eJournals lendemains 36/142-143

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2011
36142-143

Paris als theatraler Schauplatz in deutschen Texten über die Französische Revolution: Joachim H. Campe, Christian A. Vulpius und Ernst K. L. Ysenburg von Buri

2011
Romana Weiershausen
ldm36142-1430164
162 Dossier 12 Vgl. beispielsweise: Christian Schmitt: „In der Kutsche: Heterotoper Raum und heterogene Gemeinschaft in Achim von Arnims »Isabella von Ägypten«“, in: Pape, op. cit., 223- 235; Susanne Greilich: „Imaginativer und imaginärer Raum. Der Orient Gérard de Nervals“, in: Müller/ Stemmler, op. cit., 33-47, sowie: Barbara Thums: „Das Kloster als imaginierte Heterotopie um 1800“, in: Steigerwald/ Behrens, op. cit., 37-51. 13 Vgl. Greilich, op. cit. 14 Den Begriff entleihe ich bei Rudolph Behrens: „Räumliche Dimensionen imaginativer Subjektkonstitution um 1800 (Rousseau, Senancour, Chateaubriand)“, in: Mülder-Bach/ Neumann, op. cit., 28-63, 28sq. 15 So basiert Voyage en Orient insbesondere auf den Erfahrungen der Orientreise des Jahres 1843 sowie einer Reise nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz, die Nerval von Ende Oktober 1839 bis März 1840 unternommen hatte. Lorely ist vor allem aus den Erlebnissen seiner gemeinsamen Reise mit Alexandre Dumas nach Deutschland im August und September 1838 hervorgegangen; Nerval verarbeitet insbesondere im letzten Teil der Lorely aber auch Erfahrungen weiterer Reisen nach Deutschland, Belgien und Holland. Noch kurz vor der Veröffentlichung der Lorely war Nerval im Mai 1852 von einer Kurzreise nach Holland zurückgekommen. 16 Gérard de Nerval: Lorely. Souvenirs d’Allemagne, in: Œuvres complètes, t. III, hg. v. Jean Guillaume, Claude Pichois, u.a., Paris, Gallimard, 1993, 183. 17 Ibid., 184. 18 Für die entsprechenden Textpassagen vgl. Lorely, 179, 34-35 und 53, sowie: Gérard de Nerval: Voyage en Orient, hg. v. Jean Guillaume, Claude Pichois, Paris, Gallimard, 1998, 58-60, 373. 19 Lorely, 14, und Voyage en Orient, 61. 20 Lorely, 43. 21 Vgl. die entsprechenden Passagen in: Lorely, 43, 187, 35 und Voyage en Orient, 60, 341. 22 Lorely, 14. 23 Voyage en Orient, 60. 24 Lorely, 15. Vgl. auch: Lorely, 38: „ La même raison m’interdirait la description intérieure de Mannheim, si je n’étais pas habitué à traverser les villes en flâneur plutôt qu’en touriste.“ 25 Voyage en Orient, 176. 26 In diesem Sinne ist die Inszenierung als Alleinreisender, die Nerval im Voyage en Orient vornimmt (seinen Begleiter Fonfrède erwähnt er mit keinem Wort) und die sich - trotz mehrerer flüchtiger Verweise auf Alexandre Dumas - auch für die Lorely konstatieren lässt, als Element seiner Inszenierung als Flaneur zu verstehen und weniger als Ausdruck eines Bemühens um literarische Emanzipation. Vgl. zu letztgenannter Deutung Lise Schreier: Seul dans l’Orient lointain. Les voyages de Nerval et Du Camp, Saint- Etienne, Publications de l‘Université de Saint-Etienne, 2006. 27 Lorely, 30. 28 Ibid 194. 29 Ibid., 38. 30 Voyage en Orient, 176. 31 Lorely, 43. 32 Vgl. Behrens, op. cit. 33 Vgl. Voyage en Orient, 148. 34 Ibid., 190ff. 163 Dossier 35 Vgl. Michel Certeau, L’invention du quotidien, Arts de faire [Troisième partie: Pratiques d’espace, Chap. VII: Marches dans la ville], hg. v. Luce Giard, Paris, Gallimard, 1990, 139-164, 141sq. 36 Voyage en Orient, 80f. und 311. 37 Gérard de Nerval: Promenades et Souvenirs, in: Œuvres complètes, t. III, hg. v. Jean Guillaume, Claude Pichois, u.a., Paris, Gallimard, 1993, 668. 38 Voyage en Orient, 190 und Lorely, 65. 39 Lorely, 65. 40 Promenades et Souvenirs, 668. 41 Vgl. die entsprechenden Textpassagen in Lorely, 13f., 24f. 42 Ibid., 34f. 43 Vgl. Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt/ Main, Fischer Taschenbuchverlag, 2006. 44 Lorely, 65. 45 Ibid., 35, 20, 184. 46 Ibid., 19. 47 Ibid., 28. 48 Ibid., 204f. 49 Voyage en Orient, 311. Résumé: Susanne Greilich, Les espaces urbains du romantisme, se propose d’analyser l’espace urbain dans l’œuvre de Nerval. L’article, qui s’inscrit dans le contexte de l’intérêt récent pour le motif de la ville tel qu’il est développé dans la littérature romantique européenne et fait référence aux théories de l’espace établies (Benjamin, Certeau, Schlögel), met en évidence le rôle de l’espace urbaine pour l’ancrage identitaire du narrateur dans un monde aussi bien réel qu’imaginaire. Le narrateur nervalien se met en scène comme flâneur et comme wandersmann. L’analyse vise à démontrer l’ambiguïté de sa relation avec la ville. Celle-ci, loin de servir uniquement comme symbole d’une modernité industrielle contestée, remplit de multiples fonctions: Aperçue de loin et en harmonie avec la nature, l’image de la ville invite à la rêverie romantique. Vécue de près, la „géographie magique“ du narrateur risque de s’estomper, mais la foule qui peuple la ville incite de nouveau à l’isolement, au retrait dans un monde imaginaire. Lieu par excellence d’une altérité culturelle stimulante, la ville sert de réservoir de mémoires d’un passé perçu comme idéal. 