eJournals lendemains 39/154-155

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2014
39154-155

Europa transarchipelisch denken

2014
Ottmar Ette
ldm39154-1550228
228 DDossier Ottmar Ette Europa transarchipelisch denken Entwürfe für eine neue Landschaft der Theorie (und Praxis) Das zwischen 1510 und 1511 in der Stanza della Segnatura 1 im Vatikan entstandene berühmte Fresko Raffaellos, La scuola di Atene 2 (Abb. 1), gehört zweifellos zu den wirkungsmächtigsten Verherrlichungen der griechischen Antike aus dem Geiste der italienischen Renaissance, führt es dem Betrachter doch all jene Philosophen vor Augen, die aus Sicht des bedeutenden italienischen Malers die Größe der vorbildgebenden Antike begründeten - und mit ihr selbstverständlich auch die Größe ihrer Wiedergeburt. In diesem für Papst Julius II. ausgearbeiteten Entwurf werden uns im Bildzentrum die beiden wohl einflussreichsten Philosophen des antiken Griechenland, Platon und Aristoteles, so vorgestellt, dass sie die Szenerie um sie her wie zu ihren Füßen beherrschen und den Blick der Betrachterinnen und Betrachter auf sich ziehen. Das hier angebotene bipolare Ordnungsschema abendländischer Philosophiegeschichte ist in seinen Auswirkungen kaum zu über- Abb. 1: La scuola di Atene 229 DDossier blicken, zugleich aber auch nicht zu übersehen. Gerade in jenen Aspekten, die in dieser Konstruktion abendländischen Denkens ausgeblendet und unsichtbar gemacht werden. Wenn die von Raffaello entworfene und vermeintlich unmittelbar, gleich auf den ersten Blick lesbare 3 monumentale Architektur 4 die Denkwelten der hier versammelten Philosophen überwölbt und in einem nicht weniger fundamentalen Sinne kanonisiert, dann überbrücken die sich an den Seiten der beiden Zentralgestalten angeordneten Gruppen stärker im Bannkreis Platons oder Aristoteles’ stehender Denker zugleich die Zeiten, welche die griechische Antike von der italienischen Renaissance trennen, indem in einer ebenso räumlichen wie zeitlichen Staffelung relationale Bezugssysteme hergestellt werden, in welche das Fresko notwendig all jene verwickelt, die sich ihm nähern. Dies gilt ebenso für die hergestellten Blickachsen zwischen den Philosophen selbst wie für die Sichtachsen, welche dem Bildentwurf wie seinem Gegenstand eine unbestreitbar monumentale Größe verleihen. Raffaello ist zweifellos eine herausragende künstlerische Sichtbarmachung einer Geschichte der abendländischen Philosophie, ja des abendländischen Denkens überhaupt gelungen. Kaum ein anderes Werk der Malerei dürfte das Selbstverständnis wie das Selbstbild europäischen Denkens einflussreicher visualisiert und mitgeprägt haben, drängte sich doch allen Betrachtern gleichsam selbstverständlich - wie etwa ein Ernst H. Gombrich herausarbeitete - eine klar formulierte philosophische Aussage auf: Es ist daher nicht merkwürdig, dass viele Bewunderer der Kunst Raffaels sich veranlasst fühlten, ihr Erlebnis zu rationalisieren, indem sie die tiefe Bedeutung, deren Vorhandensein in dem Zyklus sie so intensiv empfanden, in eine nicht minder tiefe philosophische Aussage zu übersetzen suchten. Was sie zu dieser zuversichtlichen Suche anspornte, waren eben jene harmonische Schönheit und der überwältigende Beziehungsreichtum der Komposition. 5 In der Tat ist der in diesem Werk entfaltete Beziehungsreichtum schlicht unabschließbar, erweckt er doch den „Eindruck unerschöpflicher Fülle“. 6 Und doch scheint zugleich von diesem Werk eine zentrale Botschaft auszugehen: die Unbestreitbarkeit der Größe des Abendlands, die hier ins Bild und eindrucksvoll in Szene gesetzt wird. Doch wie lässt sich dieser Beziehungsreichtum begreifen und erfassen? Eine erste Antwort auf diese Frage lautet: Nur unter Einbeziehung dessen, was zu sehen ist, wie dessen, was gerade nicht zu sehen ist, sich also zeigt, ohne uns gezeigt zu werden. Die mit Raffaellos Bildentwurf einhergehenden Bedeutungsprozesse erfassen ausgehend vom Spiel der Sicht- und Blickachsen ebenso die im Fresko ausgetauschten wie die vermiedenen, ja sich wechselseitig ausschließenden Blickbeziehungen, welche dieses gewaltige Gemälde in ein dichtes Geflecht unterschiedlichster Bezüge und Bezugssysteme verwandeln. Gerade auch der Ausschluss von Blickbeziehungen ist signifikant - und zieht die Blicke der Be- 230 DDossier trachterInnen notwendig auf sich. Wie ließe sich etwa die auf den Treppenstufen unterhalb der beiden Zentralgestalten hingestreckte Figur des Diogenes übersehen, die Platon wie Aristoteles ihren Rücken zuwendet und in reichlich ungeordneter, nachlässiger Kleidung zwischen den unterschiedlichen Gruppen von Philosophen gleichsam eine Insel für sich bildet? Situierung und Gestaltung dieser Bewegungs-Figur machen in einem sehr grundsätzlichen Sinne überhaupt erst auf die Bedeutung jener Zwischen-Räume aufmerksam, deren Schaffung nicht weniger konstitutiv für dieses Werk Raffaellos ist als Anlage und Choreographie der Gruppen diskutierender, lesender oder schreibender Philosophen selbst. Achten wir also auf die bedeutungstragende - und dank ihrer Dynamik ständig neue Bedeutungen generierende - Rolle der Zwischen-Räume mit ihren sich hieraus aufbauenden komplexen 7 Vektorisierungen. Unterhalb des am linken Bildrand schreibenden und in seiner Selbstvergessenheit wie Selbstbezogenheit fast in die Architektur verwobenen Epikur hat sich beispielsweise eine hochgradig vektorisierte Gruppe im Rücken des in seine Berechnungen versunkenen Pythagoras gebildet. Auf die