eJournals lendemains 36/142-143

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2011
36142-143

H. van den Berg/W. Fähnders (eds.): Metzler Lexikon Avantgarde

2011
Hanno Ehrlicher
ldm36142-1430284
282 Comptes rendus Dass das Essen und die mit ihm verbundenen Rituale auch in der jüngsten Gegenwart noch einen wesentlicher Anlass und Archetyp des Fremdverstehens und der Missverständnisse darstellen, macht eine der Episoden aus Götzes neuem Buch sehr anschaulich. Sie stammt aus dem Zusammenhang des studentischen Austausches und handelt von einer deutschen Gastgruppe aus Tübingen, die ein gemeinsames Essen mit festgelegter Speisenfolge und Sitzordnung in der Nähe der Sainte-Victoire individualistisch und ökologisch zu unterlaufen sucht, dies mittels einer Art Bestehenwollen auf dem à la carte Prinzip, dann durch den Austausch von Speiseanteilen, schließlich durch Absonderung an andere Tische, ein Vorgang, in dem jedenfalls den einladenden französischen Germanistikprofessoren deutscher Herkunft eine nicht leicht zu handhabende Mischung von fehlender kulinarischer Erfahrung (Lammfleisch als Hauptgang, kenn ich nicht, mag ich nicht, Knoblauch auch nicht), jugendlichen Ängsten und postmoderner Individualisierung entgegentrat, welche Koch und Gastwirt beleidigte, aber auch die zur Seminargruppe gehörenden französischen Studierenden verwunderte, nicht zuletzt deswegen, weil schon bei der Sitzordnung angefangen, die deutschen Studierenden keinen Respekt gegenüber den Professoren kannten, und so schließlich weder Ordnung noch genussvolle convivialité nach französischer Art aufkommen konnte. Götze ist zu sehr vorzüglicher Schreiber und naturwüchsiger Materialist, um über solche Erfahrungen in Larmoyanz zu verfallen. Er bietet plausible Hypothesen an, differenziert diese sogleich wieder, ohne indes je in einen ubiquitären Relativismus zu pflegen. Mit Ernüchterung liest sich aus dem Bezirk des Essens die amüsierte Beschreibung der dürftigen Mensa in Aix-en-Provence, die mir, 1968 aus Freiburg kommend (Normalmenü: Leberkäs, Spinat, Kartoffeln) während meines Gastsemesters dank faux-filet und Baumkuchen noch als wahres Paradies erschienen war. Die Beschreibung der Fleischstücke und ihrer Namen anlässlich des Einkaufs auf dem Markt von Aix hingegen kompensiert jeden Gedanken an Mangel durch ihren Reichtum, ihre Präzision wie ihre Anschaulichkeit. Die auf den späteren Genuss hin orientierte Warenkunde geht einher mit kulturanthropologischer Reflexion, Hinweisen auf kulturgeschichtliche nationale Besonderheiten wie auf schichtenspezifisches Essverhalten. Sie wird begleitet von einer Kulturgeographie der besten Lagen für jedes Produkt. Die Narration weitet sich schließlich zur Restaurantgeschichte, die mit den Köchen des depossedierten Adels beginnt. Der Verfasser eines Buches auch über die französischen Meisterköche und selbst, wie ich jüngst erfahren durfte, begnadeter Koch, verfällt jedoch weder in deutsche Übergründlichkeit noch in wohlfeiles Theoretisieren, immer bleibt er Physiologist und Liebhaber der Materie, die er behandelt, und stets findet er die aufschließende stilistische Formel oder den plastischen Vergleich, um seinen Gegenstand ins richtige Licht zurücken. Etwa, wenn er die kulinarische Unterentwicklung Deutschlands mit dem gegen französische Essdekadenz gerichteten poetischen Lob der Kartoffel von Matthias Claudius veranschaulicht. „Meine Studenten bestaunten mein Rad und meine Tat“, heißt es bündig in den Präliminarien zum Kapitel über die Tour de France, um zu charakterisieren, dass in Frankreich - wir sind bei der Episode in den 1980er Jahren - weder ein Professor noch ein Student mit dem Rad zur Universität fuhr, und schon gar