ihrerseits - und zwar nicht willkürlich, sondern regelhaft - eingeschränkt. Die Polygraphie des Springers legt nämlich nicht den Anfangspunkt der Bewegung fest und läßt anfangs auch vier mögliche Zugrichtungen zu. Dies ist am Textbeginn in der Formulierung „Oui, cela pourrait commencer ainsi, ici“ (S. 19) auch thematisiert. Das Regelsystem läßt also prinzipiell durchaus mehrere Lösungsmöglichkeiten zu und entfaltet erst im Fortschreiten seiner Anwendung seine zunehmend restriktive Wirkung. Außerdem verstößt der Text absichtlich zwar nicht gegen die Regel, aber gegen ihre konsequente Umsetzung im Text. Der Springer sucht nämlich im 66. Zug das Feld am äußersten unteren linken Rand auf, der entsprechende Kellerraum wird jedoch in Kap. LXVI nicht beschrieben, vielmehr fährt dieses Kapitel mit dem nächsten, dem 67. Feld fort. Deshalb hat der Text nur 99 statt der 100 Kapitel, die er eigentlich haben müßte. 36 Noch markanter erweist sich die regelgeleitete Regelabweichung im Fall der Kombinatorik der Reihen. Darunter findet sich nämlich auch ein Reihenpaar ‘manque/ FAUX’, das festlegt, aus welcher Reihe ein an sich in einem Kapitel vorgesehenes Element fehlen bzw. durch ein ‘falsches’ substituiert werden darf - und zwar nach Belieben des Autors. Diese Regel sieht nun ihrerseits wiederum eine Ausnahme vor, insofern die Reihe ‘COUPLES’ darin nicht einbezogen ist (ein Element aus dieser Reihe muß also immer vorkommen). Zum anderen ist sie rekursiv, d.h. die Ausnahmeregel ist auch auf sich selbst anwendbar und läßt in diesem Fall ein Fehlen bzw. Verändern eines vorgesehenen Elements nicht zu, sondern verbietet dies. Ich habe die Kompliziertheit dieser Regelsysteme nicht deshalb so genau zu beschreiben versucht, um die Komplexität der Textkonstruktion und -generierung zu verdeutlichen, sondern weil die Regelsysteme selbst für Perecs Mimesiskonzeption von erheblichem Belang sind. Es handelt sich nämlich in beiden Fällen um eine Kombination von relativ strikter Determination und deren partieller Aufhebung. Perec hat in einem Interview dafür den Begriff des ‘clinamen’ gebraucht: […] quand on établit un système de contraintes, il faut qu’il y ait aussi de l’anticontrainte dedans. […] Il ne faut pas qu’il soit rigide, il faut qu’il y ait du jeu, comme on dit, que ça grince un peu; il ne faut pas que ça soit complètement cohérent: un clinamen, c’est dans la théorie des atomes d’Épicure: ‘Le monde fonctionne parce qu’au départ il y a un déséquilibre.’ Selon Klee, ‘le génie, c’est l’erreur dans le système’. 37 57 Dossier Damit ist zweifellos auf die notwendige Freiheit im Kunstwerk verwiesen, die in Perecs VME aber allein schon durch die freie Umsetzung der vorgegebenen Elemente im Text gewährleistet ist. Wichtiger scheint mir jedoch der Hinweis auf Epikurs Atomismus und seine Theorie der Entstehung der Welt. Denn darin ist eine grundlegende Analogie zwischen Kunstwerk und Welt impliziert. Wenn also der Text auf strikt deterministischen Generierungssystemen basiert und gleichzeitig auf einem clinamen, das den Systemen selbst eingeschrieben ist, dann sind diese vom Autor erfundenen Regelsysteme nur scheinbar völlig willkürlich. Bei aller mathematischen Abstraktheit sind sie nämlich nicht Generierungssysteme beliebiger Art, sie sind vielmehr selbst semantisiert und mithin mimetisch motiviert. Sie bilden die Welt und das Leben in ihrer Ordnung und ihrer chaotischen Erscheinung ab: als Notwendigkeit und Kontingenz, Determination und Freiheit und vielleicht auch im ethischen Sinn als göttliche Schöpfungsordnung, in die immer wieder das Böse eindringt. 38 D.h. im Unterschied zur Generierung des Textes mittels thematischer oder sprachlicher Generatoren stört und zerstört das System der Textgenerierung hier nicht die mimetische Dimension des Textes, sondern potenziert sie, insofern auch noch das Generierungssystem die Wirklichkeit und das Leben abbildet. Daß das von den Reihen semantischer Elemente ausgehende Generierungssystem die Ordnung und Kontingenz der Welt abbildet, belegt auch die Struktur der Reihen selbst. Die Mehrheit der Reihen bildet zwar durchaus eine mehr oder weniger homogene Klasse von Elementen, die ein gemeinsames Merkmal besitzen. Aber eine Reihe ‘animaux’ legt 9 verschiedene Tiere fest, läßt jedoch das 10. Element offen („Autres“). Eine weitere Reihe ‘DIVERS’ bildet eine bewußt heterogene Klasse (armes, argent, maladie, flamme, militaires, Institutions, clergé, couteau, Physiologie 1860, littérature danoise). Die Reihe ‘COUPLE’ (Laurel/ Hardy, Faucille/ Marteau, Orgueil/ Préjugé, Labourage/ Patûrage, Nuit/ Brouillard usw.) wiederum ist zwar homogen, aber nur aufgrund eines gemeinsamen strukturellen Merkmals, nämlich der irgendwie zu einem Paar verknüpften Elemente, hingegen völlig heterogen hinsichtlich der Füllung der Struktur (Komikerpaar, Emblem, Romantitel, Bewirtschaftungsformen usw.). Zudem sind die Reihen untereinander nicht gleichartig: die meisten betreffen Objekte, Figuren, Eigenschaften, geographische Räume und Epochen, die Reihe ‘manque/ FAUX’ hingegen den Anwendungsmodus des Regelsystems und die Reihe ‘longueur’ (Kapitellänge) Eigenschaften des Textes. Inkonsistent erscheinen außerdem Redundanzen, nämlich daß es neben den beiden Reihen ‘ citations’, in der Autoren aufgeführt sind, auch eine Reihe ‘Livres’ (10 petits nègres, Disparition, Moby Dick usw.) gibt. Bei aller Striktheit des Kombinationssystems bildet das Repertoire der Elemente selbst die Wirklichkeit als Ordnung und Chaos ab. 58 Dossier 4. Mises en abyme der Generierungssysteme und implizite Reflexion über Kunst Die prinzipielle Heterogenität der Wirklichkeit schlägt sich - wie schon angesprochen - in der Struktur der Deskriptionen nieder. Das Prinzip von Regularität und Ausnahme erscheint jedoch auch auf den verschiedensten Ebenen des Textes bzw. der abgebildeten Wirklichkeit: alle Räume des Gebäudes werden beschrieben mit Ausnahme - wie schon erwähnt - eines Kellerraums. Fast alle Räume sind möbliert mit Ausnahme des Raumes Troisième droite, 3 (Kap. XC), oder der schon genannten Wohnung in Kap. L, die eben erst eingerichtet wird, oder der Wohnung Gaspard Wincklers (Kap. VIII), die fast nicht mehr möbliert ist („Maintenant, dans le petit salon, il reste ce qui reste quand il ne reste rien: des mouches par exemple […]“, S. 49) und die in erster Linie in ihrem vergangenen, noch bewohnten Zustand beschrieben wird. Der Leser erfährt allerhand über die Bewohner und Besitzer der Wohnungen mit Ausnahme der Wohnung Troisième droite, über deren Besitzer nur spärliche Informationen gegeben sind und dessen Existenz letztlich überhaupt fraglich ist. Sobald diese Grundstruktur der Generierungssysteme und Konstruktionsprinzipien bekannt ist, lassen sich im Text zahllose mises en abyme dieser Struktur finden. 