Ergebnisse seiner Aufschriften richtet sich dabei nicht allein der Blick einer nicht eindeutig identifizierbaren Gestalt, in der sich vielleicht Empedokles oder Anaximander erkennen lassen, sondern auch das sich in ungeheurer Körperspannung vorreckende dunkle Gesicht eines anderen Philosophen, der sich tunlichst nichts von dem entgehen lassen möchte, was der griechische Mathematiker und Philosoph in konzentrierter Schreibhaltung notiert. In der Gestalt des großen arabischen Philosophen Averroës stoßen wir an dieser Stelle auf eine jener Vermittlerfiguren, welche die Zugangsmöglichkeiten des Renaissancedenkens zur Antike für deren angenommene und angemaßte ‚Wiedergeburt‘ eröffnet haben, so dass hier im asymmetrischen (da nicht erwiderten) Blickkontakt ein Zwischen-Raum entsteht, der in den räumlichen die zeitlichen Dimensionen Relationalität und Dynamik aller Verhältnisse aufscheinen lässt und aus dieser Verbindung von Raum und Zeit ein hochgradig vektorisiertes Bewegungs-Bild entwirft. Dass Raffaello dieser großen arabischen Vermittlerfigur zwischen Abendland und Morgenland in der Stanza della Segnatura des Vatikans nur in bedingtem Maße seine Sympathie entgegenzubringen scheint, soll uns an dieser Stelle in unseren Überlegungen nicht weiter beschäftigen. Auf diese hier in aller Kürze signalisierte Weise entfaltet sich vor dem Auge des am rechten Bildrand situierten Künstlers Raffaello, aus dessen quer zur dominanten Sichtachse liegenden Blickachse sich eine andere Relationalität der verschiedenen Gruppen und Individuen enthüllt, ein hochkomplexes Vektorenfeld, das gewiss als eine hintergründige, wenngleich entschiedene Deutung antiker Philosophie verstanden werden muss. Denn nicht umsonst werden der platonische Entwurf des Timaios und die aristotelische Nikomachische Ethik in zentraler Stellung in Szene gesetzt. Doch eine lineare Geschichte abendländischer Philosophie wird in dieser Schule von Athen nicht vor Augen geführt: Zu unterschiedlich sind die Blickrichtungen, zu asymmetrisch die Beziehungen, zu komplex die Relationen, als dass sich hier im Polylog der Philosophen, der Künstler, der Wissenschaftler und 231 DDossier einiger Politiker eine einzige Geschichte - und wäre es die einer sakralen oder einer profanen Heilsgeschichte - herauskristallisieren ließe. Beruht die jahrhundertelange Faszinationskraft dieser künstlerischen Darstellung nicht gerade auf der strukturellen Offenheit einer Anlage, deren Vieldeutigkeit relational erzeugt wird? Von großer Bedeutung erscheint mir in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass wir die nicht-lineare und auch nicht einfach genealogische Logik der Bildanordnung als eine Choreographie verstehen dürfen, in der Die Schule von Athen eine Landschaft der Theorie 8 entwirft, die für Raffaellos Sichtweise der Antike wie auf die Antike charakteristisch ist. In dieser Landschaft der Theorie bilden einzelne Gruppen, aber auch einzelne Gestalten Inseln und Inselgruppen, die sich zu einer vielbezüglichen archipelischen Landschaft zusammenfügen lassen. Jede der großen Gestalten bildet dabei eine Insel-Welt mit ihrer eigenen Logik, ihrem eigenen Denken, Lesen und Schreiben. Zugleich aber fügt sie sich relational in eine Inselwelt ein, 9 die wiederum mit anderen Inselwelten wie Insel-Welten verbunden ist. Erst so gewinnt der von Ernst H. Gombrich apostrophierte „Beziehungsreichtum“ 10 an epistemologischer Durchschlagskraft. Denn diesseits wie jenseits ihrer Verherrlichung abendländischen Denkens wie auch ihrer Monumentalisierung europäischer Kontinuitäten verweist Raffaellos Kon-Figuration einer Landschaft der Theorie auf eine Potenz polylogischer Deutung und Bedeutung, die seine Scuola di Atene auszeichnet. * * * Im Spannungsfeld des griechischen Archipels, des Namen und Begriff des archipelagus verleihenden Archipels par excellence, präsentiert La scuola di Atene somit eine archipelische und transarchipelische Welt, die keineswegs allein vom Dialog zwischen Platon und Aristoteles bipolar strukturiert wird, sondern sich - und die provozierend hingestreckte Figur des Diogenes macht darauf aufmerksam - auf einen Polylog hin öffnet: nicht allein im Sinne eines ‚Sprechens der vielen‘, sondern weit mehr noch in der komplexen Bedeutung eines viellogischen Sprechens, das der dem Fresko nachträglich gegebene Titel mit seiner Einzahl wohl kaum adäquat wiederzugeben in der Lage wäre. Nicht nur das Vieldeutige, sondern auch das Viellogische wird hier inszeniert, ja in gewisser Weise in seiner Vielverbundenheit kartographiert. Die viellogische Dimension der Schöpfung Raffaellos, die es erlaubt, mit Hilfe eines gleichsam Humboldtschen ‚Totaleindrucks‘ die vielen unterschiedlichen Denkrichtungen und Logiken zugleich und in einem einzigen Bilde zu erfassen, entfaltet sich aus dieser archipelischen Situation, die immer neue Relationen, immer neue Blickachsen, immer neue Symmetrien 11 und Asymmetrien zu erkennen erlaubt und damit zur Bild-Sprache bringt, was schwerlich nur im diskursiven Raum der Philosophie zur Sprache gebracht werden könnte. Die keineswegs geschlossene, dialogische Struktur, sondern die offene, polylogische Strukturierung aller Relationen entsteht dabei aber nicht nur aus dem, was gesehen werden 232 DDossier kann - etwa der von Raffaello angewandten Überblendtechnik, die Platons Gestalt die Züge Leonardo da Vincis verleiht -, sondern gerade auch aus dem, was unsichtbar ist und bleibt, aus dem also, was in dieser