nicht einen „Halbrenner“ mit Gepäckträger, im Lande Anquetils. Und für den Verlauf der Tour, die an den Sehenswürdigkeiten der Geschichte entlangführt und die Schönheit wie die regionale Vielfalt Frankreichs zur indirekten Geltung bringt, dazu jedmalig in Paris endet, findet Götze die schöne Formel 283 Comptes rendus vom „Abbild des französischen, französisch-republikanischen Modells (…): natürliche, geschichtliche, regionale Vielfalt, am Ende gebündelt auf ein selbstverständliches von allen akzeptiertes Zentrum hin, wo derjenige siegt, der der beste war, derjenige, der es vor allen anderen verdient hat.“ Das Radrennen ist also organisiert wie ein Concours in nationalidentitärer und sozialversöhnlicher Absicht. Die Tour de France weiß das konservative und das republikanische Frankreich („les deux France“) emotiv-mental zu binden, und es schließt auch die „classes populaires“ ein, aus denen die Sieger in der Regel stammen. Hier wie in den anderen Kapiteln, die vom Wein, der Mode, den Frauen und der Politik handeln, ist man erfreut und zugleich belehrt über die Perspektiven und Blickwechsel, die Götze seinen Gegenständen abgewinnt. Immer ist der Verfasser auf der Suche nach der Verschiedenheit bzw. dem in die Gewohnheit eingezogenen gesellschaftlich-kulturellen Substrat, die den Interessepunkt interkultureller Forschung ausmachen. Immer sucht er aber auch nach den Angleichungsprozessen, welche die Differenzen verwischen bzw. diese auf einer neuen Ebene reproduzieren. Bereits in dem Vorgängerbuch „Französische Affairen. Ansichten von Frankreich (1995) hatte Götze mit den Feldern Schul-, Tisch- und Raumordnung informationsdichte Darstellungen des französischen Bildungswesens, der Bildungskarrieren, auch der Esskultur und der sozialen Durchdringung des Raums am Beispiel von Paris (beaux quartiers und banlieue) vorgestellt. Die neuen Studien reflektieren stärker noch auf die Veränderungen, die der Globalisierung bzw. dem amerikanischen Einfluss geschuldet sind. So die Tendenz zu Weinsorten, deren Namen kein Herkunftsgebiet mehr anzeigen, sondern sich nur noch nach Geschmacksrichtungen definieren. So entsteht, wie Götze zeigt, ein globaler Universalismus für Mittelschichten, die noch Wein trinken, die Mühe der Kennerschaft meiden, jedoch an Berechenbarkeit und Qualität des Produkts ebenso interessiert sind wie der Produzent an geregeltem Absatz; sodass sich die Rezepturen global zu ähneln beginnen und sich die Kassandrarufe Adornos aus der Dialektik der Aufklärung zu erfüllen scheinen, wonach die instrumentelle Vernunft dem Inkommensurablen, hier von Jahrgang und Lage, keinen Raum mehr lassen werde. Ähnliche Wege geht auch schon lange die Mode mit der Entwicklung von der Haute Couture zum prêt-à-porter und der Pluralisierung der Modezentren. Dies ändert nach Götze jedoch nicht völlig die kurrenten Mythen, die sowohl beim Wein wie bei der Mode Frankreich die Gründungsleistung ebenso zuschreiben wie sie ihm ein gehöriges Quantum an Geltung belassen. Nicht beschrieben werden kann in der Kürze einer Rezension das Kapitel über die französische(n) Frau(en) angesichts der sehr ausführlichen theoretisch-methodischen Ausführungen, mit denen der Verfasser die hier bereitstehenden diskursiven Fallen vermeiden will. Auch hier dominiert zunächst der kulturgeschichtliche Blick. Die These, dass eine in der Geschichte des Ancien Régime und seiner kultureller Praktiken erworbene und bis heute verstetigte Fähigkeit der Frauen zur Verführung sich gleichsam fugenlos mit Berufstätigkeit, Kinderreichtum und Machtzuwachs in der Politik paaren und letzteren noch stärken und steigern könne, ist nicht unsympathisch, angesichts der jüngsten Debatten um Strauss-Kahn und die