39 Ich greife nur ein Beispiel heraus. In Kap. XXIII ist die Rede vom Innenarchitekten, der in diesem Fall die Chance gesehen hat, die Wohnung der reichen Besitzerin nach seinen Vorstellungen gestalten und so sein Meisterwerk schaffen zu können: „[…] il pourrait, avec ce décor prestigieux et au départ anonyme, donner une image directe et fidèle de son talent, illustrant exemplairement ses théories en matière d’architecture intérieure: remodelage de l’espace, redistribution théâtralisée de la lumière, mélange des styles“ (S. 133 f.). Es ist unübersehbar, daß das so beschriebene „chef-d’œuvre“ der Text selbst ist, in dem der Autor seine Theorien umsetzt und seine handwerkliche Kunst in der Transformation und Neugestaltung von Wirklichkeit beweist. Die Umgestaltung des Raums ist am Beispiel des „fumoir bibliothèque“ näher geschildert. Der rechteckige Raum wird durch eine entsprechende Wandvertäfelung zu einem ovalen Raum, dessen Einrichtung dann beschrieben wird. Diese Deskription enthält nun nicht nur einen großen Teil der Reihenelemente, sondern spiegelt partiell auch die Reihen selbst und deren Strukturprinzipien ‘Homogenität’ und ‘Heterogenität’ wieder. Die Bibliothek ist nämlich zum einen mit Bücherregalen ausgestattet „supportant un grand nombre de livres uniformément reliés en cuir havane, des livres d’art pour la plupart, rangés par ordre alphabétique.“ (S. 134) - dies spielt insbesondere auf das ein Reihenpaar ‘Tableaux’ und ‘Livres’ an. 40 Zum anderen stehen dort vier Vitrinen mit verschiedenen Objekten, in der zweiten z.B. mit alten Werkzeugen, die an die „activités de la maîtresse de la maison“ (S. 134) erinnern, in der dritten „divers objets ayant appartenus au physiologiste Flourens“ (S. 135) und in der vierten ein Puppenhaus, das nicht nur das Gebäude insgesamt in gewisser Weise spiegelt, sondern mit einem „dispositif de rayons de bibliothèque en chêne teinté contenant l’Encyclopaedia 59 Dossier Britannica et le New Century Dictionary“ (S. 135) den Bibliotheksraum selbst und seine Regale mit einheitlich gebundenen Büchern en miniature abbildet. Eine fünfte Vitrine schließlich enthält mehrere Partituren. Auch diese Vitrinen mit ihrem nur thematisch oder gar nicht motivierten räumlichen Nebeneinander sind als Abbildung der Reihen zu sehen. Diese Reihen und das damit verbundene Generierungsprinzip sind allerdings nicht jedem Leser bewußt, während andere Aspekte des Textes evident sind. Auch diese unterschiedlichen Leserinteressen und Lektüremöglichkeiten - Interesse an den Konstruktionsprinzipien oder an den durchaus spannenden und meist amüsanten Geschichten - sind in diesem Kapitel reflektiert: La maison en miniature fait le délice des Japonais; les partitions de Haydn permettent aux professeurs de briller et les outils anciens provoquent généralement de la part des sous-secrétaires d’état au commerce et à l’industrie quelques phrases bien venues sur la pérennité du travail manuel et de l’artisanat français […]. (S. 137) Die evidentesten mises e abyme des künstlerischen Schaffensprozesses und damit ästhetischer Fragen, die den Text selbst in entscheidendem Maße betreffen, bilden jedoch die Aktivitäten und Projekte von Malern und anderen Künstlern, von denen der Text mehr oder weniger ausführlich berichtet. Diese spielen natürlich in der Forschung zu VME eine prominente Rolle. 41 Dabei scheint allerdings nicht selten übersehen, daß die Figuren Bartlebooths, Wincklers oder Valènes nur partiell die Rolle des Autors von VME widerspiegeln. Der Frage nach der intendierten Ästhetik, die der Text implizit über diese Künstlerfiguren vermittelt, ist daher etwas genauer nachzugehen. Wenn es unter den Figuren, von denen die ‘romans’ des Textes in stattlicher Zahl bevölkert werden, so etwas wie einen Protagonisten gibt, dann ist dies Percival Bartlebooth. Denn der Zeitpunkt seines Todes bestimmt die zeitliche Fixierung des Augenblicks, der alle Deskriptionen koordiniert. Sein Lebensplan und sein künstlerisches Projekt, in das auch die Künstler Valène und Winckler eingebunden sind, sowie das Scheitern dieses Projekts wird über mehrere Kapitel vorgestellt. 42 Diese Lebensplanung, auf die sicher auch der Titel von VME anspielt, sieht folgendermaßen aus: die ersten 10 Jahre nimmt Bartlebooth bei Valène Unterricht, um trotz mäßiger Begabung, aber mit Fleiß und Ausdauer, die Technik des Aquarellierens zu erlernen; die folgenden 20 Jahre bereist er mit seinem Diener Smautf die Welt, um 500 Aquarelle, genauer Seestücke, in 500 unterschiedlichen Häfen zu schaffen. Diese werden dann unverzüglich nach Paris an Gaspard Winckler geschickt, der sie zu Puzzles von je 750 Teilen verarbeitet. Die folgenden 20 Jahre plant Bartlebooth in seiner Wohnung mit dem Zusammenfügen dieser Puzzles zu verbringen. Mittels eines komplizierten Verfahrens werden dann die Konturen der Puzzleteile wieder unsichtbar gemacht, das Aquarell von seiner Unterlage abgelöst, an den Ort seiner Entstehung zurückgebracht und dort schließlich einer Bleichungsprozedur unterworfen, sodaß am Ende nur das weiße Blatt vom Anfang zurückbleibt. 60 Dossier Daß dieses Projekt nicht eine mise en abyme von VME sein kann, liegt auf der Hand, denn immerhin endet Perecs Romanprojekt nicht im Nichts, sondern in einem voluminösen Text. Einzig ein akzidentelles Moment von Bartlebooths Projekt könnte ein Konstruktionsprinzip von VME abbilden: das durch die geplanten Aquarelle motivierte Reisen und die kontingente Bewegung dieser Reisen könnte die in der Polygraphie des Springers systemdeterminierte und doch scheinbar ungeordnete Reihenfolge der Raumdeskriptionen widerspiegeln. Daß nun Valène als Repräsentant einer rein mimetischen Kunstkonzeption dieses ästhetische Programm nur schwer und allmählich begreifen kann, liegt auf der Hand. Denn Bartlebooths Vorstellung vom Wesen und Zweck der Kunst ist Valènes Ästhetik offenbar insofern diametral entgegengesetzt, als der eigentliche Sinn von Bartlebooths Aquarellen nicht Wirklichkeitsabbildung ist, sondern als Vorlage für Puzzles zu dienen, und das ultimative Ziel seines Schaffens nicht ein bleibendes Kunstwerk ist, sondern ein Spiel, das im Nichts endet. Erst allmählich gelingt es Valène - und mit ihm dem Leser - den Sinn von Bartlebooths „ambition“ zu verstehen. Bartlebooth gehe es darum de saisir, de décrire, d’épuiser, non la totalité du monde - projet que son seul énoncé suffit à ruiner - mais un fragment constitué de celui-ci: face à l’inextricable incohérence du monde, il s’agira alors d’accomplir jusqu’au bout un programme, restreint sans doute, mais entier, intact, irréductible. Bartlebooth, en d’autres termes, décida un jour que sa vie entière serait organisée autour d’un projet unique dont la nécessité arbitraire n’aurait d’autre fin qu’elle-même. Cette idée lui vint alors qu’il avait vingt ans. Ce fut d’abord une idée vague, une question qui se posait - que faire? -, une réponse qui s’esquissait: rien. (S. 156 f.) Das tiefere Problem, das als Prämisse Bartlebooths Ästhetik inhärent und hier formuliert ist, nämlich die Unerschöpflichkeit der Welt, die sich einer erschöpfenden Mimesis entzieht, ist auch in VME durchaus als Problem reflektiert. Doch Perec scheint daraus keineswegs Bartlebooths Konsequenz einer radikalen Selbstreferentialität des literarischen Spiels zu ziehen, der sich alle mimetischen Elemente als bloßes Material unterordnen. Trotz aller Unbegreiflichkeit