eJournals lendemains 39/154-155

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Narr Verlag Tübingen
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2014
39154-155

Späte Suche nach den Gräbern

2014
Stefan Schreckenberg
ldm39154-1550209
209 DDossier Stefan Schreckenberg Späte Suche nach den Gräbern Claude Simons Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg in L’Acacia Claude Simon und der Krieg Das Verhältnis von Krieg, Geschichte und Erzählen ist eines der zentralen Themen im Werk des französischen Nobelpreisträgers Claude Simon (1913-2005). Ausgangspunkt sind für Simon zunächst biographische Anknüpfungspunkte, in erster Linie seine Teilnahme als Kavalleriesoldat am Debakel der französischen Armee im Mai 1940, 1 daneben aber auch sein kurzes Engagement im spanischen Bürgerkrieg 1936. 2 Die anfangs stärker fiktionalisierte, in den späteren Romanen dann fast unverhüllt autobiographische Verarbeitung eigener Erfahrungen kombiniert Simon mit Episoden aus der Geschichte seiner Familie, für die der Krieg ebenfalls von großer Bedeutung ist. Hier sind wichtige Bezugspunkte die Beteiligung zweier Vorfahren an den Kriegen der Französischen Revolution und der Tod des Vaters im Ersten Weltkrieg (Les Géorgiques, L’Acacia). Auf einer dritten Ebene lässt der Autor in seinen vielstimmigen Romanen weitere Personen der Zeitgeschichte zu Wort kommen und ihre Sicht des Krieges schildern. So verarbeitet er in Le Jardin des Plantes Texte von Winston Churchill und Erwin Rommel. In Les Géorgiques führt Simon einen ironisch-kritischen Dialog mit George Orwells Darstellung des spanischen Bürgerkriegs (Homage to Catalonia) und in La Bataille de Pharsale greift er auf Cäsars Darstellung des römischen Bürgerkrieges zurück. Simons literarische Auseinandersetzung mit dem Krieg ist von einer tiefen „polémicité“ geprägt (Thouillot 1998: 197). Damit ist gemeint, dass er sich in seinen Texten weniger um eine Analyse der jeweiligen Konflikte bemüht, als vielmehr mit der grundsätzlichen Frage nach der sprachlichen Darstellbarkeit des Phänomens Krieg ringt. Seine Polemik wendet sich dabei gegen die klassischen Erzählmuster der Historiographie und gegen die realistische Poetik des traditionellen historischen Romans. Die Skepsis gegenüber der narrativen Beherrschbarkeit des Krieges im Sinne einer rationalen, sinnstiftenden Analyse des Geschehens und gegenüber der Möglichkeit, die Ereignisse aus der Erinnerung verlässlich rekonstruieren zu können, ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal Claude Simons, sondern weist ihn laut Jean Kaempfer im Gegenteil als typischen Vertreter einer modernen „poétique du récit de guerre“ aus: [ ] le récit de guerre moderne entend se soustraire à tout modèle, parce que l’expérience extrême qu’il relate lui paraît se refuser à la raison; la commotion dont il doit témoigner est 210 DDossier tellement inouïe qu’elle en devient inénarrable. Voici donc des textes sur le qui-vive, tendus vers le singulier, qui mettent toute leur vigilance à ne pas être controuvés (Kaempfer 1998: 8). 3 Das moderne Schreiben über den Krieg steht im Zeichen eines Paradoxons. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts werden Kriege nicht mehr als unvermeidlicher Bestandteil der politischen Geschichte mit ihren großen Fortschrittsnarrativen hingenommen, sondern im Gegenteil als Sinnbild und Auslöser der Zerstörung des Vertrauens in eben jene grands récits beschrieben. Wo der Glaube an kollektive Ordnungen erschüttert ist, kann der Krieg nur noch als radikal individuelle Erfahrung dargestellt werden, die in letzter Konsequenz eigentlich inénarrable bleiben müsste. Auch in Claude Simons Schreiben über den Krieg ist dieses Paradoxon präsent und wird zum Gegenstand der Reflexion. Die Gewalt des Krieges lässt sich sprachlich nicht einholen, sie ist das fundamental Andere der Sprache. Gleichzeitig scheint die Ordnung der Sprache das Einzige, was sich der zerstörten Ordnung der Dinge entgegensetzen lässt. In diesem Sinne formuliert es Simon in seinem Roman Histoire: à ce moment [i. e. pendant la bataille] le mot obus ou le mot explosion n’existe pas plus que le mot terre, ou ciel, ou feu, ce qui fait qu’il n’est pas plus possible de raconter ce genre de choses qu’il n’est possible de les éprouver de nouveau après coup, et pourtant tu ne disposes que de mots, alors tout ce que tu peux essayer de faire (Simon 1967: 152). Der Einsicht in die grundsätzliche Unzulänglichkeit der Sprache steht bei Simon die Notwendigkeit gegenüber, trotzdem über das Unbegreifliche zu sprechen. Sein Schreiben über den Krieg ist immer auch die Suche nach Metaphern, die anstelle des fehlenden mot propre eine Annäherung an das Unbegreifliche wenigstens im Modus des Uneigentlichen ermöglichen. Dabei bewegt er sich auch in Bildfeldern, deren Konnotationen nicht unproblematisch sind, insofern sie als eine mythisierende Rechtfertigung des Krieges verstanden werden könnten. Der Krieg erscheint als archaisches Fest und Opferritual, als sich zyklisch wiederholendes Naturgeschehen und insgesamt als eine Erscheinungsform der ewigen Wiederkehr des Gleichen. 4 Wie steht es nun aber vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen zur allgemeinen Bedeutung des Krieges bei Simon um den spezifischen Stellenwert des Ersten Weltkrieges in seinem Werk? Auf den ersten Blick nimmt die ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘ 5 keine herausragende Position ein. Anders als der Zweite Weltkrieg, der vor allem seit La route des Flandres (1960) fast durchgehend in Simons Werk präsent ist, wird der Erste Weltkrieg nur in L’Acacia (1989) in größerem Umfang thematisiert. 