164 Dossier Romana Weiershausen Paris als theatraler Schauplatz in deutschen Texten über die Französische Revolution: Joachim H. Campe, Christian A. Vulpius und Ernst K. L. Ysenburg von Buri Bei der Französischen Revolution sind die deutschen Zeitgenossen Zuschauer. Man blickt nach Paris, wo sich Handlungen abspielen, die im eigenen Alltag kaum vorstellbar scheinen. Zwar gehört man nicht zu den Akteuren, aber der (ebenso vehement zustimmenden wie ablehnenden) Anteilnahme am epochalen Ereignis tut dies keinen Abbruch, im Gegenteil: Die Position des unbeteiligten Beobachters, der als Reisender Augenzeuge wird oder Berichte anderer liest, erlaubt Projektionen, die nicht durch politische Handlungsnotwendigkeiten eingeschränkt werden. 1 Mit Bezug auf den zeitgenössischen Diskurs spricht Norbert Otto Eke von der „deutschen ‚Geisterrevolution‘“, 2 die sich anstelle politischen Handelns anderer Ausdrucksformen bedient: publizistischer und literarischer, wobei letztere als Form uneigentlichen Sprechens einen größeren Freiraum ermöglichen. Fragt man nach den Bildern der Stadt Paris, ist auffällig, wie oft sie in den Texten über die Revolution explizit als theatraler ‚Schauplatz‘ inszeniert wird. 3 An der Schwelle zwischen allegorischen (theatrum mundi-Tradition) und mimetischen Modi (jüngerer Paris- Diskurs) 4 ergibt sich für die Situation deutscher Texte über das revolutionäre Paris im späten 18. Jahrhundert eine spannungsreiche Überlagerung. An drei Texten unterschiedlicher Gattung soll im Folgenden dem Konnex zwischen realer Stadt und theatralem Raum nachgegangen werden: an Joachim Heinrich Campes Reisebericht Briefe aus Paris, Christian August Vulpius’ gattungsüberschreitenden Szenen aus Paris und dem bürgerlichen Trauerspiel Die Stimme des Volkes oder Die Zerstörung der Bastille von Ernst Karl Ludwig Ysenburg von Buri. Die drei Texte bieten sich für die vergleichende Zusammenschau besonders an, da sie zeitgleich in der Frühphase der Französischen Revolution entstanden sind. 1. Zwischen Beobachten und Darstellen: Joachim Heinrich Campes Briefe aus Paris Abgesehen von der Tages- und Wochenpresse wird dem deutschen Zeitgenossen das revolutionäre Paris zunächst über Reise- und Erfahrungsberichte begegnet sein, die mit Ausbruch der Revolution Konjunktur haben. 5 Joachim Heinrich Campes enthusiastische Briefe aus Paris, die als Separatdruck 1790 in der Braunschweiger Schulbuchhandlung erscheinen, gehören zu den frühesten Beispielen. 6 165 Dossier Campes Text, dessen Beginn textintern auf den 4. August 1789 datiert wird, akzentuiert ein Geschehen, das eigentlich nur als Fiktion denkbar sei: Ob es wirklich wahr ist, […] daß ich in Paris bin? Daß die neuen Griechen und Römer, die ich hier um und neben mir zu sehen glaube, wirklich vor einigen Wochen noch - Franzosen waren? Daß die großen, wunderbaren Schauspiele, die in diesen Tagen hier aufgeführt worden sind und noch täglich aufgeführt werden, keine Geschöpfe meiner Phantasie, kein Traum, sondern Thatsachen sind? 7 So eröffnet Campe seinen Reisebericht, der aus Briefen besteht. 8 Keine Ansicht der Stadt bietet der Einstieg, auch keine Beschreibung der Bewohner und ihrer Sitten, wie man es in der Nachfolge von Louis-Sébastien Merciers wirkungsmächtigem Tableau de Paris (1781-1788) 9 hätte erwarten können. Stattdessen akzentuiert Campe den Vorstellungsraum des Theaters. Indem er die französischen Bürger als „Griechen und Römer“, als Akteure in „Schauspielen“ in der Stofftradition der klassizistischen heroischen Tragödie, beschreibt, greift Campe zunächst einmal den französischen Revolutionsdiskurs auf, in dem es bekanntlich gängige Praxis war, Revolutionäre mit antiken Heroen (vor allem der Römischen Republik) zu analogisieren. Indem man diese Analogiebildung zwischen Paris und Rom mitträgt, wird es zudem möglich, über die Überlagerung der Städte einen gemeinsamen - sozusagen weltbürgerlichen - Bezugsrahmen aufzurufen: Paris lässt sich so an die Stelle eines ideellen Zentrums setzen, das den vielen vereinzelten deutschen Fürstentümern fehlt. 10 Ein besonderes Glück sei es, so Campe, in Paris zu sein, gerade jetzt, da aller Welt Augen auf diesen Mittelpunkt der größten und merkwürdigsten dermaligen Weltbegebenheiten voll Bewunderung und Erstaunen gerichtet sind; gerade jetzt da man hier aus dem dumpfen Zustande eines in langer schmähliger Knechtschaft verträumten Daseyns zu einem Leben erwacht ist, welches die Brutusse und die Cato’s selbst mitzuerleben sich nicht weigern würden.11 Über den Klassikbezug lässt sich an eine gemeinsame Kulturtradition anknüpfen und diese für die Gegenwart aktualisieren. Im zeitgenössischen Paris erwacht der Geist des antiken Roms, wie man ihn seit der Frühaufklärung auch auf deutschen Theaterbühnen zelebrierte. Und ganz im Sinne einer Bewunderungsdramaturgie, wie sie der Hauptlinie der Cato- und der Brutus-Dramen entspricht, werden von Campe auch für das reale ‚Schauspiel‘ theatrale Affekte aus dem Repertoire des Erhabenen aufgerufen: „gräulich schön“ seien die darzubringenden Begebenheiten. 