Schule von Athen nicht direkt visualisiert wurde und wohl auch nicht visualisiert werden sollte. Zu den in diesem Bildentwurf weitgehend unsichtbar Gebliebenen zählen jenseits jener wenigen und eher am Rand stehenden Figuren, die immerhin von Averroës bis Zarathustra reichen, all jene Relationen, die zwischen griechischer Antike und europäischer Moderne vermittelten. Zu denken wäre etwa an die intensiven Beziehungen zwischen Florenz und Bagdad, 12 zwischen abendländischer und morgenländischer Erzählkunst, aber auch zwischen der christlichen und der jüdischen Geisteswelt oder gerade auch jenen Übersetzern, die sich in der Schule von Toledo um die wechselseitige Anreicherung der unterschiedlichen Kulturen so verdient gemacht haben. Nur wenige Spuren in La scuola di Atene verweisen auf diese Verbindungen und Vermittlungen, auf diese Setzungen und Übersetzungen - und dies, obwohl gerade sie so maßgeblich daran beteiligt waren, dass die Vorstellungen der Antike nicht nur in ein Europa der Frühen Neuzeit transferiert, sondern dort auch transformiert werden konnten. Die Visualisierung Raffaellos schließt die Unsichtbarmachung wichtiger Traditionslinien, die zur Herausbildung eines abendländischen Denkens führten, mit ein. So erscheint auch das von ihm in Szene gesetzte Europa als ein Ergebnis nicht allein einer Fülle von Sichtbarmachungen, sondern auch (s)einer Unsichtbarmachung, insofern mit jeder Inklusion auch Exklusionen vorgenommen werden. Doch wir könnten mit Blick auf diese ‚Schule von Athen‘ und ihre Konstruktion abendländischen Denkens noch grundlegender fragen. Ist denn die Zentralperspektive selbst, deren sich Raffaello hier so meisterhaft bedient, nicht eine jener Erfindungen, die ohne die Beziehungen zwischen der arabischen und der christlich-abendländischen Welt undenkbar gewesen wären? Und wäre die Zentrierung der Welt in der Kartographie, etwa in der berühmten Weltkarte des Juan de la Cosa (Abb. 2), die im Jahre 1500 und damit gerade ein Jahrzehnt vor Raffaellos großem Werk entstand, nicht undenkbar geblieben, hätte die Erfindung der Zentralperspektive nicht zuvor die Grundlagen dafür geschaffen, in einer quasi ‚natürlichen‘ Perspektivierung die Kartennetze Europas über die gesamte Welt auszuwerfen? Was unsichtbar bleibt, ist damit in die Machart, in die Technik, in die Perspektivik des Gemäldes selbst schon eingewoben: eine allgegenwärtige Unsichtbarkeit, die doch in der zentralperspektivischen Ausrichtung aller Sichtachsen deutlich zum künstlerischen Ausdruck drängt und findet. Das Fresko visualisiert damit die Bedingungen seiner eigenen Schöpfung, seiner eigenen Findung und Erfindung in einer zentrierenden Perspektivierung, die sich stolz in eine Tradition abendländischen Denkens stellt, ohne doch die Komplexität und Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Präsenz und Projektion, ihrer eigenen Genese und Genealogie verbergen zu können. So wird gezeigt, worauf nicht gezeigt wird. Denn viele Stufen der monumentalen Treppe bleiben frei und signalisieren dadurch - und sei es entge- 233 DDossier gen aller Intention des Künstlers - jenen Frei-Raum, der als Zwischen-Raum gerade das erst semantisiert, was in den Vordergrund gerückt wird. Erst durch die Distanzierung entsteht eine wirkliche Relation - und nicht zuletzt auch und gerade dann, wenn wie im Falle des Diogenes oder des Epikur die Blickverbindungen zu anderen Philosophen augenscheinlich unterbleiben. Wendet man sich vorzüglich der zentralen Sichtachse und der nur auf den ersten Blick rein bipolaren Struktur des Aufbaus von La scuola di Atene zu, dann scheinen wir es mit einer ein für allemal fixierten, fest-gestellten Konstellation zu tun zu haben, die unverrückbar an einem stabilen und statischen Koordinatensystem ausgerichtet ist. Wer weiß sich auf der Seite des Platon, wer auf der Seite des Aristoteles? In einer solchen statischen Raumaufteilung sind die Rollen und die Positionen scheinbar fest verteilt, wobei die Zwischen-Räume zwischen den Figuren und Gruppen entscheidend dazu beitragen, dass in sich klar skizzierte Konstellationen entstehen. Geometrie und Statik 13 einer solchen Anlage springen gleichsam ‚natürlich‘ ins Auge und können zugleich mit Hilfe einer graphischen Datenverarbeitung in einem geometrischen Rasterbild 14 zur Anschauung - und zugleich zu einem völligen Stillstand - gebracht werden. Damit entstehen Flächen, die innerhalb ihrer Koordinaten Kontinuitäten zeugen und jegliche Bewegung auszuschließen scheinen. Mit dem Rasterbild einer fest-gestellten Konstellation aber ließe sich nur ein zweifellos wichtiger, aber letztlich vordergründiger Sinn erfassen, welcher die dynamische Polysemie dieses Kunstwerks nicht ausleuchten könnte. Nehmen wir aber das dichte Geflecht der unterschiedlichsten Blickachsen und der mit ihnen verbundenen Symmetrien und vor allem Asymmetrien hinzu, so ergibt sich eine Vektorisierung, die bei genauerem Hinsehen nicht nur im Bildausschnitt um Averroës und Pythagoras offenkundig ist, sondern alle Figurengruppen und Figuren dieses Freskos ausnahmslos erfasst. Alle Gestalten werden zu Bewegungsfiguren, Abb. 2: Weltkarte von Juan de la Cosa 234 DDossier die in ihrer komplexen Relationalität allesamt miteinander verbunden sind - wenn auch nicht alle mit allen zum gleichen Zeitpunkt. Blickbewegungen, aber auch Körperhaltungen und Gesten erzeugen einen im höchsten Maße vektorisierten Bewegungs-Raum, innerhalb dessen sich die festen Konstellationen nun