6 Im Mittelpunkt von Simons Auseinandersetzung mit dem Krieg steht eine begrenzte Sequenz von Ereignissen aus dem Jahr 1940, die er in immer neuen Variationen ausarbeitet: die traumatischen Erfahrungen eines jungen Gefreiten, alter ego des Autors, der im Mai in Flandern die fast vollständige Vernichtung seines Kavallerieregiments nur wie durch ein Wunder überlebt, in Kriegsgefangenschaft gerät und dem schließlich die Flucht gelingt. In diesem 211 DDossier Kontext nimmt Simon gelegentlich zumindest implizit Bezug auf Ereignisse des Ersten Weltkriegs, insofern sie sich in eine Abfolge von Schlachten einreihen lassen, die seit Menschengedenken immer wieder an den gleichen Orten stattzufinden scheinen und denen der Konflikt von 1940 eine weitere Episode hinzufügt. So spricht etwa der Erzähler in Les Géorgiques von den „noms grisâtres et ferrugineux qui reviennent à toutes les pages des manuels d’histoires: Bazeilles, Sedan, Mézières, Rocroy, Wattignies, Meuse, Moselle, Ardennes, Longwy“ (Simon 1981: 107) und stellt weiter fest: „Mais c’étaient les mêmes chemins [ ] et toujours les mêmes vallées, les flancs des mêmes collines escaladées, franchies, ravagées, refranchies, ravagées de nouveau, simplement parce que c’était le meilleur passage qui menait de l’Est à l’Ouest“ (Simon 1981: 136). Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass der Erste Weltkrieg, jenseits der Idee einer ewigen Wiederholung austauschbarer Kriege, für Simons Schreiben sehr wohl eine spezifische Bedeutung hat und dass dem Roman L’Acacia eine zentrale Stellung im Gesamtwerk zukommt, insofern er ein Desiderat behandelt. 7 Spätestens seit L’Herbe (1958) entwirft Simon in der Mehrzahl seiner Romane imaginäre Familienkonstellationen, die sich von Text zu Text verändern, tendenziell aber nach und nach der Geschichte seiner realen Familie annähern. Die Figur des Vaters des Protagonisten ist dabei entweder problematisch oder bleibt unbesetzt. In L’Acacia erzählt Simon zum ersten Mal ausführlich vom Leben und Sterben des Vaters und schließt so eine zentrale Lücke in der Rekonstruktion der Familiengeschichte. Die Beschäftigung mit dem Schicksal des Vaters hat in L’Acacia gleichzeitig einen wichtigen Einfluss auf die Identitätsfindung des Sohnes. Dessen Lebensgeschichte und speziell die Ereignisse von 1940, die einem Simon- Leser aus früheren Romanen vertraut scheinen, werden durch die Parallelsetzung mit dem Tod des Vaters 1914 neu perspektiviert, wie im Folgenden zu erläutern sein wird. Die Behandlung des Ersten Weltkrieges in L’Acacia ist aber nicht nur innerhalb des Simon’schen Werkes, sondern auch als typisches Beispiel für die Auseinandersetzung mit diesem Thema im Frankreich der 1980er und 1990er Jahre von Interesse. Die individuelle Suche eines Autors nach den Spuren des verlorenen Vaters kann als exemplarisch für das in diesen Jahren auf verschiedenen Ebenen neu erwachende Interesse für den Ersten Weltkrieg begriffen werden. Dies soll in einem zweiten Schritt gezeigt werden. L’Acacia - „Un roman de deux guerres“ 8 „L’Acacia est un roman tout en échos“, stellt Alastair B. Duncan (2013: 1570) zu Beginn seines Kommentars in der jüngst erschienenen Pléiade-Ausgabe des Romans fest. Die Verschränkung mehrerer Handlungsstränge und die sich daraus ergebenden vieldeutigen Verweisungszusammenhänge bilden ein Grundprinzip des Simonʼschen Schreibens. In kaum einem anderen Roman ist die Parallelstruktur vom Autor allerdings so deutlich markiert wie in L’Acacia. Bereits die Da- 212 DDossier tierung aller zwölf Kapitel signalisiert, dass die Handlung abwechselnd um zwei historische Gravitationszentren, die Jahre 1914 und 1940, kreist. In einigen Fällen verengt sich der Fokus dabei auf einen einzigen Tag (Kapitel II und IV: 17 mai 1940; Kapitel III: 27 août 1914), in anderen weitet sich die Perspektive und bezieht sowohl die Vorgeschichte (Kapitel V: 1880-1914) als auch den Blick zurück aus der Gegenwart (Kapitel VII: 1982-1914) mit ein. 9 „[D]eux guerres, celle de 1914- 1918 et celle de 1940, et les destins à la fois ressemblants et contrastés de deux hommes, père et fils“ (Duncan 2008: 280), so lässt sich die Grundstruktur von L’Acacia zusammenfassen. 10 Der Vater, der aus einfachen Verhältnissen stammt, bis zum Hauptmann in einem Infanterie-Regiment der Kolonialarmee aufgestiegen ist und eine reiche Tochter aus gutem Hause geheiratet hat, fällt am 27. August 1914 bei den ersten Zusammenstößen mit den deutschen Truppen in Lothringen. Der Sohn, einfacher Gefreiter in einem Kavallerieregiment, gerät im Mai 1940 nahe der französisch-belgischen Grenze mit seinen Kameraden in einen Hinterhalt und entgeht dem Tod mehrfach nur knapp. Die Parallelen auf der Handlungsebene sind zahlreich. In beiden Fällen befinden wir uns wenige Tage nach Ausbruch der Kampfhandlungen im Norden bzw. Nordosten Frankreichs. Und in beiden Fällen ist die militärische Situation für die französische Seite äußerst prekär. Im August und September 1914 erleiden die Truppen so hohe Verluste wie in keinem anderen der späteren Kriegsmonate, bis der deutsche Vormarsch an der Marne gestoppt werden kann. Ähnlich verheerend sind die Kämpfe im Mai 1940, als sich bereits nach wenigen Tagen die völlige Niederlage Frankreichs abzeichnet. Gewisse Unterschiede zeigen sich zunächst in der Einschätzung des grundsätzlichen Charakters der beiden Kriege. Im zweiten Kapitel wird berichtet, wie die Soldaten 1940 in eine Situation geraten, in der sich ihr bisheriges Denken über den Krieg als völlig unangemessen erweist. Statt einem regulären Feind zu begegnen, werden sie von einem „insatiable monstre“ (Simon 1989: 39) zermalmt und verschlungen. Im Vergleich dazu erscheint der Erste Weltkrieg rückblickend noch als ein ‚echter‘, ernsthafter Krieg, in dem die Möglichkeit bestand, sich im Kampf Mann gegen Mann auszuzeichnen: tous, les uns après les autres, déversés, engloutis, disparus sans laisser de traces, rayés des tableaux d’effectifs sans même que ce qui se passait (ce qu’ils (les cavaliers) étaient en train de vivre) ressemblât de près ou de loin à quelque chose comme une guerre, ou du moins à ce qu’ils s’imaginaient confusément que devait être la guerre: même pas un décor, le minimum de mise en scène, de solennité (ou même de sérieux) qui leur eût tout au moins permis de croire qu’on les avait envoyés là pour se battre et non pas simplement pour être tués: pas de barrage d’artillerie [ ] et aucune tranchée à conquérir ou à défendre, pas de face-à-face, ou plutôt de seul-à-seul où chacun, courageux ou peureux, peut prendre la mesure de son courage ou de sa peur (Simon 1989: 39sq.). Der Erzähler zitiert ironisch die verklärten Klischeevorstellungen vom Kampf in den Schützengräben, die bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs offenbar noch in den Köpfen der Soldaten herumspukten: „les cavaliers