12 Vielleicht das Entscheidende an dem aufgerufenen Bildbereich des Theaters ist, dass Campe damit einen Anschluss an erprobte Rezeptionsmuster schafft. Wie ist es möglich, sich die unerhörten Ereignisse in der Hauptstadt des Nachbarlandes vorzustellen? Über vergleichbare Erfahrungen verfügen die Leser, für die Campe schreibt, kaum, wohl aber kann er die Kenntnis von Theaterstücken über Tyrannen und Tyrannensturz voraussetzen. Die Nutzanwendung ist über diese Allusion mit aufgerufen: In der Aufklärung war man mit dem Drama wie keiner anderen Gattung 166 Dossier programmatisch angetreten, zur Verbesserung des Menschen anzuleiten. „Welch ein Schauspiel“, führt der Aufklärer Campe für die Ereignisse in Paris aus, „für den, der für Menschenveredelung und Menschenbeglückung noch unverdorbene Sinne, und ein warmes theilnehmendes Herz für alles hat, was das Emporkommen der großen Adamsfamilie angeht! “ 13 Die rhetorische Strategie ist nicht folgenlos für die präsentierten Inhalte: Die Revolution im Nachbarland wird zu einem Lehrstück, die Adressaten zum Theaterpublikum, das um die prinzipielle Distanz des Vorgeführten zur eigenen Lebensrealität weiß. Wenn Campe verspricht, dem Adressaten zum besseren Verständnis der Revolutionsgeschehnisse zunächst „behülflich zu seyn, sich die Bühne, worauf eins der größten politischen Schauspiele, welche die Welt in neuern Zeiten gesehen hat, jetzt aufgeführt wird, durch Hülfe Ihrer Einbildungskraft, soviel möglich, zu vergegenwärtigen“, 14 kann man kein realistisches Stadtbild erwarten, sondern eine Inszenierung, die darauf zielt, Ideen einen Anschauungsraum zu verschaffen. Wie aber verhält sich diese bewusste Konstruktion zum dokumentarischen Anspruch, der dem Text als Reisebeschreibung auf der anderen Seite auch eingeschrieben ist? Um „Thatsachen“ gehe es, wie Campe im Einstieg betont, „keine Geschöpfe“ der „Phantasie“. 15 Für Campes Briefe aus Paris ist eine innere Ambivalenz auszumachen. Das Leitbild des wohlgeordneten Dramas gibt einerseits Vorstellungshilfen, macht aber andererseits durch die Diskrepanz zu den als chaotisch empfundenen Eindrücken in der Metropole deutlich, welche miteinander konkurrierenden Anforderungen sich dem Schreiber stellen: Der Wahrnehmung des Ungeordneten steht die ordnende Vorstellung gegenüber, dem Abbilden das Darstellen. Dieses Spannungsverhältnis ist bereits bei Mercier, auf den Campe sich mehrfach bezieht, vorgezeichnet: Die Innovation in der Form, die der Diversität des real Gesehenen entspricht - un „Tableau“ „varié“, „crayonné d’après mes vues“ 16 -, steht der Vorstellung eines Ganzen gegenüber, das immer noch den Zielpunkt bildet: „J’ai quitté Paris pour mieux le peindre. Loin de l’objet de mes crayons, mon imagination l’embrasse & se le représente tout entier“. 17 Ein ähnliches Spannungsverhältnis findet sich bei Campe: Einerseits ist dem schreibenden Ich die konkrete Anschauung Anlass, Gegenstand und Legitimation seines Schreibprojektes, andererseits behindert sie es maßgeblich. „Wie soll ich es anfangen, die äußern Sinne zu verstopfen, um den innern Zeit und Raum zu verschaffen, den schon eingesammelten zu großen Vorrath neuer Vorstellungen, nur erst in so weit auseinander zu legen, daß das Gedächtniß ihn in seine Fächer aufnehmen kann? “ 18 Zum Lösungsweg wird hier das Schreiben selbst - dialogisch angelegt als imaginiertes Gespräch mit dem Gegenüber: „Ich glaube ein Mittel dazu gefunden zu haben. Eine Unterhaltung mit Ihnen […] wird mich, so lange sie dauert, empfindungslos gegen alle äußere Eindrücke machen.“ 19 Das Darstellungsproblem stellt sich umso nachdrücklicher, als es - vorgezeichnet durch den zeitgenössischen französischen Paris-Diskurs - nicht mehr um die Abbildung von Gebäuden geht, sondern Paris als Metonymie für die dort lebenden 167 Dossier Menschen ins Blickfeld rückt. In der Großstadt ist es die unüberschaubare Menschenmenge, die den Besucher beeindruckt und eine ordnende Beschreibung unmöglich erscheinen lässt. Straßen und Plätze gehen unter im „wogenden Menschenstrom“, dem „Rauschen“, das den Besucher umgibt, entspricht dem Wirrwarr der Eindrücke in seinem Kopf: „wie junge Bienenbrut“. 20 Spät erst erfolgen bei Campe eingehendere Beschreibungen von Örtlichkeiten, beginnend mit der Bastille und dem Palais Royal: Auch hier aber dienen die baulichen Details der Vorbereitung, zielt das eigentliche Interesse auf die Menschen und ihre Handlungen. Die Abkehr von topographischen Beschreibungen hin zu Innenansichten des Pariser Lebens ist bekanntlich bereits in Merciers aus vorrevolutionärer Zeit stammendem Text festzustellen. 21 Die eigene künstlerische Arbeit metaphorisiert Mercier über den Bildbereich der Malerei. Das „Tableau“, dem „figures vivantes“ Modell gestanden hätten, verweist - nicht zuletzt über die Verwendung des Begriffs in Diderots und auch in Merciers Dramentheorie - aber bereits auf den Bereich des Dramas, der dem bewegten Leben angemessen erscheint. 