eJournals lendemains 35/140

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Narr Verlag Tübingen
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2010
35140

OULIPO: Projekte des Romans nach der Moderne – jenseits des Nouveau Roman

2010
Jörn Steigerwald
ldm351400007
7 Dossier Jörn Steigerwald (ed.) OULIPO Projekte des Romans nach der Moderne - jenseits des Nouveau Roman Jörn Steigerwald Einleitung In der Literaturgeschichte der französischen Nachmoderne nehmen die Werke der Autorengruppe, die sich im Ouvroir de la littérature potentielle (OULIPO) versammelte, eine eher randständige Position ein. Betrachtet man etwa die einschlägigen Referenzwerke der deutschen Romanistik, wie den von Wolfgang Asholt herausgegebenen Interpretations-Band 20. Jahrhundert: Roman oder die von Jürgen Grimm herausgegebene Französische Literaturgeschichte, dann wird man vergeblich nach längeren Auslassungen zu diesen Romanen suchen, die allenfalls noch in den bibliographischen Angaben zu finden sind. 1 Eine intensive Auseinandersetzung mit den Romanen des OULIPO scheint sich, zumindest auf den ersten Blick, nicht zu lohnen. Dem gemäß wird die Situation im literarischen Feld nach 1945 vorzugsweise durch die anfängliche Opposition zwischen den existentialistischen Romanautoren (Sartre, Camus) und den Nouveaux Romanciers (Alain Robbe-Grillet, Michel Butor, Nathalie Sarraute etc.) geprägt, die schließlich ab den späten 1960er Jahren, d.h. mit dem Übergang vom Nouveau Roman zum Nouveau Nouveau Roman, durch die Dominanz der letzteren Gruppe beendet wird, da allein diese eine der Nachmoderne bzw. Postmoderne adäquate Schreibweise ausgebildet haben, die sowohl der Komplexität ihrer Gegenwart als auch den Anforderungen an das literarische Schreiben entspricht. Dem gegenüber sind die Texte der Oulipiens zu vernachlässigen, da sie dem gängigen Vorurteil nach vorzugsweise von spielerischen Verfahren der literarischen Gestaltung geprägt sind, die eher als Anleitung zu einem didaktisch aufbereiteten ‘ creative writing’ fungieren können, denn als produktiver Beitrag zu einem literarischen Projekt der Nachmoderne zu verstehen sind. Diese Ansicht resultiert indes in nicht geringem Maße aus dem Fokus auf die Lyrik der Oulipiens sowie auf deren Kurzprosa, insbesondere die notorischen Exercices 8 Dossier de style von Raymond Queneau, mithin, aus der Hintanstellung der Romane dieser Autorengruppe. 2 Versucht man die Situation des literarischen Feldes der französischen Nachmoderne vom aktuellen Standpunkt aus zu systematisieren, dann fällt auf, dass die Diskussionen um Moderne und Postmoderne, die insbesondere die Theoriebildungen der 1970er bis 1990er Jahre prägten, nun selbst historisch geworden sind, wodurch auch die damals vorgenommenen Kategorisierungen erneut zu problematisieren sind. Verkürzt gesagt, beruht der Erfolg des Nouveau Roman und seiner Fortschreibungen in der akademischen Welt nicht zuletzt darauf, dass er von Anfang an vom Aufstieg einer komplementären Literaturkritik begleitet wurde, so dass sich beide gegenseitig stützen konnten, wie etwa das - durchaus von Spannungen geprägte, aber nach außen hin klar fokussierte - gemeinsame Interesse von Alain Robbe-Grillet und Roland Barthes in den 1950er Jahren und späterhin von Robbe-Grillet und Jean Ricardou augenfällig zeigen: Nouvelle Critique und Nouveau Roman gingen bewusst eine Allianz ein, um sich vom traditionalistischen resp. realistischen Roman abzuwenden und einer spezifischen Form des Erzählens sowohl auf der Ebene der Theoriebildung als auch auf der Ebene der Schreibpraxis den Weg zu ebnen. Die Schlagworte, mit denen dieser Weg eingeschlagen und auch weitgehend erfolgreich beschritten wurde, sind zu bekannt, um sie nochmals im Einzelnen zu benennen, doch ist ihnen allen gemeinsam, dass sie auf die Verabschiedung des realistischen Romans, wie ihn insbesondere Balzac im 19. Jahrhundert prägte, abzielten, um stattdessen ein autoreflexives Erzählen zu propagieren, dass stärker die psychologische Wahrnehmung von Objekten und Geschichten in den Blick nimmt, und nicht deren vermeintliche Faktizität. Eine solche Emphase verdeckt jedoch leicht ein grundsätzliches Problem, das dergestalt nicht gelöst, sondern eben nur verschoben wird, und das nun in der Gegenwartsliteratur erneut in aller Deutlichkeit hervortritt, nämlich die