exténués [ ], mornes, sales 213 DDossier (pas la glorieuse et légendaire boue des tranchées: simplement sales [ ])“ (Simon 1989: 29). Als im nächsten Kapitel dann aber die Erfahrungen der französischen Soldaten in den ersten Kriegstagen 1914 geschildert werden, wird deutlich, dass sich die Situation kaum von der im Mai 1940 unterscheidet: presque aussitôt [ ] leur arriva dessus quelque chose qui ne ressemblait ni à une charge ni à rien de ce qu’ils avaient pu apprendre dans les livres ou sur le terrain [ ] c’est-à-dire simplement un mur ou plutôt une muraille de feu qui avançait lentement, paisiblement en quelque sorte, mais inexorablement, avec seulement de brefs arrêts si elle rencontrait quelque obstacle, le temps de l’anéantir et de le digérer (Simon 1989: 55sq.). Nicht erst 1940, sondern bereits 1914 erweist sich das Vertrauen in die überlieferten Strategien der Kriegsführung („une inébranlable assurance fondé sur l’étude des classiques de la guerre, encore accréditée par les analyses répétées depuis quarante ans au tableau noir“, Simon 1989: 53) vom ersten Tag an als überholt. In beiden Fällen verschlingt eine monströse Kriegsmaschinerie alle Beteiligten und lässt keinen Raum für Verstehen, planvolles Handeln oder gar Heldentum. Der eigentliche Verlauf der beiden Kriege ist für Simon allerdings weniger interessant als seine Auswirkungen auf die Lebens- und Familiengeschichte des Protagonisten. Insofern ist L’Acacia weniger ein Roman über den Krieg selbst als über den Umgang mit dem Verlust, der aus dem Tod des Vaters resultiert (cf. Duncan 2013: 1577). Dieser Tod markiert für die Familie einen tiefen Bruch, er bedeutet das Ende eines erfolgreichen sozialen Aufstiegs und einer glücklichen Ehe. Er bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt der Lebensgeschichte des Sohnes, die im Zeichen von Abwesenheit, Trauer und der Gefahr steht, das Schicksal eines Vaters, den er nie kennengelernt hat, wiederholen zu müssen. Die parallelen Kriegserfahrungen des Sohnes ermöglichen aber auch eine imaginäre Annäherung an das Leben des Vaters und letztlich eine Überwindung der Identitätskrise. Suche, Trauer und Abschied der Überlebenden von den Toten werden gleich im ersten Kapitel als dominierende Themen des Romans eingeführt. 11 Im Spätsommer 1919 reist die junge Witwe mit ihrem kleinen Sohn und ihren beiden Schwägerinnen durch das ehemalige Kriegsgebiet auf der Suche nach dem Grab ihres Mannes. Der beschwerliche Weg führt durch zerstörte Dörfer, die mühsam zusammengetragenen Informationen sind widersprüchlich, die Unterkünfte primitiv und das Wetter trostlos. Der tausendfache Soldatentod hat sich tief in die Landschaft eingeschrieben: Il pleuvait sur les pans de murs des maisons éventrées dont les papiers aux couleurs pastel se décollaient peu à peu, il pleuvait sur la surface unie, grise et lente de la rivière [ ], il pleuvait sur le paysage grisâtre, le cercle des collines sous lesquelles achevaient de pourrir les corps déchiquetés de trois cent mille soldats, sur les champs grisâtres, les maisons grisâtres (Simon 1989: 19). Die Suche endet schließlich auf einem kleinen Friedhof, auf dem neben deutschen Soldaten auch zwei nicht identifizierte französische Offiziere gemeinsam beerdigt 214 DDossier sind. Die Witwe, der Sohn und die Schwestern nehmen Abschied, ohne mit letzter Sicherheit wissen zu können, ob es sich wirklich um das Grab des Gesuchten handelt. Diese Episode, die dem Roman als eine Art Prolog vorangestellt ist, ist dem Erzähler, den wir wohl mit der Figur des Sohnes gleichsetzen können, 12 noch als eigene frühe Kindheitserinnerung zugänglich. Im Verlauf des Romans imaginiert er eine Reihe weiterer Szenen, in denen der Verlust des Vaters aus der Perspektive der Mutter geschildert wird und die zeitlich früher liegen. Die Trauer der Mutter setzt bereits ein, als der Hauptmann mit seinem Regiment kurz vor Ausbruch des Krieges von Madagaskar nach Frankreich zurückgerufen wird. Mit der Rückkehr in die Heimat finden für seine Ehefrau vier Jahre ungetrübten, fast märchenhaften Glücks („ces quatre années-lumière dans l’île tropicale, [ ], cette libération, ce ravissement“, Simon 1989: 268) ein jähes Ende. Bei der Ankunft im Hafen werden die Truppen von einer Menschenmenge empfangen, deren Enthusiasmus im scharfen Kontrast zu den Gefühlen der Mutter steht: Une foule se presse contre les grilles de la douane et des mains agitent des mouchoirs. Elle ne voit pas la foule. [ ]. Elle continue à agiter la main. Elle essaye de sourire. Elle pleure. [ ] Des cris de joie, des appels, s’échappent des ponts du long-courrier et de la foule massée derrière les grilles de la douane. Les larmes coulent lentement sur ses joues (Simon 1989: 149-150). Als weitere schmerzliche Verlusterfahrung wird der Aufbruch des Hauptmanns aus seinem Haus in Perpignan an die Front eindringlich beschrieben (Simon 1989: 212-219 und ein zweites Mal Simon 1989: 267): die letzte gemeinsame Nacht der Eheleute („une furieuse, déchirante et ultime étreinte“, Simon 1989: 214) und der eigentliche Moment des Abschieds am nächsten Morgen, der durch den Vergleich mit der Hochzeitsfeier am gleichen Ort umso verzweifelter erscheint: sans détacher son regard [i. e. le regard de la mère] de ce visage, de ces lèvres, puis le suivant tandis qu’il franchissait cette même porte vitrée devant laquelle elle s’était tenue quatre ans plus tôt, défaillante de bonheur, comme ivre, appuyé sur son bras, posant pour le photographe dans sa robe de mariée (Simon 1989: 214). Die Trennung von ihrem Mann erlebt die Mutter als symbolische Vorwegnahme ihres eigenen Todes: „[lʼ]agonie, celle de la femme qui ce jour-là comprit déjà qu’elle était morte“ (Simon 1989: 212). Einige Jahre später wird sie tatsächlich schwer erkranken und schließlich in noch relativ jungem Alter sterben. Zum dritten Mal und endgültig verliert die Mutter ihr Lebensglück, als sie wenige Wochen später in einem Kurort in den Pyrenäen die Nachricht vom Tod des Hauptmanns erhält. Überwältigt vom Schmerz verfällt sie in einen Schockzustand und stammelt geistesabwesend einen Vers aus dem Vaterunser, der später auf der Todesanzeige des Gefallenen erscheinen wird: „les lèvres continuant à remuer toutes seules, faiblement [ ], formant et reformant sans fin la même phrase, le 215 DDossier même hurlement muet, déchirant [ ], comme une litanie, un marmottement de folle, d’idiote: Que votre volonté que votre volonté “ (Simon 1989: 279). Diese sich steigernden Abschiedsszenen verknüpft der Erzähler jeweils mit Rückblicken auf das Leben der Mutter (Kapitel V, VII und IX). Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Hindernissen, die sie überwinden musste, um nach langen Jahren endlich den Mann ihres Lebens heiraten zu dürfen. Denn erst nach erfolgreicher Offizierskarriere erlaubt ihre standesbewusste Familie die Verbindung mit einem Bauernsohn: „l’homme qu’elle avait attendu jusqu’à sa vingt-cinquième année, puis attendu encore tout au long de ces interminables et secrètes fiançailles de quatre autres années, tenant bon contre les préjugés, le scandale“ (Simon 1989: 267sq.). Treue und Hartnäckigkeit werden schließlich belohnt, auf die Jahre des Wartens folgen die glücklichen Jahre auf Madagaskar. Der Erzähler spitzt die Liebesgeschichte der Eltern in allen drei Kapiteln auf ihr Ende hin zu, so dass sie angesichts der Wartezeit und des relativ kurzen Glücks als besonders tragisch erscheint. Da sich die geschilderten Ereignisse vor oder nur kurz nach der Geburt des Sohnes abspielen, ist der Erzähler auf andere Quellen als das eigene Gedächtnis angewiesen, er stützt sich außer auf die Erzählungen der Mutter und anderer Verwandter z. B. auch auf Fotos. Neben der imaginären Einfühlung in die Trauer der Mutter versucht der Erzähler in L’Acacia eine weitere Annäherung an den verlorenen Vater über eine Rekonstruktion seines Todes in der Schlacht. Ein erster Anlauf erfolgt im dritten Kapitel, im distanzierten Stil eines Chronisten, der eine präzise Bestandsaufnahme von Leiche und Tatort macht: Parmi ceux qui tombèrent dans le combat du 27 août se trouvait un capitaine de quarante ans dont le corps encore chaud dut être abandonné au pied de l’arbre auquel on l’avait adossé. [ ] La balle avait emporté le képi et l’on pouvait encore voir dans les cheveux englués de sang le sillon laissé par le peigne [ ] (Simon 1989: 61). Im elften Kapitel wird die Schilderung noch einmal wiederholt, allerdings in verschiedenen Varianten und begleitet von einer Reflexion auf die Verlässlichkeit der Informationen. Es wird deutlich, dass sich im Familiengedächtnis eine Version etabliert hat, die vermutlich auf geschönten Berichten und klischeehaften Vorstellungen beruht: il fut pratiquement impossible de retrouver et d’interroger les témoins directs de cet événement sur lequel les détails font défaut [ ], le récit fait à la veuve et aux sœurs (ou celui qu’elles en firent par la suite), quoique sans doute de bonne foi, enjolivant peut-être quelque peu la chose ou plutôt la théâtralisant selon un poncif imprimé dans leur imagination par les illustrations des manuels d’histoire ou les tableaux représentant la mort d’hommes de guerre plus ou moins légendaires, agonisant presque toujours à demi étendus dans l’herbe, la tête et le buste plus ou moins appuyés contre le tronc d’un arbre (Simon 1989: 326). 13 216 DDossier Einmal mehr zeigt sich hier Simons Skepsis gegenüber einer narrativen Darstellung historischer Ereignisse, die sich bewusst oder unbewusst an stereotypen Mustern orientiert. 14 Gleichzeitig begreift der Erzähler, dass ihm nicht mehr als „ces vagues récits“ (Simon 1989: 326) zur Verfügung stehen. Es gelingt dem Sohn nicht, den Tod des Vaters verlässlich zu rekonstruieren. Allerdings scheint er ihn bis zu einem gewissen Punkt nacherleben zu können. Auf der nächtlichen Zugfahrt nach der mobilisation générale im August 1939 wird der Sohn immer wieder von dem Gedanken geplagt, dass er nun sterben wird, bevor sein Leben überhaupt richtig begonnen hat: „Et maintenant il allait mourir“ (Simon 1989: 163); „pensant alors que vingt-six années de quelque chose qui n’avait pas encore commencé d’exister vraiment allait définitivement cesser d’exister“ (Simon 1989: 169); „Et maintenant tout cela était loin, fini, et il allait mourir“ (Simon 1989: 190). Der Zufall - oder das Schicksal? - will es, dass der Sohn genau am Todestag des Vaters eingezogen wird. Und auch der Vater war 25 Jahre zuvor in einer ganz ähnlichen Zugfahrt an die Front transportiert worden (cf. Beginn von Kapitel III). Die Todeserwartung ist bei dem Sohn mit einer negativen Lebensbilanz verbunden, dem Gefühl, die letzten zehn Jahre seit seiner Schulzeit sinnlos vergeudet zu haben: dix bonnes années, ou, autrement comptabilisé, cent vingt mois d’oisiveté, d’impostures, d’inepties additionnés pour se dissimuler à lui-même son inexistence [ ] ‒ dix années, donc (ajoutées aux seize autres passées dans ce cocon capitonné de l’enfance), qui trouvaient maintenant leur accomplissement (leur sanction? pensa-t-il [ ]) sous la forme d’une plaque ovale de laiton attachée à son poignet par une chaînette (Simon 1989: 227sq.). Der Inhalt seiner Existenz (oder eben „inexistence“) wird nun reduziert auf eine banale Erkennungsmarke. Ein Kamerad bringt deren Zweck auf den Punkt: „De façon, dit le jockey, qu’ils puissent en garder une moitié pour tenir à jour leur tableau d’effectifs et renvoyer l’autre à ta famille. Remarque, ajouta-t-il, qu’ils y ajouteront peut-être une décoration“ (Simon 1989: 229). Diese zynische Bemerkung führt dem Sohn nicht nur sein mögliches eigenes Schicksal vor Augen, sondern erinnert ihn auch an das des Vaters, dessen Erkennungsmarke tatsächlich an die Familie zurückgeschickt wurde, gefolgt von einem Orden (cf. Simon 1989: 61sq., 325). Im Gegensatz zum Sohn blickte der Vater beim Ausbruch des Weltkrieges allerdings nicht auf zehn Jahre Müßiggang, sondern auf zwanzig Jahre Fleiß und harte Disziplin zurück, ohne die sein sozialer Aufstieg nicht möglich gewesen wäre. Wenn schon der tugendhafte Vater nicht verschont wurde, so erwartet der Sohn erst recht, vielleicht sogar als Bestrafung („sanction“) für seinen Lebenswandel, den Krieg nicht zu überleben. Als die Kampfhandlungen beginnen, scheinen sich seine Erwartungen zu bestätigen. Einen vernichtenden Angriff auf sein Regiment aus dem Hinterhalt überlebt er nur knapp (Kapitel IV) und reitet kurze Zeit später mit den wenigen Überlebenden unter der Führung seines offenbar