22 In Campes Schilderungen des revolutionären Paris wird dieser Impuls aufgewertet. Mercier gegenüber, von dem Campe wie andere deutsche Autoren, die über Paris schreiben, maßgebliche Anregungen gewinnt, ist seine Darstellung statt von der Zeichnung von Zuständen von der dynamischeren Theatermetaphorik geleitet - eine Tendenz, die sich auch in anderen Reisebeschreibungen aus dem Paris der Revolutionszeit wiederfindet und Ausdruck der Radikalität und raschen Folge der Veränderungen sein dürfte. Dem bisher Ausgeführten möchte ich nun einen Text gegenüberstellen, dessen Titel - Szenen in Paris - beim Lesepublikum zunächst ähnliche Erwartungen wecken mag wie die Reiseberichte, in dessen Mittelpunkt aber gerade fiktive Handlungen stehen, die mit Momenten Pariser Wirklichkeit angereichert werden. Seine Nähe zum Drama gewinnt dieser Text nicht aus der verwendeten Bildlichkeit, sondern über seine Form. 2. Zwischen den Gattungen: Christian August Vulpius’ Szenen in Paris Christian August Vulpius’ umfangreiche Szenen in Paris, während, und nach der Zerstörung der Bastille, die in fünf Sammlungen in den Jahren 1790 und 1791 erscheinen 23 und die er später mit den Neuen Szenen in Paris und Versailles fortsetzen wird (drei Bände, 1792-93), sind ebenso sehr ein beachtlicher Publikumserfolg wie sie bei den Rezensenten umstritten sind. Ein wesentlicher Grund für Erfolg wie auch Kritik dürfte die offensive Vermischung von Fiktion und zeitgeschichtlichem Hintergrund sein. 24 „[E]ine mit dichterischer Freiheit behandelte Geschichte“ nennt Vulpius seine Szenen, einerseits das Faktuale akzentuierend, indem er die Wahrhaftigkeit als Ziel, die Ausschmückung mit erdachten Figuren als „Kolorit“ ausgibt. 25 Andererseits betont er das Kompositorische, dessen eigentlicher Kern die fiktiven Geschicke eines Sekretärs seien, der in die Intrigen des Pariser Adels in 168 Dossier der Zeit des Bastille-Sturms gerät: „Die Begebenheiten dieses Mannes - ein Gemälde der Intrike, Kabale, Pariser Damenliebe, Rache und Eigenheit - in der Revolutions-Epoche sind es, die von erdichteten und wahren Episoden erhoben, das romantische Hauptgemälde dieser Szenen ausmachen“. 26 Dass die Erlebnisse des Sekretärs das „romantische Hauptgemälde“ bilden, muss allerdings erschlossen werden, „ohne daß“, so der Autor, „ich mit Fleiß deshalb den Lesern einen Wink gab“. 27 Das programmatisch ‚Romantische‘, das Fragmentarische und Vielfältige, dargebracht in „vermischte[r] Behandlungsart“, solle gleichzeitig den „Leser[n] […] eine Uebersicht über das Ganze, eine Aussicht in das Innre der Stadt Paris“ vermitteln. 28 Insgesamt handelt es sich um eine lose Aneinanderreihung von Handlungssequenzen mit wechselndem Personal (vom Hochadel bis zu Handwerkern und Schauspielern), die „mit historischen Evenements“ verknüpft und validiert werden. 29 Vulpius’ Szenen sind in gängigen Gattungsmustern kaum zu fassen: 30 Von der assoziativen Folge her erinnert das Konvolut an die Beschreibung städtischer Szenerien, wie sie sich etwa bei Campe finden oder eben auch schon in Merciers Tableau, das Vulpius als eine von vielen Quellen nennt. 31 Die Darstellungsweise wiederum ist dem Drama entlehnt: Gestaltet sind die Szenen ausschließlich über unvermittelte Dialoge. Zusammengehalten werden die zahlreichen Einzelszenen von gelegentlich wiederkehrenden Figuren und von der Tatsache, dass Paris die Schauplätze liefert. Diese Schauplätze sind ein wesentlicher Bestandteil der Authentifizierungsstrategie, mit der der Autor den realen Gehalt seiner Szenen zu beglaubigen sucht. Einzelnen Örtlichkeiten sind Fußnoten mit detaillierten bautechnischen und geschichtlichen Erläuterungen beigegeben, zum Pont Neuf etwa oder zur Rue La Ferronnerie - der „merkwürdige[n] Straße, in welche[r] der gute König Heinrich IV. 1610 von dem schändlichen Ravaillac ermordet wurde“, 32 ansonsten bleibt es bei Namensnennungen. Als Beitrag zur Dokumentation tatsächlicher Pariser Verhältnisse wurde Vulpius’ Text insgesamt nicht unbedingt aufgenommen. Adolph von Knigge schreibt in seiner Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek von 1791: Der größte Theil dieser Szenen, in welche kleine Romanenbruchstücke mit eingewebt sind, ist von der Art, daß sie eben sowohl in jeder andern großen Stadt und zu jeder andern Zeit hätten vorgehen können. Daß die Geschichte der Revolution durch das Ganze mit durchläuft, macht es aber freylich in dem gegenwärtigen Zeitpunkte verkäuflicher. Indessen leuchtet aus Allem sehr deutlich hervor, daß Hr. Vulpius kein Augenzeuge bey den Vorfällen in Paris gewesen […] ist […].33 Tatsächlich bleiben die Handlungsorte meist generisch: Am häufigsten sind Szenen in einem Zimmer eines hochherrschaftlichen oder bürgerlichen Hauses und Straßenszenen mit Menschen aus dem Volk. Die jeweilige Verortung auf dem Stadtplan von Paris wird der Szene in Form einer Überschrift mitgegeben und dient eher der Einordnung des sozialen Milieus der Figuren, als selbst Gegenstand der Darstellung zu sein: „Straße St. Germain, Assembleezimmer im Hotel der Marquise 169 Dossier St. O.