als mobile Konfigurationen erweisen. In diesen Kon-Figurationen kommen komplexe Choreographien zum Ausdruck, wobei die Rahmung aller Figuren durch eine monumentale Architektur aus der dadurch erzeugten Spannung einen hohen Bewegungskoeffizienten erzeugt. Wenn die Zwischen-Räume auf der einen Seite die einzelnen Konstellationen voneinander trennen, so verbinden sie nun auf der anderen Seite als Spiel-Räume die untereinander in Beziehung stehenden Figuren und Figurengruppen. Die Zwischen-Räume bilden als Spiel-Räume das verbindende Element: Sie generieren hintergründig jene Allgegenwart, auf deren Folie sich die figurae als Bewegungsfiguren abzeichnen, die im Medium der Malerei in ihren Bewegungen selbst (nur vorübergehend) stillgestellt worden sind. Konstellationen und Konfigurationen bilden voneinander unterschiedliche Logiken aus, welche zugleich wechselseitig miteinander verbunden sind und folglich zusätzliche relationale Logiken entfalten. Die figura des Diogenes macht dabei in besonderer Weise deutlich, wie sehr die Zwischen-Räume ihrerseits gleichsam Kippfiguren bilden, die sich einmal scharf voneinander abzutrennen, aus anderer Blickrichtung aber intensiv miteinander zu verbinden vermögen. Diogenes wie Epikur bilden Insel-Welten einer jeweils spezifischen Eigen-Logik, die gleichwohl mit den Inselwelten des griechisch geprägten Denk-Archipels innigst verbunden sind. Die spezifischen Eigen-Logiken einer jeweiligen Insel-Welt werden auf die relationalen Logiken der Inselwelten bezogen und zugleich in eine Vielbezogenheit integriert, die jenseits der internen Relationalitäten auch externe Beziehungen aufbaut, ohne dass dabei die Eigen-Logiken der unterschiedlichen Insel-Welten beseitigt würden - eine komplexe Relationalität, wie sie etwa auch das Verhältnis der sogenannten ‚Schule von Athen‘ mit den anderen Schöpfungen Raffaellos in den päpstlichen Gemächern charakterisiert. Die Eigen-Logiken einer bestimmten Insel-Welt, einer bestimmten Welt-für-sich, werden gerade dadurch gestärkt, dass jeweils spezifische Beziehungen innerarchipelischer oder transarchipelischer Natur entwickelt werden. Die Präponderanz etwa einer externen Relationalität, wie sie Ernst H. Gombrich mit Blick auf die ‚Stanza della Segnatura‘ vorschlägt, verletzt daher die Kopräsenz unterschiedlicher Logiken, wie sie etwa die Wechselbeziehungen zwischen interner und externer Relationalität im Zyklus des Raffaello auszeichnet. 15 Diese innerarchipelische und transarchipelische, mithin verschiedene Inselwelten durchlaufende Vektorizität lässt so zwischen den Figuren und Gruppen als Inseln und Inselgruppen jene archipelische Landschaft der Theorie entstehen, die archipelisch nur insofern sein kann, als sie auf jene Zwischen-Räume zurückzugreifen vermag, die zugleich trennen und verbinden, die zugleich feststellen und wieder in Bewegung setzen, die zugleich Konstellationen und Konfigurationen sind. Jedwede Relation, jedwede Verbundenheit setzt Distanz und Distanzierung 235 DDossier voraus, mit deren Hilfe das Diskontinuierliche die Zwischen-Räume immer wieder neu vektorisiert, immer wieder neu konfiguriert, immer wieder neu semantisiert, um im Archipel dem Sinn die Sinne mitzugeben. Vergessen wir dabei nicht, dass wir das Lexem ‚Archipel‘ zwar sehr wohl als ‚Inselgruppe im Meer‘ definieren dürfen, dass sich die Etymologie dieses Begriffs aber gerade nicht auf das Land, auf die Inseln bezieht, sondern auf das ‚große Gewässer‘ zwischen ihnen, auf jene Zwischen-Räume also, welche dieses ‚Archi- Gewässer‘ oder das hauptsächliche Meer - zunächst in der Ägäis - zwischen den Inseln bildet. 16 In einem stets präsenten etymologischen Sinne also meinen das Archipelische und der archi-pelagus das flüssige, bewegliche Element, das jede Insel von der anderen trennt, zur Insel-Welt mit ihrer Eigen-Logik gerinnen lässt, zugleich aber jene umfassende Inselwelt hervorbringt, in der alles mit allem (wenn auch niemals zugleich) verbunden ist. Es geht, um es noch einmal deutlich zu sagen, nicht darum, Konfigurationen an die Stelle von Konstellationen zu setzen, sondern um ein Denken von verschiedenen Logiken zugleich. So sind es auf den frühneuzeitlichen Weltkarten der Europäer auch die Meere, die großen Gewässer, welche den verschiedenen Kontinenten und Archipelen - und gerade auch jenen der sogenannten ‚Neuen Welt‘ - ihre mobilen Konturen geben, sie definieren (mithin abgrenzen) und zugleich doch miteinander in Beziehung setzen. Auch hier werden die Konstellationen dieser Kontinente auch zu Konfigurationen, insofern sie sich als Bewegungsfiguren verstehen lassen, die vom Meer, dem trennenden und verbindenden Element, miteinander in Verbindung gesetzt werden. Die Archipele aber sind auf diesen Karten einer sich rundenden, einer zunehmend global gedachten und globalisierten Welt die Bewegungs-Räume höchster Vektorizität: Sie werden zu jenen Zwischen-Räumen größtmöglicher Vielverbundenheit, die sich nicht allein auf eine interne Relationalität innerhalb eines Archipels (und damit innerarchipelisch) zu stützen wissen, sondern gerade auch die externe Relationalität (und damit eine transarchipelische Dimension) umfassen. Interne und externe Relationalität sind dabei grundlegend aufeinander bezogen. So kann uns La scuola di Atene folglich auf sehr anschauliche Weise lehren, wie sich in einer archipelischen Landschaft der Theorie die Diskontinuitäten, die durch die Zwischen-Räume geschaffen werden, hin auf Relationalitäten