Frage nach dem Realismus der literarischen Darstellung bzw. genauer: die Frage nach dem Modus realistischen Erzählens unter den Bedingungen der jeweiligen Gegenwart. Denn bereits Marcel Proust und in besonderem Maße André Gide haben dieses Problem zu Beginn der klassischen Moderne, d.h. in den 1920er Jahren intensiv behandelt und versucht, eine den Bedingungen der Moderne entsprechende realistische Schreibweise zu entwickeln, was bekanntlich bei Gide zur Entwicklung der Erzähltechnik der mise en abyme geführt hat, die anthropologische Reflexion mit literarischer Repräsentation zusammenführt, indem sie beide in einen Prozess gegenseitiger perspektivischer Betrachtung überführt, der nicht von der Handlung stillgestellt, sondern vielmehr im Erzählen ausgereizt wird. Eben diese Reflexion des Realismus-Problems, das sich grundlegend in der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Referenzästhetik stellt, wird besonders bzw. erneut in der französischen Gegenwartsliteratur verhandelt, wie insbesondere die Romane von Michel Houellebecq und Anderen, ja selbst die letzten Romane von Claude Simon und Alain Robbe-Grillet augenfällig zeigen. 9 Dossier Betrachtet man von hier aus die Situation des französischen Romans in den 1950er und beginnenden 1960er Jahren nochmals, die zugleich die Gründungszeit des Ouvroir de la littérature potentielle markieren, dann erkennt man, dass gerade die Manifeste des Nouveau Roman, insbesondere Alain Robbe-Grillets Essaysammlung Pour un Nouveau Roman, einen Markstein gesetzt haben, der in mehrfacher Hinsicht folgenreich war, insofern er eine Position besetzte, zu der es zeitgenössisch keine explizite Gegenposition auf der Ebene der Theoriebildung gab, auch wenn sie auf der Ebene der Romanpraxis sehr wohl gegeben war. Denn mit diesen Essays konturierte Robbe-Grillet nicht nur seine Position als Nouveau Romancier, sondern setzte sich auch bewusst gegen den realistischen Roman à la Balzac, und d.h. vor allem: gegen die Romanpraxis von Jean-Paul Sartre ab, um eine eigene Schule zu prägen. Diese Schulbildung fehlte indessen auf Seiten des OULIPO, da es zum einen erst relativ spät seine spezifische Literaturtheorie publik machte, wie die beiden Manifeste La littérature potentielle (1973)und Atlas de la littérature potentielle (1981) verdeutlichen, und zum anderen keine eigene Theoriebildung bezüglich des Romans vorlegte. Gerade Raymond Queneaus unvollendet gebliebenes Projekt, eine solche Theoriebildung unter dem Titel Technique du roman zu veröffentlichen, verweist nachdrücklich auf dieses Scheitern auf der Ebene der Theoriebildung, das jedoch, und dies gilt es sehr wohl festzuhalten, keineswegs mit einem Scheitern auf der Ebene der Romanpraxis einhergeht; vielmehr ist das Gegenteil der Fall, wie die nachfolgenden Studien zu exemplarischen Romanen des OULIPO herausarbeiten. 3 Dementsprechend setzt das vorliegende Dossier an der Frage nach dem Beitrag des OULIPO zu einer Literatur der Nachmoderne an, um damit zugleich die grundlegende Frage nach dem Realismusproblem eben dieser Literatur neu zu stellen, ohne sie selbst schon beantworten zu wollen. Dabei werden bewusst die Romane der Oulipiens in den Blick genommen, um zum einen deren Beitrag zum Projekt des Romans nach der Moderne exemplarisch herauszuarbeiten und um zum anderen die, gerade aus Sicht der jüngsten Gegenwartsliteratur, wieder aufgekommene Frage nach der Rückkehr des Erzählens umfänglicher zu beantworten. Denn gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten um die Rückkehr eines vorderhand realistischen, tendenziell geschichtsgesättigten Erzählens scheint es sinnvoll, die Romanprojekte der Oulipiens zu verfolgen, um die mögliche Beschränkung der Diskussion durch den exklusiven Fokus auf die Nouveaux Romanciers zu vermeiden. Dies umso mehr, als die Romane des OULIPO zum einen nicht nur in den Universitäten ihren Leserschaft gefunden haben, sondern gerade in Frankreich mittlerweile zum Kanon der Schullektüre (horribile dictu! ) gehören, wie etwa Raymond Queneaus Les fleurs bleues zeigen, und zum anderen auch heute noch eine eigene Produktivität entfalten, wie gerade die jüngsten Romane dieser Gruppe, denen hier ein eigener Beitrag gewidmet ist, verdeutlichen. Hierfür seien einige Leitgedanken vorangestellt, die zu einer Auseinandersetzung mit den Romanen der