“ oder „Wohnung des Marquis D. in der Straße St. Martin“, für das Dichterquartier dagegen „Straße St. Denys, Zimmer, fünf Stock hoch“ und ähnlich lauten die Angaben. 34 Vulpius bedient sich dabei der Stadtviertel als eines sozial-codierten Archivs. Beispielsweise bilden die Champs Elysées, in einer Fußnote als „sehr feuchte Allée“ geschildert, die „von den Fremden und gutwilligen Pariserinnen am stärksten besucht“ wird, 35 den Hintergrund für Gespräche zwischen leichten Mädchen (I, Szene 17) und zwielichtigen Geschäftemachern (II, Szene 38), die rue St. Honoré („wo so viele Modehändlerinnen wohnen“) 36 und die rue St. Victor („eigentlich eine Einöde in Paris, in welche[r] mehrenteils Schriftsteller und Künstler wohnen“) 37 für Bürger und ihre Frauen, Handwerker, Mönche und Künstler. Die erläuternden Fußnoten geben hier auch einen Beleg für die Vermischung fiktionaler und dokumentarischer Quellen: Die „Straße St. Honoré“ „wird den Lesern auch wohl schon, wenigstens aus den Romanen des Herrn Retif de la Bretonne, bekannt seyn“, notiert Vulpius, und zur „Straße St. Viktor“ vermerkt er: „Gute Gesellschaft vertieft sich, wie Bretonne sagt, nie dorthin.“ 38 Auch sprachlich wird typisiert: Die Künstler ergehen sich im Pathos antiker Kontexte, das einfache Volk verwendet grobe Ausdrücke, die feine Gesellschaft tändelnde Wortspiele. Auffallend häufig werden französische Begriffe gerade dann in die Figurenrede integriert, wenn es um den Ausdruck von Anzüglichkeiten geht: so bei den Zusammenkünften der Adligen, aber auch im Gespräch der leichten Mädchen auf den Champs Elysées. Der scheinbaren Wirklichkeitsnähe ist ein nationalchauvinistischer Zug inhärent, der nicht nur mit einer (offensichtlich ausgebrachten) Kritik an der Dekadenz des französischen Hofadels verbunden ist, sondern auch mit einer Distanzierung von der Revolution als einem französischen Phänomen. Die letzte Szene schließt mit der apokalyptischen Prophezeiung einer Figur, womit der letztlich antirevolutionäre Gestus der Szenen unterstrichen wird: es wird ein Schauplatz des Mordes und der Verwüstung, ein Aufenthalt der schrecklichsten Kabale und Mordsucht werden. Brüderblut wird in Strömen fließen, und die Edlen werden ihres Vermögens, ihrer Macht, ihres Ansehens beraubt werden. Eine gänzliche Revolution steht uns bevor. […] / Minna. Adolf! Du willst -? / Legationsrath. Fliehen. / Minna. Wohin? / Legationsrath. Nach der Schweiz, nach Deutschland, wo diese Freiheitsseuche, welche die Franzosen befallen hat, nimmer wüthen wird.39 Mit Bezug auf Mercier stellt Vulpius sein Werk im Nachwort in die Reihe der Sittengemälde, die er zu Charakterstudien verfestigt sehen will: „Die Karakteristik dieser Szenen“, so Vulpius, „soll eine Karakteristik der Franzosen überhaupt seyn.“ 40 Vor diesem Hintergrund erklärt sich nun allerdings auch die dramenähnliche Form: Folgt man Vulpius’ stereotypem Franzosen-Bild, das er im Anhang ausführt, so entspricht die Form des Schauspiels gerade dem Wesen des Franzosen: „Alles ist bei ihm geliehen […] und beinahe nichts, oder nur sehr wenig ist Natur. Ils veulent […] représenter. […] Der Franzose scheint sich immer zu ändern“, aber, führt Vulpius fort, im Kern bleibe er doch gleich, da sein Wesen gerade der Schein sei. „Seine Aufgeräumtheit“, so das Fazit, „ist blos äußerlich, leicht spielend, wurzelt aber selten in der Seele.“ 41 Will man ‚den Franzosen‘ angemessen präsentieren, 170 Dossier so ist mit Vulpius zu schließen, muss man ihn wie auf dem Theater auftreten lassen. Aber auch auf das französische Theater selbst bringt Vulpius einen Seitenhieb aus, indem er einen Theaterdichter an der Aufgabe verzweifeln lässt, ein Stück zeitgeschichtlicher Wirklichkeit, nämlich die Zerstörung der Bastille, in klassizistischer Form auf die Bühne zu bringen: „Der verdammte dritte und vierte Akt! ja! wenn ein Trauerspiel nicht fünf Akte haben müste! - […] Ich muß Episoden anbringen. Ja! wenn ich die Einheit der Zeit nicht beobachten müste, so lies ich das Stück, schon mit dem vorhergehenden Tage, anfangen. Aber es geht nicht an! Die Einheit des Ortes ist ohnehin schon lädirt.“ 42 Dass die künstlerische Misere eine spezifisch französische sei, betont (nicht ganz zutreffend) 43 die beigegebene Fußnote des Autors: „In Deutschland, haben wir diese und die folgenden Beschwerden, über welche der französische Dichter seufzt, schon längst mit Recht, aufgehoben.“ 44 Dem Schauspieler gegenüber, dem er Szenen des Dramas vorstellt, klagt der Dramatiker: „Wenn nur die Verse nicht wären! die Teutschen und Engländer, schreiben in Prosa, in reimlosen Versen, und wie sie wollen, ihre Trauerspiele. Aber bei uns, muß alles gereimt seyn. Und die Reime nehmen ganz erschrecklich viel Zeit weg. - O! Freiheit! wann wirst du einmal die Ketten der dramatischen Dichter, lösen! -“ 45 Es ist eine zusätzliche Pointe, dass das Alexandrinerdrama, das der Dramatiker schließlich zustande bringt, nicht aufgeführt werden kann, weil eine Schauspielerin mit ihrer Rolle nicht zufrieden ist: In dem Bastille-Stück mag sie, die inzwischen einen neuen, gesellschaftlich hochrangigen Verehrer hat, nicht spielen, weil sie „beschlossen“ hat, „keine einzige Rolle mehr zu spielen, wenn es nicht wenigstens die Rolle einer Prinzessin ist.