öffnen, welche in ihrer Vielverbundenheit nicht bloß ein vielstimmiges, sondern weit mehr ein viellogisches Denken heraufführen, das innerhalb eines fest-gestellten Rahmens die unterschiedlichsten Choreographien erlaubt. Gewiss: Die Schule von Athen verbirgt in nicht geringem Maße die Schule von Toledo und damit jene Kunst des Übersetzens, die stets auch eine Kunst des Über setzens (mithin von einem Ufer an ein anderes Hinübersetzens) ist. Entscheidend für die Entstehung einer derartigen offenen Strukturierung, für die Entfaltung einer polylogischen Komplexität aber sind jene auf den ersten Blick unsichtbaren Zwischen-Räume, jene Bewegungs-Räume zwischen den Inseln, die auf eher hintergründige, untergründige Weise gleichsam das Geflutete, das Über- 236 DDossier schwemmte, das unter der Wasseroberfläche Liegende verkörpern und in ihrer Unsichtbarkeit sichtbar und denkbar machen. Im Archipel zählen folglich nicht allein die Inseln, sondern gerade auch das, was scheinbar nicht erscheint, aber dennoch da ist und in seiner allgegenwärtigen Abwesenheit unter der Wasseroberfläche verborgen liegt. * * * Von Raffaellos La Scuola di Atene und damit dem illustren mapping abendländischen Denkens ist es nur ein kleiner Schritt zur Kartographie Europas. Und diese Kartographie lässt sich vereinfachend in zwei Traditionslinien unterteilen: zum einen in die (majoritäre) Darstellung Europas als Kontinent und zum anderen in dessen (minoritäre) Repräsentation als Inselwelt, als Archipel. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine wichtige, wenn auch weniger bekannte Tradition der Repräsentation des Wissens von der Welt an Signifikanz, die zwischen dem Ausgang des 15. und dem Übergang zum 17. Jahrhundert ihre eigentliche Blütezeit erlebte. Sie ist als Gattung mit der Bezeichnung Isolario oder Insel- Buch verknüpft und lässt sich vorrangig einer italienischen Tradition (insbesondere der Seemacht Venedig) zuordnen. 17 Die Form des Isolario, wie sie sich historisch parallel zu den bereits erwähnten Kartenwelten eines Juan de la Cosa, aber auch den Arbeiten Raffaellos zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelte, lässt sich als eine Anordnungsform von Wissen begreifen, die das zeitgenössische Wissen von der Welt in einer zur kontinentalen Darstellungsweise sicherlich komplementären, zugleich aber auch alternativen Form als verräumlichte Epistemologie einer anderen Sichtbarmachung zuführte. Der Reigen großer venezianischer Insel-Bücher wurde von Bartolomeo dalli Sonetti eröffnet, der im Jahre 1485 einen Isolario über die Inseln der Ägäis veröffentlichte, welcher aus 49 Karten von Inseln sowie ebenso vielen den jeweiligen Insel-Karten zugeordneten Sonetten bestand. 18 Ohne an dieser Stelle auf die spezifischen Formen der Entfaltung des Isolario und auf dessen Zusammenhänge mit der ersten Phase beschleunigter Globalisierung eingehen zu können, 19 sei doch betont, auf welch fundamentale Weise ein Verständnis Europas als Archipel in der frühneuzeitlichen Kartographie neue Möglichkeiten, Europa zu denken, eröffnete, um mit Blick auf den ‚Kontinent‘ eine andere Landschaft der Theorie zu entwerfen. Dies erfolgte just zu jenem Zeitpunkt, als sich Europa im Zeichen seiner erfolgreichen Expansion innerhalb eines von der Alten Welt her globalisierten planetarischen Zusammenhangs anders - und dies heißt: von seiner zunehmend dominanten Stellung her - zu denken und zu deuten begann. Bereits im Bewusstsein dieser Vorherrschaft und einer von Europa ausgehenden Erkundung weltweiten Zuschnitts legte Benedetto Bordone 1528 sein eigenes Insel-Buch vor, jenen höchst erfolgreichen Isolario (Abb. 3), der für sich in Anspruch nehmen durfte, eine ganze Welt von Inseln in weltweiter Projektion entworfen zu haben. 20 Die drei sehr ungleichen Teile seines einflussreichen Kartenwerkes widmeten sich der atlantischen Inselwelt einschließlich des Baltikums (29 237 DDossier Karten), der Inselwelt des Mittelmeers (43 Karten) sowie den Inseln des Fernen Ostens (10 Karten), wobei sich die beigefügten Texte gleichsam landeskundlich darum bemühten, Informationen zur geographischen Lage, zu Klima und Geschichte, zur Bevölkerung, zu Fauna oder Flora und vielen weiteren Aspekten von allgemeinem Interesse bereitzustellen. Schematische Zeichnungen zur Gradeinteilung der Erdkugel, Angaben zu den Wendekreisen sowie zur Schiefe der Ekliptik des Globus, zur Segmentierung der Windrose in Antike und Gegenwart, aber auch Überblickskarten von Europa, dem östlichen Mittelmeer sowie der gesamten zum damaligen Zeitpunkt bekannten Welt runden Bordones Isolario ab und vermitteln dem zeitgenössischen Leser - und darin dürfte die Attraktivität des Werkes gelegen haben - ein anschauliches und farbenfrohes Bild unseres Planeten. Unübersehbar wird zugleich, wie die europäischen Kartennetze nun den gesamten Planeten erfassen und in die gleiche Spatialität und Temporalität hineinzwingen. Bordones Insularium ist bei aller Informationsfülle ein Imaginarium, in dem sich die europäischen Vorstellungen von der Welt reflektieren. Finden und Erfinden gehen bei Bordone Hand in Hand; in seinem Isolario entwirft der zuvor als Miniaturenmaler tätige Künstler eine Welt, in der in den Begleittexten die unterschiedlichsten Lebensformen und Lebensnormen kopräsent sind und diskontinuierlich aufeinanderprallen. Anders als die am Kontinentalen, Kontinuierlichen und buchstäblich Zusammenhängenden ausgerichteten Kartenwerke zielt Bordones