sucht Valène den Prinzipien, die hinter Bartlebooths Projekt stehen, auf den Grund zu gehen: Le premier fut d’ordre moral: il ne s’agirait pas d’un exploit ou d’un record […] ce serait simplement, discrètement, un projet, difficile certes, mais non irréalisable, maîtrisé d’un bout à l’autre et qui, en retour, gouvernerait, dans tous ses détails, la vie de celui qui s’y consacrerait. Le second fut d’ordre logique: excluant tout recours au hasard, l’entreprise ferait fonctionner le temps et l’espace comme des coordonnées abstraites où viendraient s’inscrire avec une récurrence inéluctable des événements identiques se produisant inexorablement dans leur lieu, à leur date. Le troisième, enfin, fut d’ordre esthétique: inutile, sa gratuité étant l’unique garantie de sa rigueur, le projet se détruirait lui-même au fur et à mesure qu’il s’accomplirait; sa perfection serait circulaire: une succession d’événements qui, en s’enchaînant, s’annuleraient: parti de rien, Bartlebooth reviendrait au rien, à travers des transformations précises d’objets finis. (S. 157) 61 Dossier Diese Prinzipien stehen nun mit Sicherheit nicht für die implizite Poetik von Perecs Text. Sie stehen zunächst nicht für eine wie auch immer verstandene mimetische Kunst- und Literaturkonzeption, denn daß Valène, dem Vertreter einer rein mimetischen Ästhetik, diesem Unternehmen mit befremdeter Distanz gegenübersteht, ist signifikant. Festzuhalten ist auch, daß es sich keinesfalls um ein oulipistisches Projekt handeln kann, denn, nur die Anzahl der 500 Aquarelle sowie der Zeitrahmen und -verlauf des Projekts sind rigide festgelegt. Was jedoch fehlt, ist jegliche Art von contrainte, die für die oulipistische Poetik doch konstitutiv ist. Ganz im Gegenteil, die Aquarelle werden spontan und schnell hingeworfen 43 und die Auswahl der abgebildeten Wirklichkeit folgt dem Zufall der Reisen und die Reiseziele verdanken sich zufälligen Lektüren: „Les ports furent choisis plus ou moins au hasard par Bartlebooth qui, feuilletant des atlas, des livres de géographie, des récits de voyage et des dépliants touristiques, cochait au fur et à mesure les endroits qui lui plaisaient.“ (S. 81) Ein solche beliebige Wahl hat wenig zu tun mit den Generierungssystemen von VME, sondern erinnert eher an den scheinbar beliebigen Zugriff auf fragmentarische Elemente aus der Alltagswirklichkeit und aus der Trivialliteratur in Robbe-Grillets La maison de rendez-vous. Und einen Roman, der mit „Rien“ beginnt und mit „LE LIVRE“ endet und der seiner zyklischen Struktur wegen angeblich auch in der entgegengesetzten Richtung vom Ende her gelesen werden kann, hat Ricardou in La prise de Constantinople vorgelegt. Ich will damit nicht behaupten, daß Bartlebooths Projekt eine Parodie genau dieser Romane darstellt. Aber das Generierungsprinzip, das Barlebooths Aquarellen zugrundeliegt, besteht in der Repetition ein und desselben Sujets bzw. des immer gleichen Genres (marine), das nur durch die Wahl immer neuer Häfen variiert wird. Dieses Prinzip könnte die globale Textstruktur von VME allenfalls in ihrer abstrakten Dimension als einer Folge von Raumdeskriptionen betreffen, nicht jedoch die konkrete Vielfalt und Heterogenität der Deskriptionen, der Figuren, der Geschichten und literarischen Genres, die der Text entfaltet. Vielmehr erinnert die Generierung von Bartlebooths Aquarellen an das Prinzip der variierenden Repetition thematischer Generatoren im Nouveau Roman. Eher kann die dritte Phase von Bartlebooths Lebens- und Kunstprojekt, in der es darum geht, die von Winckler in Puzzles dekoupierte Aquarelle wieder zu rekonstruieren, als mise en abyme der Rekomposition von Wirklichkeit in VME aufgefaßt werden, in dieser Phase freilich ist nicht mehr Bartlebooth der produzierende Künstler, sondern Winckler. Doch dazu später. Zuvor ist noch auf die Rolle des schon erwähnten traditionellen Künstlers in VME, Serge Valène, einzugehen. Mehr als Bartlebooths ehrgeiziges Projekt scheint nämlich das von Valène geplante Gemälde Inhalt und Struktur des Textes als mise en abyme wiederzuspiegeln. Seine Konzeption einer mimetischen Kunst favorisiert auch nicht das Aquarell als einem Festhalten des momenthaften Eindrucks, sondern das Gemälde und dessen Komposition - ein Blick hinter die Fassade ins Innere des Mietshauses - basiert mehr auf der Imagination als auf der unmittelbaren Abbildung. Aber auch 62 Dossier dieses Projekt scheitert im Unterschied zum Text. Der Epilog berichtet von Valènes Tod und beschreibt die kaum begonnene Ausführung des Gemäldes: „La toile était pratiquement vierge: quelques traits au fusain, soigneusement tracés, la divisaient en carrés réguliers, esquisse d’un plan en coupe d’un immeuble qu’aucune figure, désormais, ne viendrait habiter.“ (S. 602) Wodurch dieses Scheitern bedingt ist, wird in mehreren Kapiteln des Textes deutlich. Die von Valène als ältestem Bewohner des Hauses erfahrene Wirklichkeit besitzt nämlich wesentliche Dimensionen, die das Gemälde in seiner Statik und Momentaufnahme nicht festhalten kann: die Zeit und die affektive Einstellung zu den Dingen und Menschen. Deshalb beschreibt der Text von VME nicht einfach ein Gemälde Valènes, sondern nur dessen Projekt verbunden mit dessen Erinnerungen an Bewohner und Episoden, die sich um Haus und Bewohner ranken: Erinnerungen an den verstorbenen Freund Gaspard Winckler und dessen ebenfalls verstorbene, von Valène in Stille geliebt Frau (Kap. VIII und LIII), an Bartlebooth und viele andere. Dieser Erinnerung ist das ganze Kap. XVII gewidmet, das die Geschichte des Hauses skizziert und in dem es am Anfang heißt: „Dans les escaliers passent les ombres furtives de tous ceux qui furent là un jour. Il [Valène] se souvenait de Marguerite, de Paul Hébert […]“ (S. 88) und es folgt eine lange Aufzählung. Am Ende heißt es zusammenfassend: „Les escaliers pour lui, c’était, à chaque étage, un souvenir, une émotion, quelque chose de suranné et d’impalpable, quelque chose qui palpitait quelque part, à la flamme vacillante de sa mémoire […].“ (S. 91) 44 Valène scheitert daher als Maler, wäre aber der ideale Erzähler, auch wenn sich die Gesamtheit des Erinnerten gar nicht erzählen und die Gesamtheit des Geschehens gar nicht erinnern läßt, wie er sich selbst eingesteht, 45 doch diese Rolle übernimmt die Erzählinstanz von VME, die das statische Moment der Deskription mit dem dynamischen der Narration verknüpft. Valènes traditioneller Realismus, dem in der Literaturgeschichte am ehesten Balzacs Comédie Humaine oder Zolas Rougon-Macquart-Zyklus entsprechen dürfte, versteht sich idealiter nicht nur als umfassende Abbildung der räumlichen und zeitlichen Dimension, sondern verbindet sich auch mit dem Moment der Imagination. Der Erinnerung an die Vergangenheit des Gebäudes steht so die Vorstellung von dessen Zukunft und Zerstörung gegenüber. 46 Oder auch phantastische Vorstellungswelten werden so entworfen, wie etwa in Kap. LXXIV: „Parfois il imaginait que l’immeuble était comme un iceberg dont les étages et les combles auraient constitué la partie visible.