lebensmüden Obersts auf offener Straße einem, wie er glaubt, sicheren Tod 217 DDossier entgegen. Später erlebt er in der Erinnerung diese traumatische Erfahrung noch einmal und entwickelt dabei eine sehr plastische Todesphantasie: essayant de se rappeler [ ], d’être de nouveau comme il avait été sur ce cheval [ ], déjà plus un être vivant, attendant passivement cette chose brève, brutale, gris-noir, qui allait d’un moment à l’autre lui arriver, le frapper avec violence, le jeter à bas de son cheval, pensant que quand il tomberait à terre il ne sentirait même pas le choc [ ] parce qu’il serait mort [ ] son sang dont il se viderait lentement, rouge et brillant d’abord, puis se coagulant, se figeant (Simon 1989: 303). Anders als der Vater überlebt der Sohn aber auch den nächsten Angriff und gerät nur in Gefangenschaft. Im letzten Kapitel von L’Acacia wird berichtet, wie er nach geglückter Flucht heimlich in das Haus seiner Familie in Perpignan gelangt. Nach Monaten körperlicher Entbehrungen und ständiger Todesangst findet er dort langsam den Weg zurück in ein normales Leben. Er beginnt wieder zu zeichnen, zu lesen und schließlich zu schreiben: Peu à peu il changeait. [ ]. Un soir il s’assit à sa table devant une feuille de papier blanc. C’était le printemps maintenant. La fenêtre de la chambre était ouverte sur la nuit tiède. L’une des branches du grand acacia qui poussait dans le jardin touchait presque le mur, et il pouvait voir les plus proches rameaux éclairés par la lampe [ ], les folioles ovales [ ] comme animées soudain d’un mouvement propre, comme si l’arbre tout entier se réveillait, s’ébrouait, se secouait, après quoi tout s’apaisait et elles reprenaient leur immobilité (Simon 1989: 379-380). Die letzte Szene des Romans, in der die titelgebende Akazie zum ersten und einzigen Mal erscheint, lässt sich als Inszenierung einer gelungenen Identitätskonstitution, als Selbst(er)findung eines Schriftstellers lesen. Mary M. Perramond bezeichnet sie als „la ‚scène originelle‘ en quelque sorte de la venue à l’écriture de Simon“, als „les germes dont toute la création littéraire simonienne serait l’enfant“ (Perramond 1992: 751). Duncan hält fest: „L’Acacia est le lieu d’une intégration du moi; Simon s’y construit un passé et un présent d’écrivain“ (Duncan 2008: 286). 15 Innerhalb der Romanhandlung bedeutet der angedeutete Beginn einer Existenz als Schriftsteller gleichzeitig die Überwindung der als schuldhaft empfundenen „inexistence“ vor dem Krieg und der traumatischen Erfahrung unmittelbarer Todesgefahr während des Krieges. Die Selbstfindung geschieht nicht zuletzt in einer Mischung aus Identifikation mit und Abgrenzung von der Figur des Vaters. 16 Weil der Sohn den vermeintlichen Auftrag, das Schicksal des Vaters zu wiederholen, nicht erfüllt, kann er die Geschichte der Eltern, den Tod des Vaters und die Trauer der Mutter im Erzählen lebendig werden lassen und dadurch den Weg zu seiner eigenen Identität finden. Alastair Duncan liest L’Acacia als einen roman d’apprentissage, der die Geschichte einer Berufung erzähle und gleichzeitig Produkt dieser Berufung sei: „L’Acacia, comme À la recherche du temps perdu, est à la fois la découverte et le fruit d’une vocation“ (Duncan 2013: 1586). Auch mit Blick auf das Gesamtwerk Claude Simons kann man feststellen, dass in L’Acacia der Identitätskonflikt des Protagonisten in einer Weise gelöst wird, wie 218 DDossier es in früheren Romanen, vor allem La Route des Flandres und Histoire, 17 durch die Abwesenheit oder die Aufspaltung der Position des Vaters in dieser Form (noch) nicht möglich war. Erst in L’Acacia gibt Simon dem Leben und vor allem dem Tod des Vaters einen angemessenen Raum, wie etwa Ralph Sarkonak feststellt: Ce père qui attendait de mourir en quelque sorte depuis les débuts de l’œuvre et à qui il est enfin permis de mourir au niveau de la diégèse, alors que jusqu’ici Œdipe-écrivain l’avait „tué“ textuellement en le scindant en quatre (le père de Louis, Pierre, Henri et Charles). Ce père et ses avatars intertextuels qui font tant problème depuis les débuts de l’œuvre. Ce père dont l’histoire et la mort sont enfin racontées et replacées dans son (inter)texte (Sarkonak 1991: 218). In ähnlicher Weise formuliert Duncan: „[Dans L’Acacia] le rôle du père n’est plus dévolu à un substitut. Il est joué par une figure beaucoup plus proche de celui dont l’absence a hanté l’œuvre“ (Duncan 2013: 1586). Duncan liest wie Sarkonak L’Acacia als Geschichte eines gelösten Ödipus-Konflikts, im Unterschied zu La Route des Flandres. Während dort die Kriegserfahrung die Identitätskrise verschärfe, erlaube sie in L’Acacia einen Reifungsprozess und schließlich deren Überwindung. 18 In Claude Simons L’Acacia steht der Erste Weltkrieg für den Tod des Vaters, für das tragische Ende der Beziehung seiner Eltern und den Beginn der lebenslangen Trauer der Mutter. Der Krieg wird damit auch zur ‚Urkatastrophe‘ der Lebensgeschichte des Sohnes, zu einer Art Erbschuld, die erst durch das Er- und Überleben des folgenden Krieges und schließlich die narrative Auseinandersetzung mit all dem abgetragen werden kann. 19 Die Thematisierung des Ersten Weltkriegs wird so zu einer autobiographischen Notwendigkeit für die Identitätskonstitution des Autors. Lässt sich die Rolle der Grande Guerre bei Simon aber allein auf diese individuelle Dimension reduzieren? Ist es allein biographischen Umständen und Zufällen geschuldet, dass das Thema nach kurzen Andeutungen in seinem frühesten Roman Le Tricheur erst Jahrzehnte später wieder zur Sprache kommt? Diesen Fragen soll nun abschließend nachgegangen werden, in dem Versuch, den Roman L’Acacia im allgemeinen Kontext seiner Entstehungszeit zu betrachten. L’Acacia und das französische Interesse am Ersten Weltkrieg in den 1980er und 1990er Jahren Aus einer Notiz auf den Manuskriptseiten von La Route des Flandres geht hervor, dass Simon schon beim Verfassen dieses Romans, also wohl um 1959, mit dem Gedanken spielte, eine „superposition des deux guerres de 14-18 et 39-40“ darzustellen. 