Kartographie auf eine Welt des Unzusammenhängenden, Diskontinuierlichen und auf die Entwicklung einer multiperspektivischen Sicht, die Differenzen nicht tilgt. Das Beispiel des transatlantischen Teils seines neuen mapping mag dies verdeutlichen. Denn hier zerfällt nicht nur Europa in unterschiedliche Teil-Inseln. An die jeweils mit ausführlichen Textteilen versehenen Karten von Island, Irland, Süd- Abb. 3: Bordone, Isolario 238 DDossier england, von der Bretagne, Nordwestspanien und Skandinavien schließen sich die nicht weniger textuell eingebetteten Karten von Nordamerika und des Nordatlantik, der Stadt Temistitan (also das spätere México), von Zentral- und Südamerika, Hispaniola, Jamaica, Cuba sowie weiterer karibischer Inseln an, bevor wir über Porto Santo, Madeira, die Kanarischen Inseln, die Kapverden und die Azoren endlich wieder die Bucht von Cádiz in Südspanien und damit die Alte Welt in einem sich schließenden Kreis erreichen. Auch die Kontinente werden archipelisiert, werden in eine offene Relationalität eingebracht, in welcher sich die Logik einer Insel-Welt stets mit der Logik weitgespannter Inselwelten verknüpft. Auch transarchipelische, die Archipele unterschiedlicher Weltteile verknüpfende Beziehungen werden erkennbar. So wird nicht nur mit Blick auf Labrador, Zentralamerika, México oder Südamerika, sondern auch auf Skandinavien, das spanische Galizien oder die kontinentaleuropäische Bretagne eine Welt modelliert, die sich aus den verschiedenartigsten Größen, Lagen und Formen von Inseln zusammensetzt. Eine hochgradig fragmentierte, gleichsam zersplitterte Welt wird vor Augen geführt: eine „Welt in Stücken“, 21 die sich nur schwerlich einer einzigen Logik unterwerfen lässt. Das Modell für diese Welt - wie sollte es anders sein? - bot die Stadt Venedig, deren kartographische Darstellung 22 kaum kleiner als die gesamte Weltkarte Bordones ausfiel, wobei die Insel-Stadt mit ihren funktional so unterschiedlichen Inseln als Fraktal der gesamten Welt verstanden werden kann. Urbi et orbi: Venedig wird als ein anderes Rom zum Mikrokosmos einer transarchipelischen Welt, in welcher jede Insel ihre Eigen-Logik, ihren Eigen-Sinn behält. Wie sehr auch dieser transarchipelische Entwurf der Welt mit europäischen Machtansprüchen verknüpft und in die Expansionsgeschichte Europas verwickelt ist, muss an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. 23 Entscheidend aber ist, wie sich in der langen Traditionslinie des Isolario und seiner Kartographien einer archipelischen Welt andere, vielperspektivische und vielverbundene Deutungsmuster nicht nur konstellieren, sondern weit mehr noch konfigurieren: Deutungsmuster, die in ihrer relationalen, polylogischen Strukturierung als Landschaften der Theorie eine andere Weltsicht vor Augen führen. Diese ist nicht an statischen Geometrien der Macht und nicht an ein für allemal fixierten Hierarchien der Abhängigkeit ausgerichtet, sondern eröffnet die Formen (und Normen) eines archipelischen, eines fraktalen Denkens, das in einer veränderten Landschaft der Theorie das Diskontinuierliche zu imaginieren und zu durchdenken vermag, ohne es auf Kontinuitäten zu reduzieren. Die verschiedenartigen Logiken eines Denkens, das Europa als Kontinent wie als Archipel zu entwerfen vermag, demonstrieren die Gleichzeitigkeit, die Ko- Existenz gegensätzlicher Entwürfe, welche sich aber auch als Konvivenz, als ein Zusammen-Leben der unterschiedlichen Logiken vorstellen lässt. Nicht nur im Bereich der Kunst, nicht nur im Bereich der Kartographie. Erich Auerbach hat in seinem zwischen Mai 1942 und April 1945 im Istanbuler Exil entstandenen Hauptwerk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass diese von ihm durchaus 239 DDossier folgenreich konstruierte „abendländische Literatur“ von zwei Traditionssträngen durchzogen wird, die man sehr wohl als kontinental beziehungsweise als inselhaftarchipelisch bezeichnen könnte. Denn wenn uns der „biblische Erzählungstext“ den totalen Anspruch einer „Weltgeschichte“ bietet, die „mit dem Beginn der Zeit, mit der Weltschöpfung“ beginnt und „mit der Endzeit“ enden soll, dann zeigen uns die „homerischen Gedichte“ einen „bestimmten, örtlich und zeitlich begrenzten Ereigniszusammenhang“, neben dem auch andere, von ihm teilweise oder völlig unabhängige Ereigniszusammenhänge „ohne Konflikt und Schwierigkeit denkbar“ sind. 24 Beide Traditionslinien zielen zwar auf die diskursive Gestaltung einer Totalität, der Gesamtheit unserer Welt, doch bietet uns die Welt Homers gleichsam fraktal ein Verstehensmodell an, das archipelisch anderen Welten gegenüber offen ist, während das Alte Testament nur eine einzige Deutung und kein Außerhalb der Heilsgeschichte kennt. Für Auerbachs Ansatz und dessen narrative Umsetzung in Mimesis ist dabei entscheidend, dass sich diese beiden Traditionslinien innerhalb der abendländischen Literatur immer wieder wechselseitig überlagern. Die größere Sympathie des deutschen Romanisten für die strukturelle Offenheit der homerischen Gesänge blieb dabei nicht ohne Folgen, weist die Aufteilung in voneinander getrennt lesbare Kapitel in Mimesis doch die offene Strukturierung eines Archipels auf, die Auerbach nicht nur auf den Istanbuler Prinzeninseln, sondern 1938 - übrigens im selben Jahr wie Roland Barthes - auch auf einer Fahrt durch die Inseln der Ägäis erleben durfte. Wollten wir die Auerbach’sche „Philologie der Weltliteratur“ 25 nicht auf ein wie auch immer gestaltetes Konzept