“ 46 Im Leben wie in der Kunst werden die vorgeführten Franzosen ihrer eigenen revolutionären Wirklichkeit nicht gerecht. In einer anderen Szene wird schließlich ein englischer Gast auf die Frage, wie es ihm „jezt in dem bunten Paris“ gefalle, antworten: „Wahrlich! die Franzosen haben bei dem Schauspiele die Einheiten vergessen, so sehr sie sonst darüber zu halten pflegen.“ 47 Der Unterhaltungsschriftsteller Vulpius nutzt den Theaterkontext auf zwei Ebenen: darstellungstechnisch und inhaltlich. Neben dem dramatischen Modus, der unterhaltsame Unmittelbarkeit erzeugt und, wie der Autor selbst hervorhebt, den Gegenstand einem breiteren Publikum zugänglich mache, 48 unterstellt Vulpius inhaltlich den Franzosen eine prinzipielle ‚Theaterhaftigkeit‘: Das im zeitgenössischen Diskurs gängige Stereotyp 49 suggeriert den Kontrast zum ‚ernsthaften‘ Deutschen, der selbst noch in der Kunst wahrhaftiger zu sein verstehe. In der Verlängerung der Gedankenfigur steht der Autor selbst, der sich mit seinem Projekt der dramatischen Szenen als Dichter der ‚Wirklichkeit‘ stilisiert. Im Verhältnis von Dokumentation und Inszenierung als Schauspiel bleibt im Folgenden dritten Teil der Untersuchung nach der Theaterbühne selbst zu fragen. 171 Dossier 3. Paris im Drama: Ernst Karl Ludwig Ysenburg von Buris Die Stimme des Volkes oder Die Zerstörung der Bastille Mit der Französischen Revolution hielt auch in die deutschsprachige Dramatik eine Aktualität Einzug, die in diesem Ausmaß bislang unbekannt war. 50 Das Drama der Aufklärung hatte das Projekt der Verbesserung der Zuschauer zumeist über die Darstellung menschlicher Tugenden und Laster in Situationen jenseits expliziter zeitpolitischer Bezüge verfolgt. Eine etwaige Übertragung blieb dem Publikum überantwortet. Mit dem Sujet der Französischen Revolution wird zum ersten Mal in breitem Rahmen Zeitgeschichte auf der Bühne ausgetragen: häufig in fiktive deutsche Provinzen verlagert, gelegentlich aber auch direkt in Paris spielend. Die Stadt selbst wird allerdings auch hier selten dargestellt, meist vollzieht sich die Bühnenhandlung in Innenräumen, was der allgemeinen Tendenz der Dramenproduktion des 18. Jahrhunderts entspricht und nicht zuletzt den Bühnenbedingungen geschuldet sein dürfte. 51 Ein Beispiel, in dem Paris als Ort bereits etwas stärker modelliert wird, ist das Drama Die Stimme des Volkes oder Die Zerstörung der Bastille von Ernst Karl Ludwig Ysenburg von Buri, das 1791 im Druck erschien. 52 Auch hier spielen quantitativ die meisten Szenen in Innenräumen, vor allem im Haus der Familie de la Tour und in der Bastille. Sie werden aber flankiert von Handlungssequenzen in offener Pariser Stadtszenerie: den Tuilerien, der zur Bastille führenden rue Saint Antoine, dem Platz vor dem Rathaus. Offensichtlich wird vorausgesetzt, dass bereits mit der bloßen Nennung der Örtlichkeiten bei Lesern und Regisseuren eine Vorstellung verbunden ist: Auf weitere erläuternde Beschreibungen wird in den Regieanweisungen größtenteils verzichtet. Dies ist eine verbreitete Praxis in deutschen Texten über die Französische Revolution und verweist darauf, dass bestimmte Pariser Örtlichkeiten bereits topisch geworden sind - insbesondere die Bastille. 53 Startpunkt der Handlung ist das private Stadthaus des Grafen de la Tour. Als Familienvater und aufrechter Bürger ist er die positive Leitfigur, wenngleich auch er gewisse Schwächen zu überwinden hat: Er ist aufbrausend und voller Vorurteile Deutschen gegenüber. Weil der Graf im Siebenjährigen Krieg schlechte Erfahrungen mit Deutschen gemacht hat, will er einer Verlobung seiner Tochter mit dem deutschen Baron Woldenfels nicht zustimmen. Damit nimmt die Handlung ihren Ausgang im privaten Bezugsfeld, wie es auch die mitgegebene Gattungszuordnung als „bürgerliches Trauerspiel“ nahelegt. Ein weiterer Konflikt zeichnet sich ab zwischen Vater und Sohn: Während sich der Vater für die Bedürfnisse des hungernden Volkes gegen die sich bereichernden Aristokraten einsetzt, verkehrt der Sohn am Hofe Versailles. Damit wird im familiären Rahmen neben der nationalen Dimension die politische des Revolutionskontexts angelegt. Der Vater engagiert sich für eine Reformierung des bestehenden Systems: In einer Audienz versucht er, den von Hofintriganten absichtsvoll falsch informierten guten König über die wahre Situation aufzuklären. Versailles bleibt als Schauplatz 172 Dossier imaginierter Kontrapunkt: Es ist ein Machtbereich, der sich dem bürgerlichen Erfahrungshorizont entzieht und entsprechend nur indirekt über Botenberichte und Erzählungen präsentiert wird. Genauso ungreifbar wie der Ort erscheinen die mit ihm verbundenen Intrigen. Bevor de la Tour sein Unternehmen zu Ende führen kann, wird er in