Oulipiens einladen. Allgemein lässt sich festhalten, dass sich die Romane der Oulipiens, insbesondere diejenigen Raymond Que- 10 Dossier neaus, Georges Perecs und Jacques Roubauds, durch eine stärkere Einbeziehung der Geschichte (im Sinne der Histoire) auszeichnen, wodurch auch ein erster Differenzmarker gegenüber den Nouveaux Romanciers gesetzt wird. 4 Diese Geschichtshaltigkeit der Romane ist keineswegs eindimensional zu verstehen, vielmehr wird in den Romanen sowohl eine Integration der jüngeren Geschichte, insbesondere der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der damit einhergehenden Verfolgung (prägnant in Perecs W ou le souvenir d'enfance), vorgenommen, als auch eine Reflexion der Geschichtsschreibung (etwa in Queneaus Les fleurs bleus) oder auch einer produktiven Relationierung von Mythos und Geschichte (etwa in Queneaus Le vol d’Icare). Darüber hinaus zeigt sich eine deutliche Prägung durch die Phänomenologie, insbesondere im Anschluss an Alexandre Kojèves berühmte Vorlesungen zu Hegels Phänomenologie des Geistes, der Introduction à la lecture de Hegel, die Queneau selbst veröffentlichte und in seinem Roman Le dimanche de la vie geradezu ausfabulierte, wodurch ein zweiter Distinktionsmarker gegenüber den stärker psychoanalytisch ausgerichteten Nouveaux Romanciers gesetzt wird. Folglich stehen weniger die psychischen Prozesse der Weltwahrnehmung bzw. genauer: die subjektiven Formen der Weltdeutung im Mittelpunkt, wie dies in besonderem Maße für die Protagonisten der Robbe-Grilletschen Romane gilt (insbesondere in La jalousie), vielmehr wird die Weltwahrnehmung an sich thematisiert und deren Probleme und mögliche (Fehl-)Leistungen narrativ in Szene gesetzt (so etwa in Perecs La disparition). Darüber hinaus findet sich gelegentlich eine romaneske Inszenierung von Subjektspaltung und den damit einhergehenden problematischen Selbstreflexionen, die bewusst an die Tradition des humoristischen Romans, vor allem an dessen moderne Reaktualisierung bei Luigi Pirandello (L’umorismo, Il fu Mattia Pascal) und André Gide (Les faux-monnayeurs) anknüpfen, wie etwa Queneaus Les fleurs bleues deutlich zeigen. Schließlich zeichnen sich die oulipistischen Romane, so die leitende These, durch ein Referenzästhetik aus, die zum einen auf Formen der Deixis, etwa in Perecs Roman La vie, mode d’emploi, oder auf Formen der Referentialisierung auf eine reale außersprachliche Wirklichkeit aufbauen, etwa in Queneaus Zazie dans le métro, ohne indes eine wirkliche Referenz zu bieten. Vielmehr leisten die Oulipiens in ihren Romanen eine Reflexion realistischen Schreibens unter den Bedingungen der Nachmoderne und bilden so eine wichtige Brücke zur Gegenwartsliteratur, in der gerade die Rückkehr zum (realistischen) Erzählen zentral diskutiert wird. 1 Wolfgang Asholt (ed.): 20. Jahrhundert. Roman. Stauffenburg Interpretationen: Französische Literatur. Tübingen 2007; Jürgen Grimm (ed.): Französische Literaturgeschichte. Stuttgart 5 2006 2 Dementsprechend finden sich noch heute zahlreiche Studien zu den Romanen der hier behandelten Oulipiens, die sich ausschließlich auf deren Sprachspiele beziehen oder deren Beitrag zu einem Nouveau Français untersuchen. Zudem dominieren gerade in 11 Dossier Deutschland Studien, die den OULIPO vorzugsweise als Grundlage für das ‘creative writing’ an Universität und Schule präsentieren, so dass die Komplexität der Texte, insbesondere der Romane, weitgehend reduziert wird auf eine quasi spielerische Aneignung von Dichtungsverfahren. Verwiesen sei hierfür nur auf Heinz Boehncke: Anstiftung zur Poesie. Oulipo - Theorie und Praxis der Werkstatt für potentielle Literatur. Bremen 1993. 3 Einziges Resultat dieses Projektes ist der Aufsatz Technique du roman, der zuerst in Raymond Queneaus Essaysammlung Bâtons, chiffres et lettres. (Paris 1950, édition augmentée 1965, S. 27-34), erschienen ist. 4 Diese Opposition mag überspitzt erscheinen, wenn man Claude Simons berühmten Discours de Stockholm mit einbezieht, in dem er gerade die Bindung des Romanschreibens an die Geschichte hervorhebt, doch besetzt Simon zum einen nur eine Position innerhalb des Nouveau Roman - und keineswegs die dominante - und zum anderen handelt es sich hierbei um relativ späte Überlegungen, die gerade in den 1950er und 1960er Jahren so noch nicht von ihm formuliert worden wären.