einer neuen „Weltliteratur“ 26 erweitern, sondern auf transareal zu konzipierende Literaturen der Welt hin perspektivieren, so wäre es von grundlegender Bedeutung, jene Chancen und Potenziale, jene Risiken und Nebenwirkungen auszuleuchten, welche uns die polylogische Strukturierung dieser niemals auf einen Ursprung, auf eine Herkunft, auf eine Kultur oder Sprache zu reduzierende Vielfalt darbietet. Die so unterschiedlichen Welten des Gilgamesch- Epos 27 und des Shijing 28 belegen nur als kulturhistorisch wie medienästhetisch besonders herausragende Beispiele verschriftlichter und zirkulierter Texte, dass die Literaturen der Welt von ihren ‚Anfängen‘ an, die stets auf andere Anfänge verweisen, nicht allein viellogisch sind, sondern zugleich auch vielsprachig; dass sie nicht nur von ihren Herkünften her über die unterschiedlichsten ästhetischen Ausdrucksformen verfügen, sondern stets durch ihre Vieldeutigkeit, durch ihre niemals zu disziplinierende Polysemie nach Kommentaren und Deutungen, nach Fortschreibungen und Überschreibungen verlangen, die ihrerseits wieder die Komplexität dieses polylogischen Systems der Literaturen der Welt erhöhen. Auch hier ist eine Kunst des Übersetzens wie des Übersetzens von zentraler Bedeutung, enthalten und entfalten doch die Literaturen der Welt ihr polylogisches System nur insofern, als sie durch die Querung der Zeiten, der Räume, der Kulturen und der Sprachen ihre Transkulturalität immer wieder erproben und erweitern. 240 DDossier Von ihren vielen Anfängen her geht es in den Literaturen der Welt um die Frage nach der Konvivenz: um die Frage eines Zusammenlebens der Menschen mit den Göttern, mit anderen Menschen, mit den Tieren, den Pflanzen und den Dingen - im Angesicht einer Welt, die in ihren so unterschiedlichen historischen Kontexten stets von neuem ein Zusammenleben in Frieden und Differenz - und damit auch ein Überleben des Menschen - in Frage stellt. 29 Mit guten Gründen hat Roberto Esposito argumentiert, die Frage nach der Gemeinschaft habe den Charakter „des fundamentalen Problems“ angenommen, „das die politische Philosophie zu interpretieren und zu lösen angehalten ist“. 30 Im Verwobensein der unterschiedlichsten Logiken entwerfen die Literaturen der Welt ein Wissen vom Leben im Leben und für das Leben, ein Lebenswissen, 31 das sich nicht disziplinieren und in kein regelkonformes Wissen einer Disziplin überführen lässt. Diese polylogische Strukturierung versetzt uns in die Lage, einer einzigen Deutung der Geschichte, einer einzigen Deutung Europas zu entkommen und aus dem Bewusstsein verschiedener Logiken zugleich Europa nicht allein als einen Kontinent, sondern als einen viellogischen, vielsprachigen, vielkulturellen Archipel zu begreifen - als eine Teil-Welt, die sich nicht einer einzigen Bewegung, einer einzigen Sinngebung, einer stabilen Geometrie der Macht wie der Möglichkeiten unterwirft. Wenn wir Europa nicht nur in Bewegung, 32 sondern zugleich als Bewegung 33 verstehen, dann entfaltet sich der Mythos (von) Europa auf neue, prospektive Weise. Denn am Anfang von Europa stand das Begehren: das Spiel von Verführung und Entführung, die Spannung von Verpflanzung und Fortpflanzung, die Bewegung zwischen Eingrenzung und Ausgrenzung, Begrenzung und Entgrenzung. Europa, die schöne Okeanide und Namensgeberin eines Kontinents mit instabilen Grenzen, eines Kontinents, der niemals einer war, ist von kontinentaler und im Grunde außereuropäischer Herkunft: Sie ist das Opfer einer göttlichen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Vergewaltigung und Deportation - und ihr Vergewaltiger wurde niemals belangt. Die Reise der Europa auf dem Rücken jenes Stieres, in den sich ein liebeshungriger Zeus verwandelt hatte, erfolgte ebensowenig aus freien Stücken wie jene Vereinigung mit dem Göttervater, mit dessen Geschichte die Geschichte des Okzidents erst ihren mythischen Anfang nahm. Eine Geschichte, die vom Begehren diktiert wird: dem Begehren nach dem Anderen, dem Begehren nach der Anderen, ja selbst dem Begehren nach einem anderen Europa. Das Spiel der Schönen am Strand, an der Grenze von Land und Meer, hatte Folgen: Und vergessen wir nicht, dass die Geschichte dieser Migrantin auch die Geschichte einer Reise vom Kontinent zur Insel war. Europa, der selbsterklärte und selbsterklärende Kontinent, ist ein Archipel: bestehend aus vielen Inseln und dem Meer, das trennt und verbindet, verhüllt und enthüllt - ein Kontinent, der lernen muss, sich transarchipelisch zu denken. 241 DDossier 1 Cf. Ernst H. Gombrich, „Die Symbolik von Raffaels ‚Stanza della Segnatura‘“, in: id., Das symbolische Bild. Zur Kunst der Renaissance II. Stuttgart, Klett-Cotta, 1986, 104-124. 2 Einen guten Überblick bietet Marcia Hall (ed.), Raphael’s ‚School of Athens‘, Cambridge, Cambridge University Press, 1997. 3 Cf. Glenn W. Most, Raffael. Die Schule von Athen. Über das Lesen der Bilder, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch-Verlag, 1999. 4 Cf. Ralph E. Lieberman, „The Architectural Background“, in: Marcia Hall (ed.), Raphael’s ‚School of Athens‘, 64-84. 5 Ernst H. Gombrich, „Die Symbolik von Raffaels ‚Stanza della Segnatura‘“, 124. 6 Ibid. 7 Diese Komplexität ergibt sich auch aus der Tatsache, dass La scuola di Atene selbstverständlich auch im Zusammenhang mit der künstlerischen Gestaltung der gesamten Räumlichkeiten und keinesfalls isoliert zu sehen ist; cf. hierzu Marcia Hall, „Introduction“, in: id. (ed.), Raphael’s ‚School of Athens‘, 1sq. Auf diese Notwendigkeit einer zusammenhängenden Interpretation hatte in seinem Forschungsrückblick auch bereits Gombrich verwiesen („Die Symbolik von Raffaels ‚Stanza della Segnatura‘“, 104sq). 