die Bastille verbracht, ohne Wissen des Königs wohlgemerkt. Damit scheint die Niederlage des aufrechten Bürgers besiegelt, die eigengesetzliche Unrechtsherrschaft des Hofes bestätigt. Doch die Bastille, Symbol unmenschlicher Willkürherrschaft, die den Schauplatz für den (Anagnorisis und Peripetie enthaltenden) dramaturgisch entscheidenden dritten Akt liefert, wird zum Ort der Bewährung und des inneren Triumphes der bürgerlichen Wertewelt: An diesem Ort jenseits der Gesellschaft werden durch Mitmenschlichkeit Ständeschranken und nationale Grenzen überwunden. Der Knecht erweist dem ehemaligen Herrn den größten Dienst, ebenso wie der Deutsche dem Franzosen. Ausgerechnet der Kerker wird zum Raum einer erweiterten Familienzusammenführung: Hier findet der Deutsche seinen Vater wieder, in dem de la Tour zugleich seinen früheren Wohltäter erkennt. Die Funktion der Bastille-Szenen als Wendepunkt wird unterstützt durch die sie flankierenden Szenen im Freien. Die vorangegangenen Szenen in den Tuilerien (II/ 1) und auf der zur Bastille führenden „Antoniusstraße“ (III/ 1) liefern weitere Beispiele des Unrechtssystems, während die Szene danach der sukzessiven Befreiung gilt und im Innenhof der Bastille (während der Erstürmung) stattfindet (IV/ 9). Indem den Innenraum-Szenen in der Bastille aber die Schlüsselstelle zukommt, konzentriert sich die Perspektive auf die innere Moral der Handlungsträger. Die Schlussszenen spielen schließlich im halboffen gestalteten Raum des Rathauses (IV/ 11-13): Es wird zum Ort einer neuen bürgerlich-mitmenschlichen Ordnung, die sich gegen die Willkürherrschaft des Hofadels richtet, nicht aber gegen den König als Vater des Volkes. Für den Umgang mit Pariser Schauplätzen ist dieser Schluss bemerkenswert. Im Gegensatz zu den anderen Orten, die genannt, aber in ihrer konkreten Ansicht nicht vorgestellt werden, wird in der Regieanweisung zu den Schlussszenen spezifiziert: „Der obere Theil des Rathhauses, das einen offenen Säulengang vorstellt. Im Hintergrunde der große Platz.“ Vielsagend ist die Fußnote, die dieser Regieanweisung folgt: „Ob das Haus wirklich so gebaut ist, darum bekümmert sich der Dekorateur nicht; genug wenn es so erbaut seyn könnte.“ 54 Hier spätestens wird offensichtlich, dass es nicht um realistische Stadtansichten geht. Der „offene […] Säulengang“ mit sicher nicht zufälliger Allusion an römische Architektur wird - spiegelbildlich das Haus der Anfangsszene wieder aufgreifend - als Haus der größeren Menschen-Familie inszeniert: Franzosen und Deutsche vereinigend, die Familie de la Tour und Bürger gleichen Geistes. Die Schauplätze, die der realen Stadt entlehnt sind, so lässt sich festhalten, dienen einer symbolischen Codierung. Die besondere Symbolkraft aber beruht auf dem Wissen um die tatsächliche Existenz dieser Orte, wobei die wirklichen Verhältnisse und Geschehnisse von der Dramenhandlung, die die realen Gegebenheiten auf ihre Weise deutet, überschrieben werden. Der Schluss des Dramas markiert über den Schauplatz den Übergang in den 173 Dossier idealen Raum, der aber nicht als Utopie präsentiert wird, sondern als in höherer Weise ‚wirklich‘: im Sinne von Aristoteles’ Plädoyer für die größere Wahrheitskraft der Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung, indem jene nicht den faktischen Spezialfall darstelle, sondern das prinzipiell Mögliche, das sich aus Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit ergebe. Das Pariser Rathaus könnte als römische Halle gebaut sein und gerade darum beansprucht das Bühnenbild einen Wirklichkeitsanspruch jenseits der realen Gebäudearchitektur. Als symbolischer Austragungsort sozialer Auseinandersetzungen, darauf hat nicht zuletzt Stephen Greenblatt aufmerksam gemacht, eignet sich das Theater aufgrund seines öffentlichen Aufführungscharakters in besonderem Maße. 55 Wo, wie im Fall deutscher Bürger, die Teilhabe am politischen Geschehen unmöglich war, war die Theaterbühne als alternatives Verhandlungsmedium prädestiniert. Dramen wie das Buris sind ein Beispiel dafür. Dies führte in der Folge dazu, wie Gert Sautermeister betont, dass der „deutsche Aufklärer […] öffentliche Kommunikation bislang vor allem literarisch [erlebte] und […] in der Schaubühne die Vorstufe einer nationalen Öffentlichkeit [sah]“. 56 Wenn Campe und andere das revolutionäre Paris als ‚Schauplatz‘ metaphorisieren, so nimmt dies auch Bezug auf eine in Paris praktizierte Öffentlichkeit, die im deutschen Raum nur auf dem Theater Platz hatte. 