“ (S. 444) Was folgt, ist eine Schilderung einer unterirdischen Welt als einer Fülle von Menschen und Objekten in einer Stadtlandschaft, die bei aller Phantastik jedoch im Grunde nur die Wirklichkeit der realen Welt verdoppelt. Die Tiefendimension, in die der realistische Roman vorzudringen vorgibt, ist also nur eine Wiederholung der Oberfläche. Was diese Art von Mimesis somit im Unterschied zu VME nicht leistet, ist eine Abbildung der abstrakten Bedingungen der Existenz dieser Welt, deren Notwendigkeit und Kontingenz. Wenn Valène als der ideale Vertreter der puren Mimesis im traditionellen Sinn fungiert, dann ist Gaspard Winckler als der geniale Handwerker konzipiert. Vor und 63 Dossier nach seiner Tätigkeit für Bartlebooth fabriziert er höchst kunstvolle Artefakte - kompliziert ineinander verflochtene Ringe, Zerrspiegel mit komplex ornamentalen Rahmen -, aber wo immer Wirklichkeit abgebildet ist, handelt es sich um Reproduktionen bereits existierender Werke, zumindest was das Sujet anbelangt wie die Schnitzereien einer Truhe, die Szenen aus J. Vernes L’île mystérieuse wiedergeben (Kap. VIII). Auch seine Gattin, Marguerite Winckler, fertigt kunstvolle Miniaturen von Werken an. Diesen reproduzierenden Handwerkern fehlt also die Fähigkeit, genuin Wirklichkeit darzustellen, aber sie kondensieren Wirklichkeit, auch wenn dies nicht ohne Verzerrung möglich ist wie in Gaspard Wincklers Spiegeln, deren „vertu maléfique de la convexité […] semblait vouloir concentrer en un seul point tout l’espace disponible.“ (S. 51) Insofern spiegelt ihre ‘Kunst’ durchaus Strukturen des Textes, die intertextuellen Referenzen und die Konzentration der Welt in der Welt des Hauses. Was Winckler dem Text gegenüber hingegen fehlt, ist die Fähigkeit zum Ordnen der Wirklichkeit: die Hoteletiketten aus aller Welt, die den empfangenen Aquarellen beiliegen, vermag er in keine Ordnung zu bringen. Eine chronologische Anordnung findet er armselig, eine alphabetische noch mehr, eine Klassifikation nach Kontinenten oder Ländern befriedigt ihn nicht. „Ce qu’il aurait voulu c’est que chaque étiquette soit reliée à la suivante, mais chaque fois pour une raison différente.“ (S. 54) So lassen sich die Dinge zwar verknüpfen, aber dies ergibt keine konsistente Ordnung, sondern reproduziert nur die Kontingenz der Wirklichkeit: „[…] en laissant les étiquettes en vrac et en choisissant deux au hasard, on peut être sûr qu’elles auraient toujours au moins trois points communs. Au bout de quelques semaines il [Winckler] remit les étiquettes dans la boîte de chaussures […] rangea la boîte au fond de son armoire.“ (S. 54) Die eigentliche Kunst Wincklers sind jedoch seine Puzzles als einer Kunst der Verfemdung und Irreführung. Nach einer „observation minutieuse et inquiète“ (S. 253), der er die Aquarelle unterzieht, sägt er sie in Fragmente, und zwar so daß diese als Fragmente anderer Gegenstände erscheinen, als sie tatsächlich sind. Sie verrätseln die dargestellte Wirklichkeit und erst die Rekomposition des Bildes weist dem Puzzleteil wieder seinen strukturellen Ort und seine Funktion zu. 47 Als metatextueller Kommentar verstanden, bedeutet dies: die spezifische Mimesis des Textes besteht nicht in einer unmittelbaren Abbildung von Wirklichkeit, sondern in deren verrätselnder Dekomposition durch den Autor und deren verstehender Rekomposition durch den Leser. Als eine Repräsentation dieses Lesers fungiert im Text Bartlebooth, wenn er die Aufgabe der Puzzles zu lösen versucht. Was dabei paradoxerweise als störender Faktor wirkt, ist die Tatsache, daß er die dargestellte Wirklichkeit im Detail kennt, oder genauer, daß er als Schöpfer der Aquarelle sich an den Produktionsprozeß erinnert („souvenirs d’images, de traits de crayons, coups de gomme, touches de pinceau“, S. 416), Erinnerungen, deren Illusionscharakter Winckler strategisch zur Irreführung nutzt. Der Verstehensprozeß des Lesers muß also sein Wissen über die Wirklichkeit und über die vertrauten Darstellungsverfahren ausblenden und sich ‘objektiv’ auf den Text einlassen. 64 Dossier Daß Barlebooths Projekt genau in dieser Phase scheitert ist kein Zufall. Er versteht nämlich die Kunst und mit ihr die Welt ausschließlich als Ordnung und Notwendigkeit. Sein Scheitern ist daher durch Faktoren bedingt, die allesamt mit Kontingenz zu tun haben. Zunächst mit der Kontingenz nicht vorhersehbarer interagierender Interessen. Das Vernichten der Puzzles mißlingt nämlich, weil diese Absicht durch das Projekt einer Hotelkette mit dem Namen ‘Marvel Houses’ durchkreuzt wird. Ziel dieses Projekts ist es, den Hotelgästen nicht nur alle vorstellbaren Freizeitaktivitäten zu ermöglichen, sondern auch in jedem Hotel alle Sehenswürdigkeiten der Welt als Reproduktion in Originalgröße zu bieten. 48 In diesem Zusammenhang entsteht die Idee, für die Hotelbesucher auch die wertvollsten Kunstwerke der Welt zusammenzutragen. Doch genau dies erweist sich als schwierig, denn sobald der damit beauftragte Kunsthistoriker auch nur einen Hauch von Interesse an einem Künstler oder Kunstwerk durchscheinen läßt, steigen die Preise der entsprechenden Werke in astronomische Höhen. Schließlich erfährt er von Bartlebooths Projekt und beschließt, statt aller anderen Kunstwerke Bartlebooths Aquarelle zu erwerben, deren Wert gerade deshalb als unermeßlich erscheint, weil sie nicht zum Verkauf, sondern zur Vernichtung bestimmt sind. Danach verschwinden Aquarelle auf mysteriöse Weise, bevor sie ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt werden konnten. Bartelbooths Plan, ‘Nichts’ zu produzieren, scheitert also - wie übrigens auch der von Marvel Houses geplante Bau der Hotels. So wie der autoreferentielle Roman letztlich nicht nichts darstellen kann, so kann der realistische Roman wie die Marvel Houses nicht alles darstellen. Bartlebooths Lebensplan scheitert aber auch an den kontingenten Gegebenheiten des Lebens, die Fertigstellung der Puzzles gerät mehr und mehr in Verzug. An der unüberlegt getroffenen Festlegung auf 500 Aquarelle bzw. Puzzles - diese Anzahl läßt sich nämlich nicht gleichmäßig auf die Monate und Wochen des Jahres verteilen - liegt dies letztlich nicht, auch wenn diese Tatsache einmal mehr seinen Mangel an oulipistischen Interessen beweist. Vor allem seine Sehkraft läßt zunehmend nach, aber auch dies erklärt nicht, warum er über dem 439. Puzzle stirbt. Dieses letzte Puzzle ist nämlich kaum oder gar nicht zu lösen: „le trou noir de la seule pièce non encore posée dessine la silhouette presque parfaite d’un X. Mais la pièce que le mort tient entre ses doigts a la forme, depuis longtemps prévisible dans son ironie même, d’un W.“ (S. 600) 49 Das Puzzle stellt also offensichtlich die Frage nach einer Unbekannten, die offenbleiben muß; die Rekomposition der Wirklichkeit geht nicht auf. Über die Bedeutung des Buchstaben ‘W’ kann nur spekuliert werden. Sicher markiert er die Rache Wincklers, deren Erfüllung am Ende von Kap. I schon angekündigt ist, aber deren Motive den gesamten Text hindurch offen bleiben. 