Folgen vielleicht doch etwas schönend. Mit „Revolution betitelt ist das Schlusskapitel, das sich phänomenologisch an einem Republikanismus der Verfassung und einem eher despotischen Glanz der Machtrituale entzündet („Frankreich hat seinen König geköpft, aber die Schlösser behalten und die Ri- 284 Comptes rendus ten, die dazu gehören“). Belege sind u.a. die politischen Ansprachen. Während der französische Präsident sich im Fernsehen in Louis XVI-Mobiliar präsentiert und rhetorisch „grandeur“ zelebriert, sitzt der deutsche Kanzler vor „mittelpreisigen“ Einrichtungen und spricht wie einer von nebenan, was dazu führen kann, dass man bei der Neujahrsansprache aus Versehen die Rede aus dem letzten Jahr einspielt. In diesem Kapitel mündet das bisher immer schon mitschwingende Thema des deutsch-französischen Kulturvergleichs in große geschichtliche Linien („Die deutsche Revolution (sc. von 1848) mit der dreifachen Aufgabe befrachtet die nationale Einheit herzustellen, die Freiheit zu garantieren und sich der neuen sozialen Frage zu stellen, verfehlte alle drei…“). Entfaltet wird die politische Dimension der Deutungsmuster Kultur/ Civilisation. Ins Auge gefasst wird die beginnende Korrosion der Elitenerziehung. Das Augenmerk gilt den populistischen Umschichtungen im Régime Sarkozys im Medium der Geschichte (Napoleon). Besonders aufschlussreich zu lesen sind auch die Darlegungen zum jüngsten Universitätsstreik, in denen die Position des Skeptikers ebenso spürbar ist, wie die des Universitätsmenschen deutscher Herkunft, der besser als andere erklären kann, dass und wie sich der im Staat inkarnierte Allgemeinwille und der mit der Reform intendierte Despotismus des Partikularen au fond widersprachen, sie im französischen System eine Art verdeckten Kulturbruch darstellten, der Widerstand provozieren musste. Die Frage der Herkunft im bilateralen politischen Kontext kommt anrührend da zum Ausdruck, wo Götze seinen Weg 1968 nach Frankreich in den Zusammenhang der Heine, Marx und vieler anderer stellt, die im Nachbarland ein Vorbild sahen, den Weg aber nicht mehr zurückfanden. Ein progressistischer Germanist mit französischer Lebensart und bestem Schreibstil, der die Fachgeschichte im Vormärz auf das Gründlichste mit Klugheit erforscht hat, der mit Peter Weiss das Werk eines Quasiexilanten zum Gegenstand einer tief spürenden Habilitation über das Verhältnis von Kunst und Politik wählte und der zu den besten Kennern der deutschen Literatur des 20. Jahrhundert gehört, ein solcher hätte unter anderen Umständen und in einem anderen, weltläufigeren Fach durchaus den Weg zurückfinden können. Dass dies nicht geschah, lässt uns ebenso einen Kulturwissenschaftler und Kulturmittler von Rang lesen, der aus der Tatsache, dass er über „keine Zugehörigkeit mehr verfügt“, den Anlass zum Schreiben sucht. Heinz Thoma HUBERT VAN DEN BERG/ WALTER FÄHNDERS (EDS.): METZLER LEXIKON AVANT- GARDE. STUTTGART/ WEIMAR: J. B. METZLER 2009 Der Stuttgarter Metzler-Verlag, der schon seit Jahrzehnten unter Studierenden und Lehrenden der Literaturwissenschaft mit seiner Sammlung Metzler bekannt ist und in keiner noch so spärlich ausgestatteten Studienbibliothek fehlt, profiliert sich seit geraumer Zeit zunehmend auch mit lexikographischen Werken in diesem Bereich. Mit dem Lexikon Avantgarde liegt nun ein weiteres Handbuch vor, das sich natürlich vollkommen in die bisherige Reihe einfügt, was Preis, Aufmachung und nutzerorientierte Gestaltungsweise betrifft, aber doch zugleich daraus ausschert, insofern es die sonst übliche nationalphilologische Einteilung der Literatur hinter sich lässt. Und das ist gut so, denn es ist der behandelten ‚Sache’ geschuldet. Der in Groningen lehrende Hubert van den Berg, der 285 Comptes rendus ebenso wie sein Mitherausgeber und Osnabrücker Kollege Walter Fähnders als ausgewiesener Avantgarde-Spezialist bekannt ist, hat schon vor längerem mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass die oft staaten- und sprachenübergreifenden Organisationsformen der Avantgarde von einer nach nationalphilologischer Arbeitsteilung operierenden Forschung bisher nicht angemessen berücksichtigt wurden und deshalb eine „übernationale Annäherung an die avantgardistische Literatur“ gefordert. 