20 Offensichtlich stellte er dieses Projekt dann zurück und nahm es erst rund 20 Jahre später wieder auf. In einem Brief von 1982 schreibt Simon, dass er mit intensiven Nachforschungen über den Tod seines Vaters begonnen habe. 21 Mit 219 DDossier der Rekonstruktion des Schicksals eines Familienmitgliedes im Ersten Weltkrieg wendet sich der Autor einem Thema zu, das im Verlauf der 1980er Jahre in Frankreich zunehmend an Bedeutung gewinnen wird. Die Historiker Stéphane Audoin- Rouzeau und Annette Becker konstatieren gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein im Vergleich zu den Jahrzehnten nach 1945 neu entfachtes Interesse an der Grande Guerre, eine Wiederentdeckung der Ereignisse unter geänderten Vorzeichen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen in der Studie 14-18, retrouver la Guerre (2000) sind die aufwändigen Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag des Kriegsendes in Frankreich 1998. Im Namen eines devoir de mémoire manifestiere sich hier ein „retour spectaculaire de la Grande Guerre dans la conscience collective française“ (Audoin-Rouzeau / Becker 2000: 7). Die Gedenkfeiern von 1998 seien dabei aber nur ein besonders sichtbares Indiz für die „présence croissante de la Grande Guerre“ (Audoin-Rouzeau / Becker 2000: 11), die schon seit Beginn der 1980er Jahre zu beobachten sei. 22 Als mögliche Erklärung führen die Autoren an, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts die letzten unmittelbaren Augenzeugen des Krieges nach und nach verschwinden. Im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre wandelt sich der Erste Weltkrieg damit vom Gegenstand des Generationengedächtnisses zu einem Teil des kulturellen Gedächtnisses. 23 Einerseits rückt durch diesen Übergang von der mémoire zur histoire der Krieg in größere Distanz und wird als Ereignis historisiert. Gleichzeitig entsteht aber ein verstärktes Bedürfnis nach Erinnerungsorten, um eine Annäherung an das, was in der alltäglichen Kommunikation nicht mehr zugänglich ist, zu ermöglichen. 24 Hinzu kommt, dass offenbar mit Abstand von zwei Generationen Aspekte des Krieges an die Oberfläche gelangen, die lange Zeit im kollektiven Gedächtnis, aber auch in der historiographischen Forschung vernachlässigt worden sind. So sei in der stark ritualisierten Gedenkkultur im Frankreich der Zwischenkriegszeit nicht genügend Raum für den Ausdruck individueller Trauer gewesen. Im Zentrum der Erinnerung habe der Tod der Soldaten, aber nicht das Leid der Hinterbliebenen gestanden (cf. Audoin-Rouzeau / Becker 2000: 16). Die Geschichtsschreibung habe sich mit der Rekonstruktion von Opferzahlen beschäftigt, aber nicht mit der Frage, wie die Hinterbliebenen mit dem Verlust umgegangen sind und welche Konsequenzen die Trauer als individuelles und kollektives Massenphänomen für die Gesellschaft gehabt habe. Die Autoren illustrieren an einigen Beispielen, wie in der Zeit nach 1918 der persönlichen Trauer Ausdruck verliehen wurde, etwa in der Gestaltung von Totenzetteln oder Grabmälern. Sie verweisen aber vor allem auf das Phänomen der Verdrängung und schamhaften Verschweigens der Trauer (cf. Audoin-Rouzeau / Becker 2000: 202). So zitieren sie z. B. den Fall einer älteren Frau, die sich erst 1993 auf die Suche nach dem Grab ihres Onkels macht, da über dessen Tod in ihrer Familie nie gesprochen wurde, und die während der Nachforschungen das Gefühl hat, die verdrängte Trauer der Eltern und Großeltern stellvertretend nachzuerleben (cf. Audoin-Rouzeau / Becker 2000: 208). 220 DDossier Angesichts des Befundes von Audoin-Rouzeau und Becker könnte man Claude Simons Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg als literarischen Niederschlag eines allgemeinen Bedürfnisses begreifen, das zu dieser Zeit in der französischen Gesellschaft herrscht. 25 Die Rückkehr zu der frühen Kindheitserinnerung an die Suche nach dem Grab des Vaters ist damit nicht nur für den literarischen und realen Lebensweg des Autors Claude Simon von Bedeutung. In ihr spiegelt sich auch die Erfahrung einer ganzen Generation von Eltern, Ehepartnern, Kindern und Geschwistern wider, die sich nach dem Krieg auf den Weg machen, einen materiellen Ort für ihre Trauer zu finden. 26 Auch der späte Beginn der Recherchen Simons zum Tod seines Vaters ließe sich mit den Thesen von Audoin-Rouzeau und Becker verknüpfen. Die Beschäftigung mit dem ‒ lange Zeit verdrängten? ‒ Trauma der Familiengeschichte erfolgt genau in dem Moment, als es gerade noch möglich ist, die letzten Augenzeugen zu befragen. 27 Als Beleg dafür, dass Simon mit seiner Perspektive auf den Ersten Weltkrieg nicht allein steht und dass er einen Nerv seiner Zeit trifft, seien zwei weitere, sehr publikumswirksame Werke erwähnt, die fast gleichzeitig mit L’Acacia veröffentlicht werden. Wenige Wochen nach Erscheinen des Romans läuft im Spätsommer 1989 der Film La vie et rien d’autre von Bertrand Tavernier in den französischen Kinos an, der mit 1,5 Millionen Zuschauern zu einem der größten Erfolge des Regisseurs wird. Wie Simon nähert sich Tavernier dem Ersten Weltkrieg aus Sicht der Hinterbliebenen. Die Protagonistin Irène, die einige Ähnlichkeiten mit der Witwe in L’Acacia aufweist, sucht im Jahr 1920 in Militärhospitälern und auf Friedhöfen nach Spuren ihres als vermisst gemeldeten Mannes. Zu den Parallelen zwischen Roman und Film gehört auch die ironisch-kritische Thematisierung der offiziellen Gedenkkultur nach dem Ersten Weltkrieg. Der Kommandant Dellaplane, männliche Hauptfigur in La vie et rien dʼautre, nimmt an der feierlichen Zeremonie teil, bei welcher der Leichnam ausgewählt wird, der später als soldat inconnu unter dem Triumphbogen in Paris beigesetzt werden soll. Dellaplane, der die Abteilung für die Registrierung und Identifizierung der hunderttausenden von Vermissten leitet, steht dem Projekt der Ehrung eines ‚unbekannten Soldaten‘ sehr ablehnend gegenüber. Er befürchtet, dass durch die Konzentration des Gedenkens auf eine kollektive und anonyme Symbolfigur ein Schlussstrich unter die individuelle Suche von Millionen Franzosen nach ihren Gefallenen gezogen werden soll. 28 Eine ähnliche Gedenkzeremonie mit problematischem Stellvertreter-Charakter beschreibt Simon im dritten Kapitel von L’Acacia. Er stützt sich dabei auf eine Chronik des Regiments, in dem sein Vater gedient hat. Demzufolge wurde dem ganzen Regiment für seine Tapferkeit im Oktober 1914 in Anwesenheit von Delegationen aller Abteilungen der Armee das Kreuz der