eJournals lendemains 36/141

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Narr Verlag Tübingen
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2011
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Baudelaire als Lebensretter: Nachruf auf Friedhelm Kemp (1914–2011)

2011
Werner von Koppenfels
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136 In memoriam Werner von Koppenfels Baudelaire als Lebensretter: Nachruf auf Friedhelm Kemp (1914-2011) Dolmetscher in Kriegszeiten, Verlagslektor, Rundfunkredakteur, Kritiker, Essayist, Anthologist, Herausgeber, Übersetzer aus mehreren europäischen Sprachen, auch Dichter, wie man spät erfuhr, eines schmalen, eindringlichen Oeuvre, zuletzt noch Honorarprofessor für Komparatistik an der Münchner Universität - wie läßt sich soviel Spracharbeit in einem Menschenleben unterbringen, auch wenn seine geistige und physische Spannkraft wie bei Friedhelm Kemp bis ins wahrhaft hohe Alter vorhält? Ohne dem Phänomen zu nahe zu treten, darf man vermuten: Dazu gehört nicht nur eine gesegnete Konstitution, sondern vor allem leidenschaftliche Neugier, immense Belesenheit und ein ebensolches Wissen, zusammen mit dem unabweisbaren Bedürfnis nach Analyse, Ausdruck, Mitteilung, Vermittlung. Friedhelm Kemp wußte sich und was ihm literarisch am Herzen lag, meisterhaft und zugleich brüderlich mitzuteilen, ob in seinen denkbar vielfältigen Büchern oder in Radiosendungen, Feuilletonaufsätzen, Lesungen; nicht zuletzt als unermüdlicher, immer anregender Gesprächspartner in seinen Akademien, der Bayerischen und der Darmstädter, oder auch, druckreif beredt und umrahmt von einer wunderbaren Sammlung geliebter Bücher, in der gastlichen Münchner Wohnung, Eingang Paradiesstraße. Er lebte exemplarisch vor, was die Philologie heutzutage weitgehend vergessen hat, daß nämlich philologische Verantwortung keineswegs einem abstrakten Wissenschaftsideal gilt, sondern einer literarischen Öffentlichkeit, die die raison d ’ être der Literaturwissenschaft ist, und deren Exitus man möglicherweise voreilig diagnostiziert hat. Seit er bei Karl Voßler über „Baudelaire und das Christentum“ promovierte, war die französische Poesie - abgesehen von der Dichtung der Goethezeit - der Leitstern seiner literarischen Interessen. Die Dissertation erschien im Kriegsjahr 1939, unter einem Regime, das der aus liberalem Kölner Elternhaus Stammende herzhaft verabscheute. Frankreich hat er erst danach kennengelernt, „in einem Kostüm, das seinen Träger dort nicht gerade beliebt machte.“ Baudelaire habe ihm damals das Leben gerettet, pflegte er später metonymisch zu sagen; sein Dolmetschen nahm ihn aus der Schußlinie und übte den künftigen Übersetzer, und seine Witterung für Poesie führte ihn auf die Spur lebender französischer Dichter, darunter Saint-John Perse, dessen Hauptwerke er später übertrug. Als nach dem Krieg das ’Fenster nach Westen’ wieder geöffnet wurde, stand am Anfang seiner intensiven, breitgefächerten Übersetzertätigkeit wiederum Baudelaire mit den Journaux intimes, danach mit der Prosafassung der Fleurs du Mal, ein Neubeginn, der Jahrzehnte später zur achtbändigen, reich kommentierten 137 In memoriam deutschen Baudelaire-Ausgabe führen sollte. Kemps Mittlerinteresse galt freilich einer modernen französischen Literatur abseits der stärker modischen Importe von Existentialismus oder Nouveau Roman. Die Liste der Autoren, die er als Lektor des Kösel-Verlags in der Reihe Contemporains veröffentlichte und in viel Fällen selbst übertrug, spricht Bände: Yves Bonnefoy, Roger Caillois, Max Jacob, Philippe Jaccottet, Jean Paulhan, Pierre Reverdy und Louis-René des Forêts finden sich darunter. Besonders Bonnefoy und Jacottet, die seine Altersgefährten waren und seine Freunde wurden, ist er als Übersetzer über lange Jahre treu geblieben. Doch auch in der deutschen Literatur hat er sich als Entdecker bewährt, und in seinen sorgfältig redigierten Ausgaben nicht nur Unbekanntes aus dem Werk von Clemens Brentano, Else Lasker-Schüler und vielen anderen zugänglich gemacht, sondern so vernachlässigte Dichter wie Theodor Däubler, Rudolf Borchardt, Konrad Weiß und Peter Gan publiziert. Eine charakteristische Rolle kommt bei Kemps Mittlermission seinen Anthologien zu. Die mit H.E. Holthusen herausgegebene Gedichtsammlung Ergriffenes Dasein von 1953 war für viele jüngere Leser im Nachkriegsdeutschland die erste Begegnung mit der großen lyrischen Tradition ihres Jahrhunderts. Die Deutsche geistliche Dichtung (1958) bezeugt nicht zuletzt Kemps starkes und kundiges Interesse für die Barockzeit, das sich auch auf die Nachbarliteraturen erstreckte. Noch in der vierbändigen, eingehend kommentierten Anthologie Französische Dichtung von 1990, die er herausgegeben hat und die viele Neuübertragungen von seiner Hand enthält, ist die Renaissance und das, was die Franzosen gern schamhaft préclassicisme nennen, besonders nachhaltig vertreten - ein hierzulande fast unbekanntes poetisches Terrain. In zweisprachiger Lektüre kann der deutsche Leser dank der expressiven Kempschen Nachdichtung dort den hohen poetischen Reiz eines Maurice Scève oder Agrippa d’Aubigné entdecken, aber auch die Rätselsprüche des Nostradamus oder Goethe als Übersetzer der ‚Kannibalenlieder‘ Montaignes. Die zünftige Romanistik zeigte sich an solchen beherzten Brückenschlägen, die sich immerhin auf Vorgänger wie Voßler und Curtius berufen können, akademisch uninteressiert. Das Alter blieb für Friedhelm Kemp Erntezeit. Seine Münchner Vorlesungen über das europäische Sonett erschienen 2002 in einer zweibändigen Ausgabe, die den vielsprachigen Horizont dieses Philologen im etymologischen wie im weiteren Sinn des Wortes auf jeder Seite bezeugt. Auf sehr persönliche Weise tut dies auch seine Rede über die Poesie mit dem Celan-Titel „Gen Unverklungen“ von 2006. Er war immer ein Mann des Wortes, nie des Kulturgeredes, mit Preisen bedacht, aber nicht vom Betrieb zu vereinnahmen, ein begnadeter Bücher- und Menschensammler, mit unzeitgemäßen Standards, doch frei von wohlfeilem Kulturpessimismus. Seine Heiterkeit kam nicht von der Oberfläche. Am 3. März ist er, 96-jährig, im Kreis seiner Familie gestorben. We shall not look upon his like again.