50 Ein Buchstabe dieser Form (als ein um 90 Grad gedrehtes ‘ ’) spielt in Perecs Werk spätestens seit La disparition eine Rolle und steht in diesem lipogrammatischen Roman für den fehlenden Buchstaben bzw. das Unvollkommene schlechthin, als ein um 90 Grad gedrehtes ‘E’ steht der Buchstabe dort auch als ‘M’ für ‘mort’. 51 Das ‘W’ hier könnte weiterhin für eine Eigenschaft der Welt stehen, nämlich deren Kontingenz, welche die durch das Puzzle repräsen- 65 Dossier tierte Ordnung durchkreuzt. Der Buchstabe könnte aber auch als hebräisch Shin ( ) gedeutet werden, der in der jüdischen Tradition für den Namen Gottes steht. In diesem Falle stünde das Puzzle für die Unordnung der Welt, in die sich die Vollkommenheit Gottes nicht einfügt. Ich würde aber aus gutem Grunde, wie noch zu zeigen sein wird, dafür plädieren, den Buchstaben so zu interpretieren, wie er im Text präsentiert ist: als rätselhaft und in seiner Rätselhaftigkeit gleichzeitig erwartbar. Bartlebooths Projekt insgesamt scheitert also und mit ihr sein Programm einer nicht-mimetischen Ästhetik und darin ist mit einiger Sicherheit eine Kritik am Ehrgeiz eines absolut autorepräsentativen Romans impliziert. Ein solches Projekt muß scheitern am notwendigen Residuum einer mimetischen Dimension, die nicht nur in den Denotaten der Zeichen begründet liegt, sondern auch in der nie ganz aufzuhebenden illusion référentielle aller Narration und der nie ganz in der Spatialität des Textes - von deren Möglichkeit Ricardou in La prise de Constantinople überzeugt scheint - aufzuhebenden Dimension der Zeit. Die Diskrepanz läßt sich nur in einem hierarchischen Nebeneinander von Spatialität der Deskription und Temporalität der Narration lösen wie in VME. Die in VME implizite Diskussion von Kunstkonzeptionen stellt, wie erwähnt, eine mimetisch-imaginative (Valène) und eine reproduzierende, d.h. über andere Werke vermittelte Wirklichkeitsabbildung (Gaspard und Marguerite Winckler) gegenüber. Der Text selbst kombiniert beides: er beschreibt und erzählt die Welt seines Mietshauses, aber er bildet auch Bilder (Gemälde, Photographien usw.) ab und erzählt Erzählungen (Erinnerungen, Kriminalromane usw.). Dies betrifft nun nicht nur die Ebene der Erzählinstanz, sondern auf einer höheren Ebene auch die vom Autor präsentierte Wirklichkeit, denn diese verweist nicht nur auf die historische Wirklichkeit, auf die immer wieder Bezug genommen ist, sondern umfaßt auch ein Universum von Werken der bildenden Kunst und der Literatur. Explizite historische Verweise wie intertextuelle Referenzen sind jedoch sind jedoch nie ganz zuverlässig: die Angaben sind bald authentisch, bald fiktiv; Texte werden wörtlich zitiert, aber fiktiven Autoren zugeschrieben. Das „Post-scriptum“ zählt die Namen der zitierten Autoren auf, aber die Zitate müßten vom informierten Leser erst gefunden werden. Zitierte Autoren oder Textstellen, die nun mithilfe des Cahier des charges etwas leichter aufgefunden werden können, sind jedoch z.T. außerordentlich obskur, die Werke der bildenden Kunst sind aus dem Text selbst nur mit einiger Mühe herauszulesen. Dieses ästhetische Spiel von Anspielung und Verrätselung ist eine essentielle Strategie des Textes, 52 die m. E. zwei Funktionen hat: sie fordert zum einen den Leser zu einem Spiel heraus, das in der Metapher des Puzzles auch thematisiert ist, sie hat aber auch mimetische Funktion, insofern sie auf diese Weise - wie schon mehrfach angedeutet - die immer auch rätselhafte und in ihrer Tiefe nie ganz auslotbare Wirklichkeit abzubilden sucht. Der Text verbindet also, wie gesehen, ein abstrakt-deterministisches Generierungssystem, eine fragmentierende und rekomponierende Mimesis von Wirklichkeit, Imagination und eine verrätselnde Intertextualiät. Diese Ästhetik verkörpert in 66 Dossier VME ein Maler, der in vielerlei Hinsicht mit allen karikaturhaften Zügen des modernen Künstlers gezeichnet scheint, sodaß die Ähnlichkeit seiner Ästhetik selbst mit der Poetik des Textes in gewisser Weise selbst kaschiert wird. Der international - auch geschäftlich - erfolgreiche Maler Franz Hutting, der sich im Mietshaus eine großzügige Wohnung und ein stattliches Atelier eingerichtet hat, ist von allen Künstlern im Roman derjenige, dessen Projekte nicht scheitern. Seine zum aktuellen Zeitpunkt schon vergangene Schaffensphase nennt er selbst seine „période brouillard“. Sie bestand darin, berühmte Gemälde wie Leonardo da Vincis Monalisa oder Manets Déjeuner sur l’herbe zu kopieren „sur lesquels il a ensuite peint des effets plus ou moins prononcés de brume, aboutissant à une grisaille imprécise dont émergent à peine les silhouettes de ses prestigieux modèles“. (S. 63) Dies entspricht einer Malerei, die - wenn auch aus entgegengesetzten Gründen - wie in Balzacs Le chef-d’œuvre inconnu zu einer nahezu vollkommen Gegenstandslosigkeit führt. In Balzacs Erzählung geschieht dies aus einer alles rechte Maß überschießenden Wirklichkeitstreue. Bei Hutting indes sind die übermalten Sujets ja nicht Wirklichkeit, sondern Werke eines kunstgeschichtlichen Universums, es handelt sich um die intertextuelle Verarbeitung von Hypotexten, die zu einem nicht mehr mimetischen Kunstwerk führt. Dies erinnert an Tendenzen im Roman der 1960er Jahre - Perecs eigenen Roman La disparition (1969) eingeschlossen. 53 Das Verfahren entspricht aber auch - mit etwas verschobener Akzentsetzung - der intertextuellen Anspielung auf literarische Texte und klassische Gemälde und deren verrätselndes Kaschieren in VME. Aber dabei handelt es sich um eine überwundene Phase - und insofern bildet auch Huttings Ästhetik die Textstrukturen nicht vollständig ab -, die aktuelle Ästhetik Huttings vereinigt Mimesis von Wirklichkeit und Imagination („au confluant d’un rêve et d’une réalité“ (S. 354) und findet ihre Realisierung im Genre des „portrait imaginaire“ (S. 352). Das allmähliche Finden dieser Ästhetik und die Serie der bereits entstandenen 24 Porträts schildert das Kap. LIX. Eine eigentümlich sich von romantischen Künstlerstereotypen abhebende Charakterisierung Huttings zeigt sich schon in der Deskription des kleinen Raums, in dem der Künstler anstelle des großzügigen Ateliers nun arbeitet: „C’est une pièce claire et cossue, impeccablement rangée, n’offrant absolument pas le désordre habituel des atéliers de peintres […].