Ehrenlegion verliehen. Dabei handelt es sich allerdings um eine posthume Ehrung, da das Regiment in den ersten Kriegswochen fast vollständig ausgelöscht wurde. Der Orden wird stellvertretend der Regimentsfahne angeheftet, die aus den Kämpfen gerettet werden konnte. Die detaillierte Beschreibung Simons enthält jene typischen Elemente des militärischen Zeremoniells, die auch bei Tavernier in Bilder umgesetzt werden: das 221 DDossier bewegungslose Spalier der Ehrenformation, Offiziere, die die Klingen ihrer blanken Säbel senkrecht vor das Gesicht halten, das Verlesen einer patriotischen Erklärung, das Trompetensignal Aux morts (cf. Simon 1989: 57-60). Die kritische Perspektivierung erfolgt bei Simon nicht so explizit wie bei Tavernier, sondern subtil durch die ironische Gegenüberstellung des militärischen Totenkults mit der Begeisterung, die dem vernichteten Regiment wenige Wochen zuvor beim Aufbruch in Perpignan entgegengeschlagen war (Simon 1989: 56sq.). Als zweites Beispiel sei auf Jean Rouauds Roman Les champs d’honneur verwiesen, der 1990 zum großen Publikumserfolg wird und gleichzeitig Anerkennung bei der Kritik findet. 29 Auch bei Rouaud erscheint der Erste Weltkrieg als ‚Urkatastrophe‘ einer Familiengeschichte, die der Ich-Erzähler, der in diesem Fall zur Enkelgeneration gehört, Jahrzehnte später mit Hilfe von Erzählungen, alten Aufzeichnungen und Fotos rekonstruiert. Und ähnlich wie in L’Acacia ist auch in Les champs d’honneur die Evokation der Grande Guerre für den Erzähler Teil der Bewältigung der eigenen Identitätsproblematik, wenn auch in diesem Fall vermittelt über zwei Generationen hinweg. Der fast gleichzeitige Tod des Vaters, der Großtante und des Großvaters wird zum Anlass, sich mit der lange Zeit kaum thematisierten Geschichte der beiden 1916 und 1917 gefallenen Großonkel zu beschäftigen. Die gegenwärtigen Verluste scheinen für den Erzähler leichter zu verkraften, wenn er sie in eine Tradition der Trauer und des Gedenkens einordnen kann, in der auch das Leid der früheren Generationen seinen angemessenen Platz findet. Les champs d’honneur erzählt wie L’Acacia von der tatsächlichen und der symbolischen Suche nach den Toten des Ersten Weltkrieges, 30 deren Abwesenheit offenbar auch im Abstand von mehr als siebzig Jahren immer noch schmerzt. Das bei Simon und Rouaud aus einer individuellen biographischen Betroffenheit erwachsende Bedürfnis, sich erzählerisch dem Ersten Weltkrieg zu nähern, findet in der spezifischen Erinnerungskultur der 1980er und 1990er Jahre einen kollektiven Rahmen. Ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen von L’Acacia wird in ganz Europa wieder sehr intensiv an den Ersten Weltkrieg erinnert, in einer Vielzahl von Gedenkfeiern, Fernsehproduktionen, Tagungen und historiographischen Studien. Auch in der französischen Literatur hat La Grande Guerre wieder Konjunktur, wie der Erfolg von Jean Echenozʼ 14 und die Verleihung des Prix Goncourt 2013 an Pierre Lemaitres Au revoir là-haut belegen. Gleichwohl kann das Thema in den 100-Jahr-Feiern nur noch als historisches Ereignis, nicht mehr als lebendiger Teil des Generationengedächtnisses behandelt werden. Genau diese Perspektive aber macht die besondere Intensität der französischen Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg in den 1980er und 1990er Jahren aus, für die Claude Simons L’Acacia ein eindrucksvolles Beispiel liefert. 222 DDossier Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, München, Beck, 1992. Audoin-Rouzeau, Stéphane / Becker, Annette, 14-18, retrouver la Guerre, Paris, Gallimard, 2000. Burmeister, Brigitte, Die Sinne und der Sinn. Erkundungen der Sprachwelt Claude Simons, Berlin, Matthes & Seitz, 2010. Dauge-Roth, Alexandre, „Autobiographie et biographie parentales dans L’Acacia“, in: Ralph Sarkonak (ed.), Claude Simon 2. L’écriture du féminin / masculin, Paris, Lettres modernes, 1997, 127-152. Duncan, Alastair B., „L’Acacia - Notice sur le texte“, in: Claude Simon, Œuvres II, ed. Alastair B. Duncan / Bérénice Bonhomme / David Zemmour, Paris, Gallimard, 2013, 1570-1587. —, „L’Acacia de Claude Simon: roman de deux guerres“, in: Pierre Schoentjes (ed.), La Grande Guerre. Un siècle de fictions romanesques, Genf, Droz, 2008, 277-289. Kaempfer, Jean, Poétique du récit de guerre, Paris, José Corti, 1998. Kennan, George F., The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875-1890, Princeton, Princeton University Press, 1979. Nitsch, Wolfram, „Von einer Katastrophe zur anderen. Claude Simon und sein neuer Roman L’Acacia“, in: Merkur, 497, 1990, 588-592. 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Das Thema erscheint auch in zahlreichen anderen Texten wie La corde raide, Histoire, La Bataille de Pharsale, Les Géorgiques, L’Acacia, Le Jardin des Plantes. 223 DDossier 2 Vor allem in Le Palace. 3 In seiner Studie Poétique du récit de guerre stellt Kaempfer vormoderne und moderne Kriegsberichte bzw. Kriegsromane einander gegenüber. Er zeigt dabei, dass sich die modernen Texte einerseits durch die bewusste Wahl einer stark eingeschränkten, subjektiven Perspektive den Mustern des epischen Erzählens verweigern, andererseits aber nicht völlig auf archetypische Elemente des récit de guerre verzichten können. Bezeichnenderweise wählt Kaempfer als Ausgangspunkt seiner Untersuchung Claude Simons Roman La Bataille de Pharsale. 4 Dies ist besonders in Les Géorgiques der Fall; cf. hierzu meine Überlegungen in Schreckenberg 2006 und Schreckenberg 2003: 107-137; allgemein zu Simons Auseinandersetzung mit sinnstiftenden Interpretationen der Geschichte und der Frage der sprachlichen Darstellbarkeit des Krieges cf. auch Duncan 2008: 277-280. 5 Nach der bekannt gewordenen Formulierung von George F. Kennan („the great seminal catastrophe of this century“, Kennan 1979: 3). 6 Zu nennen ist allerdings eine knapp zweiseitige Passage aus Le Tricheur (1945), in welcher der Protagonist beschreibt, wie er als kleiner Junge die Mutter nach dem Ende des Krieges auf ihrer Suche nach dem Grab des gefallenen Vaters begleitet (Simon 1945: 44- 46). Auf diese Episode, die Simon in L’Acacia wieder aufgreift, wird noch zurückzukommen sein. 7 Cf. die Einschätzung von Ralph Sarkonak (1991: 218): „En fait, L’Acacia se présente comme une véritable somme romanesque qui ‚contient‘ les autres textes de Simon“. 