1 Eine erste Frage, die sich dem Rezensenten stellt, ist deshalb, ob das Lexikon diesem selbst formulierten Imperativ nachgekommen ist. Es ist das wohl bemerkenswerteste Verdienst des Werkes, dass es sowohl durch die Auswahl der Autoren (es wurden rund achtzig Autoren aus über einem Duzend Länder rekrutiert) als auch durch die Anlage der Lemmata erreicht, die Avantgarde geographisch in ihrer ganzen Breite und kulturellen Diversifikation abzubilden. Natürlich werden die Hauptströmungen der ‚klassischen’ Avantgarden des 20. Jahrhunderts und ihre nationalen Wirkungsschwerpunkte in Italien (Futurismus), Deutschland (Expressionismus und Dada), Frankreich (Surrealismus) und Russland (als dem Zentrum der Avantgarden Osteuropas) in eigenen Artikeln behandelt und auch sonst immer wieder besprochen. Darüber hinaus kommen aber auch zahlreiche Länder in den Blick, die in der Forschung bislang als vermeintlich randständige Gebiete vernachlässigt wurden und einem breiteren Publikum als Wirkungsstätten der Avantgarde noch weitgehend unbekannt sein dürften: Artikel zu Dänemark, Estland, Finnland, Georgien, Griechenland, Irland, Island, Kroatien bis hin zu europäischen Kleinstaaten wie Luxemburg halten sicher für jeden Leser neue Informationen bereit. Damit ist geographisch eine Ausweitung von den ‚Zentren’ zu den ‚Peripherien’ erreicht, was eine bemerkenswerte Leistung der Herausgeber darstellt und sich logistisch einer internationalen Vernetzung verdankt, die weit über sonst übliche Maß vergleichbarer Lexika (auch bei Metzler) hinausgeht. Eine ‚übernationale’ Perspektivierung der Avantgarde bedeutet diese Ausweitung auf bisher vernachlässigte Nationen an sich aber noch nicht. Sie ergibt sich, wenn man weiterhin die Lemmata berücksichtigt, in denen das Wirkungsgebiet der Avantgarde nicht nach nationalstaatlichen Kriterien eingeteilt wird, sondern Sprach- und Kulturräume Berücksichtigung finden, die supranationaler Natur sind. Dies ist beispielsweise in den sprachbezogenen Einträgen zu „Esperanto“, „Jiddische Avantgarde“ und den länderübergreifend-kulturräumlich ausgerichteten Lemmata zur „arabischen Avantgarde“ oder zu „Hispanoamerika“ der Fall. Die Abwendung vom nationalstaatlichen Paradigma wird umgekehrt auch in einer Reihe von geographisch orientierten Einträgen deutlich, die sich infranational auf eine bestimmte Region („Quebec“), Stadt („Wiener Aktionismus“ und „Wiener Gruppe“) oder gar einen Stadtteil beziehen („Harlem Renaissance“). Eine Übersicht über die geographischen Stichwörter lässt dabei erkennen, dass Europa, das in seiner ganzen kulturellen Vielfalt berücksichtigt ist, eindeutig den Schwerpunkt dieses Avantgardelexikons bildet. Diese geographische Schwerpunktset- 1 Hubert van den Berg: „‘Übernationalität’ der Avantgarde - (Inter)Nationalität der Forschung. Hinweis auf den internationalen Konstruktivismus in der europäischen Literatur und die Problematik ihrer literaturwissenschaftlichen Erfassung“. In: Wolfgang Asholt/ Walter Fähnders (eds.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik - Avantgardeforschung, Amsterdam/ Atlanta: Rodopi 2000, 255-288. 