“ (S. 349) Hier deutet sich schon eine typisch oulipistische Einstellung zur Kunst an. Der erste Schritt in diese Richtung ist die Suche nach einem entsprechenden Generierungssystem, „une recette qui lui permettrait de bien faire sa ‹cuisine›“. (S. 352) Eine genaue Beschreibung dieses Systems scheint mir hier nicht nötig, es handelt sich jedenfalls um die vorgängige Festlegung der Farben nach relativ arbiträren Vorgaben, die die „impersonnalité du système“ (S. 352) garantieren soll, so daß die Ähnlichkeit mit den Elementreihen in VME hinreichend ins Auge fällt. Das System ist allerdings - ähnlich wie die Polygraphie des Springers oder die Kombinationsverfahren für die Reihenelemente - kein selbsterfundenes und bedarf daher noch verfeinernder Modifikationen, mit Blick auf welche ein Kunsthistoriker von seinen „équations personnelles“ (S. 352) gesprochen hat. 54 Das Ergebnis dieser 67 Dossier Verfahren sind nun die portraits imaginaires, bei denen ausgehend von Name, Vorname und Beruf des Porträtierten mittels diverser „traitements linguistiques et numériques“ (S. 356) Format, Anzahl der Personen, dominante Farbe und bestimmte ‘semantische Felder’ festgelegt werden. Das Ergebnis ist - wie die in VME porträtierte Welt - eine Kombination „à mi-chemin du tableau de genre, du portrait réel, du pur phantasme et du mythe historique“ (S. 352). Die Titel der 24 fertigen Porträts enthalten dann in paragrammatischer Verschlüsselung die Namen der Mitglieder der Gruppe Oulipo, darunter befindet sich im übrigen auch ein Selbstporträt Huttings mit dem Titel „Le peintre Hutting essaye d’obtenir d’un inspecteur polyvalent des contributions une péréquation de ses impôts“ (S. 354). [Hervorhebung F.P.] VME versteht sich also nicht als anti-représentation oder auto-représentation wie die radikaleren Versionen des Nouveau Roman, aber auch nicht als naive Mimesis traditioneller Art, sondern als eine Mimesis, die der Wirklichkeit deshalb gerecht wird, 1) weil sie diese bewußt in ihrer Fragmentarität unvollständig abbildet - deshalb fehlt die Beschreibug eines Kellerraums -, 2) weil das Generierungssystem selbst mimetisch ist, und 3) weil das Generierungssystem nur zu erahnen ist, letztlich aber verborgen bleibt wie das Generierungsprinzip der Welt und des Lebens. Das Puzzle fungiert dabei u.a. als Metapher für die Relation zwischen Autor und Leser. Aus der Dekomposition der Wirklichkeit durch den Autor resultiert auch deren Verrätselung bis hin zur bewußten Täuschung des Lesers, eine verstehende Lektüre erfordert eine Rekomposition der vermittelten Wirklichkeit, die der Leser leisten muß. Weder die vollständige Entdeckung der Generierungssysteme noch der intertextuellen Anspielungen ist dabei Voraussetzung, um den Sinn des Textes zu erfassen, es genügt eine Ahnung davon, ja die vollständige Auflösung aller Rätsel des Textes würde letztlich den Textsinn verfehlen, weil die Rätselhaftigkeit der Welt und des Lebens selbst Gegenstand der Mimesis ist. Aber der Textsinn ist e i n e Dimension des Textes, das ästhetische Vergnügen ist eine andere, und dieses erwächst dem veritablen Rätselliebhaber aus dem Suchen und partiellen Finden des Verborgenen. 1 ‘Spielerisch’ als Gattungsbegriff ist zu beziehen auf Texte „in which the ‘rules’ of textual production and operation are sufficiently unusual to become noticeable in features of the text itself.“ (D. Gascoigne, The Games of Fiction. Georges Perec and Modern French Ludic Fiction, Oxford/ Bern 2006, S. 17) 2 In dieser Tradition situiert D. Gascoigne den Roman in seiner in vielfacher Hinsicht vorzüglichen Monographie zu Perec (The Game of Fiction), in deren Zentrum VME steht. Einige ältere Monographien zu Perec seien hier nur knapp erwähnt: C. Burgelin, Georges Perec, Paris 1988; W. Motte, The Poetics of Experiment: a Study of the Work of Georges Perec, Lexington/ Kentucky 1989; J. Pedersen, Perec ou les textes croisés, Munksgaard 1985; P. Schwartz, Georges Perec. Traces of his Passage, Birmingham/ Alabama 1988; J. Ritte, Das Sprachspiel der Moderne. Eine Studie zur Literarästhetik Georges Perecs, Köln 1992. 68 Dossier 3 „Le roman, ce n’est plus un miroir qu’on promène le long d’une route; c’est l’effet de miroirs partout agissant en lui-même. Il n’est plus représentation; il est auto-représentation“ (Pour une théorie du nouveau roman, Paris 1971, S. 261-264, dort S. 262). Zur illusion littérale, die der illusion référentielle des traditionellen Romans entgegengesetzt ist s.a. J. Ricardou, Le Nouveau Roman, Paris 1972, Kap. 2.1.5. - Zur Poetik von Tel Quel und Ricardous La prise de Constantinople (1965) s. v. a. K. W. Hempfer, Postrukturale Texttheorie und narrative Praxis, München 1976. 4 Die Formulierungen beziehen sich auf R. Robbe-Grillet, „Sur quelques notions périmées“ (1957), in: R. Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Paris 1963, S. 25-44, und J. Ricardou, Probèmes du nouveau roman, Paris, 1967, S. 111. 5 In: Oulipo, La littérature potentielle, Paris 1973, S. 73-89. 6 „L’Oulipo ne prétendait pas innover à tout prix. […] C’est parce qu’il avait le sentiment profond de n’être pas un commencement absolu, mais au contraire d’appartenir à une histoire, que l’Oulipo a tenu à consacrer une bonne partie de ses travaux à rassembler les textes d’une anthologie de la littérature expérimentale.“ (J. Lescure, „Petite histoire de l’Oulipo“, in: Oulipo, La littérature potentielle, S.27 und S.30-31) 7 Vgl. F. Le Lionnais: “Toute œuvre littéraire se construit à partir d’une inspiration (c’est du moins ce que son auteur laisse entendre) qui est tenue à s’accommoder tant bien que mal d’une série de contraintes et de procédures qui rentrent les unes dans les autres comme des poupées russes. Contraintes du vocabulaires et de la grammaire, contraintes des règles du roman (division en chapitres, etc.) ou de la tragédie classique (règle des trois unités), contraintes de la versification générale, contraintes des formes fixes (comme dans le cas du rondeau ou du sonnet), etc.“ (La littérature potentielle, S.16). Und J. Lescure bemerkt dazu in seiner Geschichte Oulipos: „Ce que l’Oulipo entendait montrer, c’est que ces contraintes sont heureuses, généreuses et la littérature même. Ce qu’il se proposait c’était d’en découvrir de nouvelles sous le nom de structures.“ (Ibid., S. 27). - Ausführliches dazu in: F. Penzenstadler, „Die Poetik der Gruppe Oulipo und deren literarische Praxis in Georges Perecs La disparition“, in: ZfSL 104 (1994), 163-182, dort insbes. 170-174. 8 „Le concept de production élimine deux illusions inverses: la création, l’expression. […] Avec la production on reconnaît deux grandeurs: d’une part une base de départ, d’autre part le travail transformateur, d’une certaine opération. On appellera générateur le couple formé d’une base et d’une opération.“ (J. Ricardou, „Esquisse d’une théorie des générateurs“, in: M. Mansuy (ed.), Position et opposition sur le roman contemporain, Paris 1971, S. 143-150, dort S. 144). Ein Generator besteht aus einer base langagière (Signifikant) oder einer base thématique (Denotat oder konnotierte Themen) und bestimmten Transformtationsoperationen: „Sur une base choisie, le nombre des opérations génératrices est peut-être plus grand qu’on l’imagine. Citons par exemple: L’identité, la similitude, l’inverse, la contiguïte, la répétition, la majoration, la minoration, l’exclusion etc. (Ibid. S. 144). Zur Theorie und Praxis der Generatoren s.a. A. Robbe-Grillet, „Sur le choix des générateurs“, in: J. Ricardou/ F. van Rossum-Guyon (eds.), Nouveau Roman: hier, aujourd’hui, Bd. 2, Paris 1972, S. 157-162; in Anwendung auf seinen Roman La prise de Constantinople (1965), s. J. Ricardou, „Naissance d’une fiction“ in: ibid., S. 379-392. S. a. J. Ricardou, Le Nouveau Roman, v. a. Kap. 2.4. 