8 Duncan 2013: 1577. 9 Die vollständige Abfolge der Kapitelüberschriften lautet: I 1919; II 17 mai 1940; III 27 août 1914; IV 17 mai 1940; VI 27 août 1939; VII 1982-1914; VIII 1939-1940; IX 1914; X 1940; XI 1910-1914-1940; XII 1940. 10 Mary M. Perramond spricht von einem „effet de brouillage entre les identités du père et du fils, tous les deux ayant vécu la guerre presque au même endroit géographique à vingt-six ans d’écart“ (Perramond 1992: 736). 11 „La recherche de sa tombe fait peser la mort du capitaine sur tout le roman: ses parents - la veuve, les deux sœurs, le fils ‒ apparaissent dès l’incipit comme des survivants“ (Duncan 2013: 1577). 12 Alexandre Dauge-Roth (1997: 128sqq.) bezeichnet L’Acacia als „une autobiographie à la troisième personne“. 13 Schon in der kurzen Erwähnung in Le Tricheur verweist der Protagonist auf die Entstehung dieser Familienlegende: „Combien de fois est-ce qu’elle avait dû se faire raconter sa mort, pauvre femme, et elle avait tout écrit dans ce cahier: ‚A mon fils‘ [ ]. Elle s’était bien fait décrire l’endroit par ce type [ ] qui peut-être inventait par-dessus le marché toute cette histoire“ (Simon 1945: 44). 14 „[O]n a ainsi vu les auteurs d’actions d’éclat déformer les faits pourtant à leur avantage dans le seul but inconscient de les rendre conformes à des modèles préétablis“ (Simon 1989: 326). 15 Cf. auch Burmeister 2010: 156: „Der Roman, der mit der Suche nach einem toten Soldaten begann, endet bei der Geburt eines Schriftstellers“. 16 Cf. Dauge-Roth 1997: 147: „La configuration globale de L’Acacia, en entremêlant autobiographie et biographies familiales, construit donc une vision relationnelle de l’identité où le sujet se découvre autant à travers la configuration d’un destin similaire qu’à travers sa propre existence“; cf. auch Nitsch 1990: 591: „Die traumatische Konfrontation mit dem Außenbereich des Todes enthüllt dem Mobilisierten seine bisherige Nichtexistenz, 224 DDossier erschüttert aber zugleich so nachhaltig seine Identität, dass ihm seine eigenen Schrecken erst über die Analogie zu denen des Vaters wieder zugänglich werden - und nachträglich zur Sprache kommen: Der Heimgekehrte findet allmählich aus seiner Verstörung zu den Büchern und übers Zeichnen zum Schreiben“. 17 Die Beschreibung der Akazie vor dem geöffneten Fenster am Ende von L’Acacia ist eine eindeutige, zum Teil wörtliche Wiederaufnahme des Romananfangs von Histoire, so als wolle der Autor andeuten, dass sich hier ein offener Kreis schließt. Auch in Histoire ist die Beziehung der Eltern ein Thema, allerdings erscheint hier der Vater nur als Abwesender, als Unterzeichner der an die Mutter gesendeten Postkarten. Anders als in L’Acacia steht am Ende von Histoire die explizite Infragestellung der Identität des Erzählers; cf. hierzu Perramond 1992. 18 Cf. Duncan 2008: 1304: „Dans L’Acacia [ ] la guerre sert à former, à intégrer la personne. Dans La Route des Flandres, elle l’empêche de progresser, elle la fige“. Weniger optimistisch ist in diesem Punkt die Lektüre von Wolfram Nitsch. Er bezeichnet das Ende von L’Acacia als eine „Geburt des Romans aus dem Geist der Katastrophe“ und nicht als eine „mit allem versöhnende literarische Berufung“ (Nitsch 1990: 591). Auch dem Roman L’Acacia bleiben Tod und Opfer eingeschrieben. Mit Blick auf die folgenden Texte Simons, vor allem Le Jardin des Plantes, scheint diese Skepsis durchaus angebracht. 19 Bereits in der Passage in Le Tricheur deutet sich an, welche Belastung die lebenslange Trauer der Mutter auch für den Sohn dargestellt haben mag: „Comment a-t-elle pu rester des années et des années ainsi à ruminer sa douleur, gluante et froide dans sa bouche, gardant sa photo près de son lit“ (Simon 1945: 46). 20 Ich danke für diesen Hinweis Wolfram Nitsch, einem der Organisatoren der Ausstellung Claude Simon en Allemagne / Claude Simon in Deutschland, die Ende 2013 in der Bibliotheca Reiner Speck in Köln stattfand und in deren Rahmen die genannten Manuskriptseiten gezeigt wurden. 21 Cf. Duncan 2013: 1570. 22 Eine ähnliche Feststellung macht Pierre Schoentjes mit Blick auf die literarische Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg im Vorwort zu dem Tagungsband La Grande Guerre - un siècle de fictions romanesques: „Aujourd’hui à nouveau, après une absence remarquable entre 1945 et 1980, la Grande Guerre s’impose aux écrivains“ (Schoentjes 2008: 7). 23 Ich verwende die Begriffe hier im Sinne von Assmann 1992. 24 Zur Unterscheidung von mémoire und histoire siehe Nora 1984. 25 Siehe hierzu auch Duncan: „Dans L’Acacia, plus que dans des romans antérieurs, Simon met l’accent sur l’expérience collective des Français. [ ] Les personnages sont typiques de la France d’une certaine époque“ (2013: 1580-1581). 26 Audoin-Rouzeau und Becker betonen die Bedeutung der Suche nach den Gräbern für die Hinterbliebenen: „Ce qui manqua si cruellement aux endeuillés de guerre - et de la Grande Guerre en particulier ‒, ce fut le corps de ceux qui étaient morts“ (2000: 245). 27 1982 sucht Simon seine um einige Jahre älteren Kusinen auf, die seinen Vater noch persönlich kennengelernt haben. Der Erzähler lässt sich von ihnen vor allem den Moment schildern, als sie 1914 Nachricht vom Tod des Hauptmanns erhalten. Der Besuch wird in Kapitel VII des Romans verarbeitet, cf. Simon 1989: 209-212. 28 Am Rande der Zeremonie bringt Dellaplane diese Meinung seinem Vorgesetzten gegenüber deutlich zum Ausdruck: „eux [i. e. le gouvernement et le haut-commandement militaire], ça les rassure; ils en ont fait tuer un million cinq cent mille; et maintenant on ne 225 DDossier pensera plus qu’à celui-là, ce subterfuge est un scandale“ (La vie et rien d’autre; ca. 2: 00: 25 bis 2: 00: 36). 29 Rouauds Erstling verkauft sich in vier Monaten eine halbe Million Mal und gewinnt den Prix Goncourt. Zum Verhältnis von Simon und Rouaud siehe Ziegler-Stryczek 1998. 30 In letzten Teil von Les champs d’honneur schildert der Erzähler, wie sein Großvater sich 1929 auf den Weg macht, die Überreste seines Bruders zu finden und heimzuholen. Dabei stößt er, genau wie die Witwe in L’Acacia, auf ein Grab mit zwei Leichnamen, so dass der Gesuchte nicht eindeutig zu identifizieren ist.