8 Cf. zum Begriff der ‚Landschaft der Theorie‘ Ottmar Ette, Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur, Berlin, Walter Frey, edition tranvía, 2013, 36-46; sowie id., Roland Barthes. Landschaften der Theorie, Konstanz, Konstanz University Press, 2013. 9 Zur Begrifflichkeit des Insularen und Archipelischen cf. auch Ottmar Ette, „Insulare ZwischenWelten der Literatur. Inseln, Archipele und Atolle aus transarealer Perspektive“, in: Anna E. Wilkens / Patrick Ramponi / Helge Wendt (ed.), Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung, Bielefeld, transcript, 2011, 13-56. 10 Ernst H. Gombrich, „Die Symbolik von Raffaels ‚Stanza della Segnatura‘“, 124. 11 Cf. Konrad Oberhuber, Polarität und Synthese in Raphaels ‚Schule von Athen‘, Stuttgart, Urachhaus, 1983. 12 Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München, C. H. Beck, 2008. 13 Richard Fichtner, Die verborgene Geometrie in Raffaels ‚Die Schule von Athen‘, München, Oldenbourg,1984. 14 Cf. Guerino Mazzola / Detlef Krömker / Georg Rainer Hofmann, Rasterbild - Bildraster. Anwendung der Graphischen Datenverarbeitung zur geometrischen Analyse eines Meisterwerks der Renaissance: Raffaels ‚Schule von Athen‘, mit 20 farbigen und 40 schwarzweißen Abbildungen, Berlin / Heidelberg, Springer, 1987. 15 So schrieb Gombrich: „Diese Verwandtschaft mit herkömmlichen Zyklen macht es klar, dass die nicht zerstückelt werden können, ohne ihren symbolischen und künstlerischen Sinn einzubüßen“ („Die Symbolik von Raffaels ‚Stanza della Segnatura‘“, 107sq.). Die Hierarchisierung eines Sinns ist hier unverkennbar. 16 Cf. hierzu Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Elmar Seebold, 23., erweiterte Auflage, Berlin / New York, de Gruyter, 1999, 51. 17 Cf. hierzu Silvana Serafin, „Immagini del mondo coloniale nella cultura veneziana dei secoli XVI e XVII“, in: Rassegna Iberistica, 57, Juni 1996, 39-42. 18 Cf. Tom Conley, „Virtual Reality and the ‚Isolario‘“, in: Annali d’Italianistica, 14, 1996, 121. 19 Cf. hierzu ausführlich Ottmar Ette, TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte, Berlin / Boston, de Gruyter, 2012, 63-78. 242 DDossier 20 Benedetto Bordone, Libro di Benedetto Bordone nel qual si ragiona de tutte l’isole del mondo, con li lor nomi antichi & moderni, historie, favole, & modi del loro vivere & in qual parte del mare stanno, & in qual parallelo & clima giacciono. Con il breve di papa Leone. Et gratia & privilegio della Illustrissima Signoria com’ in quelli appare, Vinegi [Venezia] per Nicolo d’Aristotile, detto Zoppino, 1528. Im folgenden beziehe ich mich auf diese Ausgabe, die überdies als elektronische Fassung 2006 im Harald Fischer Verlag in Erlangen erschien. 21 Cf. Clifford Geertz, Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, aus dem Englischen übersetzt von Herwig Engelmann, Wien, Passagen Verlag, 1996. 22 Benedetto Bordone, Libro, Bl. XXX; cf. hierzu auch Robert W. Karrow, Mapmakers of the sixteenth century and their maps, Chicago, Speculum Orbis Press, 93. 23 Cf. hierzu Ette, TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte, 72. 24 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern / München, Francke, 7 1982, 18. 25 Cf. Erich Auerbach, „Philologie der Weltliteratur“, in: Walter Muschg (ed.), Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich, Bern, Francke, 1952, 39-50; wieder aufgenommen in Erich Auerbach, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, herausgegeben von Fritz Schalk und Gustav Konrad, Bern / München, Francke, 1967, 301-310. 26 Cf. u. a. Pascale Casanova, La République mondiale des Lettres, Paris, Seuil, 1999; David Damrosch, What Is World Literature? Princeton / Oxford, Princeton University Press, 2003; oder Elke Sturm-Trigonakis, Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2007. 27 Cf. hierzu das Nachwort zur deutschsprachigen Ausgabe Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt und kommentiert von Stefan M. Maul, München, C. H. Beck, 2005. 28 Cf. hierzu Stephen Owen, „Reproduction in the ‚Shijing‘ (Classic of Poetry)“, in: Harvard Journal of Asiatic Studies, LXI, 2, 2011, 287-315. 29 Cf. hierzu Ottmar Ette, ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab, Berlin, Kadmos, 2010, sowie aus anderer Perspektive Alain Caillé, Pour un manifeste du convivialisme, Lormont, Le bord de l’eau, 2011; id. / Marc Humbert / Serge Latouche / Patrick Viveret (ed.), De la convivialité: dialogues sur la société conviviale à venir, Paris, La Découverte, 2011, sowie Frank Adloff / Claus Leggewie, Les Convivialistes. Das konvivialistische Manifest: Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, Bielefeld, transcript, 2014. 30 Roberto Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, aus dem Italienischen von Sabine Schulz und Francesca Raimondi, Zürich / Berlin, diaphanes, 2004, 20. 31 Cf. Ottmar Ette, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin, Kadmos, 2004. 32 Cf. Klaus Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München, C. H. Beck, 2000. 33 Cf. Ottmar Ette, „Europa als Bewegung. Zur literarischen Konstruktion eines Faszinosum“, in: Dieter Holtmann / Peter Riemer (ed.), Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung, Münster / Hamburg / Berlin / London, LIT, 2001, 15-44.