9 Zur angeblichen Selbstgenerierung und zur Tatsache, daß es sich eben nicht um ein prä- oder restriktives Regelsystem handelt, vgl. Robbe-Grillet: „Je ne choisis pas mes générateurs au départ en une sorte de catalogue clos et complet. Ce que le générateur a de particulier, c’est qu’il engendre; il s’engendre lui-même et engendre en même temps 69 Dossier d’autres générateurs. Il y a sans cesse des constellations mobiles qui se forment et qui se déforment. Il ne faut pas ramener notre travail à des opérations mécaniques. Il y a au contraire une liberté de mouvement constante, grâce justement à la non-naturalité des générateurs choisies.“ (Choix, S. 167 f.) und „Mais le bridge ou les échecs ont leurs règles immuables. Le jeu, plus libre encore, dont il s’agit pour nous, invente et détruit jusqu’à ses propres règles au cours de chaque partie, d’où cette impression de „gratuité“ que ressent parfois le lecteur. (Bemerkungen zu Projet pour une révolution à New York in: Le Nouvelle Observateur, 26.6.1970) 10 Die meisten Interpretationen verstehen das Gesamtwerk Perecs einschließlich VME tendenziell als nicht-mimetische autoreferentielle Literatur. Paradigmatisch für diese Tendenz ist etwa J.-D. Bertharion, Poétique de Georges Perec, Paris 1998. Das gilt z.T. auch für die schon genannte Monographie von Gascoigne. 11 Implizit ist damit gewissermaßen auch markiert, daß „La Vie“ im Titel von VME nicht wie üblich auf eine oder mehrere Lebensgeschichten verweist, sondern auf das Leben schlechthin. 12 Diese Erfordernis narrativer tellability, die paradoxerweise gerade die Sujets des realistischen Roman bestimmt, ist im Text deutlich ironisch unterstrichen: „Le lecteur enclin à se demander ce qui dans la vie des cinq femmes leur a fait mériter une biographie aussi volumineuse sera, dès la première page, rassuré: les cinq sont en effet des quintuplées, nées à dix minutes le 14 juillet 1943, à Abidjan.“ (S. 546). 13 In der Wiedergabe ist dies insofern strukturell nachgebildet, als die Fiktivität des Erzählten erst am Ende aufgedeckt wird. 14 Oder abstrahiert entsprechend der Beschreibungskategorien der klassischen récit-Theorie: ‘amélioration - dégradation - amélioration’ (C. Bremond, „Les bons récompensés et les méchants punis. Morphologie du conte merveilleux français“ in: C. Chabrol (ed.), Sémiotique narrative et textuelle, Paris 1973, S. 96-121). 15 Eine solcherartige mise en abyme medialer Vermittlungsmodi ist sowohl für Robbe- Grillets La maison de rendez-vous als auch für Ricardous La prise de Constantinople charakteristisch. 16 Zur Gegenüberstellung von ‘lisiblen’ und ‘skriptiblen’ Texten s. R. Barthes, S/ Z, Paris 1970. 17 Das Beispiel ist in Kap. LXXX explizit angeführt, s. S. 478 f. 18 Dies unterscheidet VME von Balzacs Pension Vauquer in Le père Goriot, die als partieller Schauplatz einer komplexen narrativen histoire und v.a. als deren Ermöglichung fungiert, insofern sie das Aufeinandertreffen von Figuren unterschiedlicher sozialer Herkunft motiviert. Auch in Zolas Pot-Bouille ist das Mietshaus motivierend mit der Geschichte des Protagonisten verknüpft, auch wenn die Schilderung des sozialen Milieus einen breiten Raum einnimmt. 19 ‘Quantitative Dominanz’ der Deskriptionen ist hier nicht absolut zu verstehen im Verhältnis zum Anteil narrativer und argumentativer Passagen im Text, auch wenn Anzahl und Umfang der Deskriptionen im Text selbst überproportional hoch sind, sondern v.a. im Verhältnis zu deren Anteil im traditionellen Roman. 20 Wie beispielsweise das Treibhaus in Zolas La curée. 21 Zur Rolle der Beschreibungen in VME s. Burgelin, S. 195 ff. 22 Zu beachten ist hier auch die Ambiguität der Deixis, die räumlich und auf den Text bezogen verstanden werden kann. Es finden sich auch Kapitelanfänge wie: „Maintenant nous sommes dans la pièce que Gaspard Winckler appelait le salon.“ (S. 47). Der häufigste Beginn besteht jedoch in einer einfachen Nennung des Raums, z.B.: „Un salon vide au quatrième droite.“ (S. 32); „Au cinquième droite au fond: c’est juste au-dessus que Gas- 70 Dossier pard Winckler avait son atelier.“ (S.36); „La chambre, ou plutôt la future chambre, de Geneviève Foulerot.“ (S. 283). 23 „Valène parfois avait l’impression que le temps s’était arrêté, suspendu, figé autour d’il ne savait quelle attente. L’idée même de ce tableau qu’il projetait de faire et dont les images étalées, éclatées, s’étaient mises à hanter le moindre de ses instants, meublant ses rêves, forçant ses souvenirs, l’idée même de cet immeuble éventré montrant à nu les fissures de son passé, l’écroulement de son présent, cet entassement sans suite d’histoires grandioses ou dérisoires, frivoles ou pitoyables, lui faisaient l’effet d’un mausolée grotesque dressé à la mémoire de comparses pétrifiés dans des postures ultimes tout aussi insignifiantes dans leur solennité ou dans leur banalité, comme s’il avait voulu à la fois prévenir et retarder ces morts lentes ou vives qui d’étage en étage semblaient vouloir envahir la maison toute entière [….].“ (S. 168). Auf den virtuellen Status des Beschriebenen verweist in den Deskriptionen häufig auch das Futur, wie z.B. in folgendem Kapitelanfang: „Ce sera un salon, une pièce presque nue, parquetée à l’anglaise.“ (S. 28) 24 Dazu zählen etwa detaillierte Informationen über Vorfahren der Bewohner, Informationen über auf Bildern dargestellte Geschichten usw. - Gascoigne spricht daher von drei ‘Stimmen’, besser: drei Dimensionen der Sprecherinstanz, dem descriptor, dem chronicler (diese Stimme wäre Valène zuzuordnen) und dem fabulator. S. Gascoigne, Kap. 9. 25 Daß alle Realitätserfahrung zuvörderst Raumerfahrung ist und daß Raum dabei weniger als abstrakte Dimension erfahren wird denn als konkrete „bouts d’espaces“, hatte Perec schon im Avant-propos von Espèces d’espaces deutlich gemacht. Auch die Analogie zwischen Raum und räumlicher Distribution der Schrift auf dem Blatt („La page“), das thematisch-statische Prinzip der Erinnerung, die sich topographisch orientiert („La chambre“) und v.a. der erste Entwurf von VME („L’immeuble“) findet sich schon in Espèces d’espaces. 26 In der fundamental spatialen Organisation des Textes ist auch ein entscheidender Unterschied zu M. Butors Roman Passage de Milan zu sehen, der in der Forschung häufig als Vorbild Perecs genannt ist. Butors Roman erzählt eine komplexe histoire - im allgemeinen auch mit Fokalisierung verbunden - simultaner Handlungsstränge, die sich auf sieben Etagen eines Pariser Mietshauses verteilen. Der discours bildet dieses Geschehen weitgehend isochron in seiner zeitlichen Dimension von 7 Uhr abends bis 7 Uhr morgens ab. 27 Vgl. etwa die umfangreichen homodiegetischen Erzählungen in Briefform in Kap. XXXI und Kap. LXXXVIII. 28 I. Calvino hat diesbezüglich in seiner knappen Behandlung von Perecs VME im letzten Kapitel seiner Lezioni americane von einem „iper-romanzo“ gesprochen (Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo Millennio, Milano 1993). 29 Dies ist allerdings nur eine der metatextuellen Bedeutungen, die diese Metapher im Laufe des Textes annimmt. 30 J. L. Borges, „La cámara de las estatuas“, in: Historia universal de la infamia (J. L. Borges, Obras completas, Buenos Aires 1977, S. 336-337). 31 Mehr als über seine Heirat und seine erste Begegnung mit Bartlebooth erfährt der Leser auch in den übrigen Kapiteln nicht. 