286 Comptes rendus zung gleich als Eurozentrismus verurteilen zu wollen, wäre allerdings vorschnelle und wohlfeile Ideologiekritik und ginge nicht nur an der Tatsache vorbei, dass sich das Lexikon pragmatisch an der Bedürfnis- und Interessenlage des deutschsprachigen Publikums zu orientieren hat, sondern auch am Faktum, dass die Globalisierung der Avantgarden ihren historischen Ausgangspunkt in der Tat in Europa hatte, das bis zum zweiten Weltkrieg dominant für die Entwicklung der Künste blieb, bevor es seine kulturelle Hegemonie an Nordamerika abgab. 2 Umso bemerkenswerter, in wie starkem Maße die Eigenständigkeit der Entwicklungen jenseits Europas betont und keineswegs als quantité négligeable vernachlässigt wird. Der amerikanische Kontinent wird nicht - wie in deutscher Perspektive leider so häufig - mit den USA gleichgesetzt, sondern kulturell differenzierend behandelt. Im sehr ausführlichen Artikel zu Hispanoamerika (13 Spalten im Vergleich zu 8 Spalten für Spanien) trägt der Autor der Heterogenität Südamerikas angemessen Rechnung; die Autonomie des portugiesischen Sprachraums wird mit einem Lemma zu „Brasilien“ ebenfalls berücksichtigt, der Terminus „Lateinamerika“ dagegen im gleichlautenden Stichwort als zu undifferenziert explizit abgelehnt. Nordamerika wiederum ist geographisch in „USA“ und „Kanada“ unterteilt, wobei „Quebec“ mit einem eigenen Eintrag den Sonderstatus erhält, den es sprachlich und kulturell beanspruchen kann. Einträge zu „Israel“ und „Japan“ bieten weitere Einblicke in die Avantgardeentwicklung über den europäischen Kontinent hinaus. Die Auswahl der geographischen Lemmata zeugt so insgesamt von einer hohen kulturellen Differenzierung, ohne dabei einen Globus der kulturellen Gleichwertigkeit zu ergeben, der sicher ein politisch wünschenswertes Ziel darstellen würde, aber nicht den historischen Tatsachen entspräche. Nicht alle Besonderheiten sind dabei berücksichtigt. Der Katalanist in mir beispielsweise hätte sich natürlich einen eigenen Eintrag zu Katalonien gewünscht, das für die Rezeption der zentraleuropäischen Avantgarden in Spanien durchaus entscheidend war und mit Barcelona nicht nur einen attraktiven Ort des Exils für Avantgardekünstler während des ersten Weltkriegs bot, sondern schon sprachbedingt eigenständige Formen der Avantgarde hervorgebracht hat, die im Artikel zu Spanien nicht erwähnt sind. 3 Mancher Spezialist der frankophonen oder lusophonen Literaturen würde es seinerseits vielleicht bedauern, dass weder der Maghreb noch das portugiesischsprachige Afrika auf der Karte der Avantgarde erscheint, und Kenner der mittel- und fernöstlichen Künste könnten zu Recht darauf hinweisen, dass die Experimente der Avantgarden auch außerhalb Israels oder Japans wahrgenommen und kulturell anverwandelt wurden. Die Ausdifferenzierung ließe sich prinzipiell also noch weiter verfeinern, aber praktisch betrachtet bildet das vorgelegte Lexikon eine bisher anderswo in dieser Form noch kaum erreichte geographische Vielfalt der Avantgarden ab und setzt damit einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einer transnational ausgerichteten Forschung, was jeder Leser anerkennen muss, der von eigenen Partikularinteressen abzusehen vermag. 2 Im Lexikon Avantgarde, das in seinen geographischen Lemmata insgesamt sehr kritisch mit dieser faktischen kulturellen Hegemonie der USA umgeht, zeigt sich der historische Schwerpunktwechsel des Avantgardeparadigmas indirekt daran, dass die Lemmata zu den neueren und neuesten Tendenzen der Avantgarde meist englischsprachig sind: „Action Painting“, „Cyberpunk“, „Factory“, „Guerilla Girls“, „Land Art“, „Living Theater“ etc. 3 Vgl. Las Vanguardias en Cataluña 1906-1039. Ausstellungskatalog. Barcelona: Fundació Caixa de Catalunya 1992.