32 Daß es sich dabei um eine Passage aus J. Roubauds Dissertation handelt, tut im Hinblick auf die Funktion im Text nichts zur Sache. 33 Vgl. dazu B. Magné, „De l’écart à la trace. Avatars de la contrainte“, in: Études littéraires 23 (1990), 9-26. 34 G. Perec, „Quatre figures pour la Vie mode d’emploi“, in: L’Arc 76 (1979), 54-60. Der Text ist erneut abgedruckt in: Oulipo, Atlas de la littérature potentielle, Paris 2 1988 [ 1 1981], S. 71 Dossier 387-395. Hinzu kommen Interviews während der Entstehung des Textes. - Cahier de charges de La Vie mode d’emploi. Présentation, transcription et note par H. Hartje, B. Magné et J. Neefs, Paris 1993. 35 S. H. Hartje/ B. Magné/ J. Neefs, „Une machine à raconter des histoires“, in: Cahier des charges, S. 7-35, insbes. S.13-27. Vgl. a. B. Magné, „Le puzzle mode d’emploi. Petite propédeutique à une lecture métatextuelle de La Vie mode d’emploi de Georges Perec, in: B. Magné, Perecollages 1981-1988, Toulouse 1989, S. 33-59, außerdem Gascoigne, Kap. 7 und 8. 36 Das Fehlen des Kapitels ist natürlich im Text thematisiert und auch im Fehlen einer Zeile der Figurenaufzählung in Kap. LI abgebildet. Näheres dazu in B. Magné, „La Vie mode d’emploi, texte oulipien? “, in: B. Magné, Perecollages, S.153-163, und Gascoigne, S.209 f. 37 Entretiens avec E. Pawlikowska, zit. n. Gascoigne, S. 213-14. Die entsprechenden ‘Lehrsätze’ Epikurs finden sich in Lukrez, De rerum naturae, II, 217-224, II, 253-60 und II, 289-293. - Gascoigne interpretiert diese Aussage m. E. in einer zu produktionsästhetischen Sicht als ein Reklamieren der Freiheit des Künstlers (s. S. 209). Zur Textgenerierung und zum clinamen insgesamt s. dort Kap. 7 und 8. Zum clinamen s. a. B. Magné, „Le puzzle“, S. 45-47. 38 Gascoigne liefert recht überzeugende Gründe dafür, daß ausgerechnet das 66. Feld übersprungen wird, weil die Zahl ‘6’ für ‘Unvollkommenheit’ steht und in VME selbst in Kap. LXV mit den „Diables de l’Enfer“ (S. 393) in Verbindung gebracht ist. S. Gascoigne, S. 211-213. 39 All die aufzählenden Listen im Text (z.B. S. 102 ff.) können in diesem Sinne verstanden werden. Insbesondere die Beschreibung der Kellerräume bietet Gelegenheit für solche Aufzählungen, z.B. Kap. XXXIII, wo die Ordnung des Kellers der Familie Altamont mit dem Chaos im Keller der Familie Gratiolet konfrontiert ist. Ein Beispiel für die Thematisierung der immer wieder neuen Kombination der Elemente wäre das komplizierte Verfahren, nach dem die Objekte aus Madame Marcias Antiquitätenladen zwischen Geschäftsräumen, Wohnung und Keller hin und her bewegt weden. 40 Die Reihe ‘Tableaux’ enthält 10 bekannte Gemälde von Antonello da Messina, Holbein, Giorgione, van Eyck usw. 41 D. Jullien stellt daher VME in die Tradition des Künstlerromans bei Balzac und Zola, s. D. Jullien, „Portrait de l’artiste en mille morceaux: les avatars du roman artiste dans La Vie mode d’emploi“, in: Romanic Review 83 (1992), 389-404. S. a. B. Magné, „Peinturecriture“, in: Perecollages, S. 207-217, und Gascoigne, Kap. 10. Zu den Malerfiguren im Roman s. a. M. van Montfrans, Georges Perec. La contrainte du réel, Amsterdam 1999, S. 260 ff. - Seine Klassifizierung in peintres ratés (Bartlebooth und Valène) vs. peintres copistes (Marguerite Winckler und Franz Hutting) scheint mir aus Gründen, die im folgenden klar werden, nicht überzeugend. 42 Sein Name leitet sich vom Protagonisten in V. Larbauds Reisetagebuch A. O. Barnabooth. Son Journal intime und Bartelby, dem Protagonisten einer Kurzgeschichte von H. Melville ab (Bartleby, the Scrivener). Das Gespann des Weltreisenden Bartlebooth und seines treuen Dieners Smautf erinnert an J. Vernes Le tour du monde en 80 jours. 43 „Il peignait extrêmement vite et ne recommençait jamais.“ (S. 82). Bartlebooths spontane Arbeits- und Lebensweise hat durchaus Züge der von Oulipo abgelehnten romantischen Geniekonzeption. Dieser steht Smautfs „passion maladive“ für arithmetische Operationen gegenüber, deren Affinität zu Oulipo umgekehrt recht deutlich ist (s. S. 85 f.). Allerdings ist Smautf kein Künstler. 72 Dossier 44 Vgl. a. Kap. XXVIII: „L’idée même de ce tableau qu’il projetait de faire e dont les images étalées, éclatées, s’étaient mises à hanter le moindre de ses instants, meublant ses rêves, forçant ses souvenirs, l’idée même de cet immeuble éventré montrant à nu les fissures de son passé, l’écroulement de son présent, cet entassement sans suite d’histoires grandioses ou dérisoires, frivoles ou pitoyables, lui faisaient l’effet d’un mausolée grotesque dressé à la mémoire de comparses pétrifiés dans des postures ultimes tout aussi insignifiantes dans leur solennité ou dans leur banalité, comme s’il avait voulu à la fois prévenir et retarder ces morts lentes ou vives qui d’étage en étage semblaient vouloir envahir la maison toute entière [….].“ (S. 168). 45 „Il y avait bien sûr des gens dont il ne savait presque rien, qu’il n’était même pas sûr d’avoir vraiment identifiés […]. Il essayait de ressusciter ces détails imperceptibles qui tout au long de ces cinquante-cinq ans avaient tissé la vie de cette maison et que les années avaient effacés un à un […].“ (S. 90). 46 „Encore une fois alors se mettait à courir dans sa tête la triste ronde des déménageurs et des croque-morts […] Un jour surtout, c’est la maison entière qui disparaîtra, c’est la rue et le quartier qui mourront.“ (S. 169) Der Abriß des Hauses wird dann im folgenden (Kap. XXVIII) ausführlich in der Vorstellung Valènes geschildert. 47 Vgl. dazu insbesondere Kap. XLIV und LXX. 48 Das Projekt der Marvel Houses, deren Name auch auf das in VME dargestellte Haus anspielt, ist die illusorische Variante einer vollkommenen und exhaustiven Mimesis. 49 Der Hinweis von D. Gascoigne auf die Raffinesse Wincklers, die darin bestehe, daß dieses Puzzle offenbar mehrere Lösungsmöglichkeiten zulasse, ist scharfsinnig; mir ist allerdings nicht recht vorstellbar, daß eine solche Möglichkeit realisierbar sein soll. 50 Auch die Antwort auf die Frage nach den Motiven, die Gascoigne zu geben sucht (eine schon im Namen ‘ Winckler’ angedeutete Maliziosität der Figur oder seine Rolle als frustrierter Künstler), überzeugen mich nicht ganz. 51 Ein Bezug zu dem teils fiktionalen, teils autobiographischen Text Perecs W ou le souvenir d’enfance, Paris 1975, scheint sich aufzudrängen und evtl. auch zu den dort verhandelten Möglichkeiten (S. 105 f.), ‘W’ als eine Verdoppelung von ‘V’ zu sehen und ‘V’ als Basis für weitere sinnträchtige Zeichenkombinationen. Ich kann allerdings im Hinblick auf VME diesem Bezug keinen rechten Sinn abgewinnen. 52 Gascoigne spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem „teasing game of concealment and (partial) disclosure“ (S. 254). S. dazu insgesamt S. 255 ff. - Diese Strategie zeigt sich im übrigen auch darin, daß Perec in Interviews und Artikeln immer wieder Hinweise zu Textverfahren gegeben hat, aber diese nie vollständig aufgedeckt hat. 53 Zu einer Interpretation dieses Romans s. Penzenstadler, „Die Poetik der Gruppe Oulipo“. 54 Die Formel enthält natürlich mit ‘équ’ + ‘per’ den Namen ‘Perec’.