4. Fazit Die Folie der Theaterbühne eröffnet einen Vorstellungsraum, in dem die Dokumentation realer Zeitgeschichte mit einer symbolischen Dimension versehen wird: Aus der bloßen Nachricht wird potenziell etwas Bedeutsames. Dies allerdings manifestiert sich in den drei Textbeispielen auf sehr verschiedene Weise. Campe nimmt in seinem Reisebericht den Startpunkt von einem realen Geschehen, das er mittels der Theatermetapher verdichtet und ordnet, während Buri mit seinem Drama den umgekehrten Weg beschreitet: Indem Buri sein Stück nicht mehr nur im fiktiven oder historisch weit entfernten Raum spielen lässt, sondern reale Orte eines zeitpolitischen Geschehens aufruft, wird die Relevanz des Theaters als Deutungsmedium für die eigene Wirklichkeit verstärkt. Vulpius schließlich bedient sich des größeren Gestaltungsfreiraums der szenischen Präsentation, die es ihm erlaubt, dokumentarische Elemente und erdachte Geschichten beliebig zu kombinieren und dabei den Wahrheitsgehalt des Dargestellten in der Schwebe zu halten. Bei aller - auch textsortenabhängigen - Verschiedenheit, in der die Stadt jeweils als theatraler Ort inszeniert wird, bleibt eines festzuhalten: Alle drei Texte sind für ein deutsches Publikum geschrieben, und sie nutzen das als Schaubühne imaginierte revolutionäre Paris für die Auseinandersetzung mit eigenen, deutschen Positionen. Campes enthusiastische Parteinahme für den miterlebten politischen Aufbruch, Vulpius’ ironische Distanzierung von französischer Exaltation und Buris Sympathielenkung zugunsten eines Vorkämpfers für eine menschlich-gerechte 174 Dossier Herrschaft akzentuieren dies unterschiedlich. Ihnen gemeinsam ist ein (selbst im Unterhaltungskontext strategisch hervorgehobener) didaktischer Subtext, der auf die Nutzanwendung des ‚Geschauten‘ für die eigene Situation zielt. Dabei entsteht eine durchaus neuartige Wechselwirkung zwischen symbolischem Ort und realer Stadt, die sich nicht mehr auf das eine oder das andere eindeutig festlegen lässt. 1 Cf. Gert Sautermeister: „Literarischer Messianismus in Deutschland. Politische Ästhetik im Banne der Revolution (1789-1914)“, in: Harro Zimmermann (ed.): Schreckensmythen, Hoffnungsbilder: die Französische Revolution in der deutschen Literatur, Frankfurt a. M., Athenäum, 1989, 122-161, hier 122sq. 2 Norbert Otto Eke: Signaturen der Revolution. Frankreich - Deutschland: deutsche Zeitgenossenschaft und deutsches Drama zur Französischen Revolution um 1800, München, Wilhelm Fink, 1997, 42. Der Begriff „Geisterrevolution“ geht auf Johann Baptist Gleich zurück (cf. ibid., Anm. 31). 3 Cf. Lothar Bornscheuer: „Schreckensbilder und Farcen. Das ‚Schauspiel‘ der Französischen Revolution“, in: Lothar Bornscheuer (ed.): Revolutionsbilder: 1789 in der Literatur, Frankfurt a. M. [u.a.], Peter Lang, 1992, 63-78, hier 63. 4 „Erst die Spätaufklärung“, konstatiert Stierle, „begründet einen eigenständigen Diskurs der Paris-Darstellung, in dem die Stadt sich zu Bewußtsein bringt.“ (Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München/ Wien, Hanser, 1993, 88.) Grundlegend wirken v. a. Rousseau, Diderot, Mercier, Rétif de la Bretonne. Für einen Überblick über den Paris-Diskurs um 1800 im französischen Kontext cf. Angelika Corbineau-Hoffmann: Brennpunkt der Welt: c’est l’abrégé de l’univers. Großstadterfahrung und Wissensdiskurs in der pragmatischen Parisliteratur 1780-1830, Bielefeld, Erich Schmidt, 1991, 158-192. 5 Cf. z.B. Thomas Grosser: Reiseziel Frankreich: deutsche Reiseliteratur vom Barock bis zur Französischen Revolution, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1989; sowie die Beiträge in: Conrad Wiedemann (ed.): Rom - Paris - London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen, Stuttgart, Metzler, 1988. 6 Joachim Heinrich Campe: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben, Braunschweig, Schulbuchhandlung, 1790 (zuerst publiziert als Folge von „Briefe[n] aus Paris, während der Revolution geschrieben“ im Braunschweigischen Journal 1789 und 1790, beginnend mit dem Oktober-Heft (10. Stück) 1789). Später folgen beispielsweise Georg Forsters Parisische Umrisse (1793) oder die Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris des Publizisten Georg Friedrich Rebmann (1798). Cf. zum größeren Kontext der Reiseliteratur: Grosser. 7 Campe, Erster Brief, 1. Zitiert wird nach dem Reprint der Erstauflage: mit Erläuterungen, Dokumenten und einem Nachwort, ed. von Hans-Wolf Jäger, Hildesheim, Gerstenberg, 1977. 8 Die Adressaten, die sich hinter den Abkürzungen T. und St. verbergen, sind Ernst Christian Trapp und Johann Stuve, zwei Mitarbeiter der Braunschweiger Schulverwaltung, mit denen und Conrad Heusinger zusammen Campe das Braunschweigische Journal herausgab. Neun weitere Briefe an die Tochter Lotte sind an anderem Ort erschienen. Cf. Hans-Wolf Jäger: „Nachwort“, in: Campe, 74-97, hier 74. Cf. zum Kontext auch: Hanno Schmitt: Vernunft und Menschlichkeit: Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn, Klinkhardt, 2007. 175 Dossier 9 12 Bände, 1781-1788; kurze Prosatexte erscheinen vorab in Zeitschriften (seit 1775). Cf. Eckhardt Köhn, Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933, Berlin, Das Arsenal, 1989, 17. 10 Cf. mit Bezug auf Goethe: Sautermeister, 128sq. 11 Campe, Zweiter Brief, 29. 12 Ibid., Erster Brief, 5. 13 Ibid., Zweiter Brief, 34. 14 Ibid., Erster Brief, 3. 15 Ibid., 1. 16 Louis-Sébastien Mercier: „Préface“, in: Ders.: Tableau de Paris, nouvelle édition, corrigée & augmentée, tome 1, Amsterdam 1782, reprint Genève, Slatkine, 1979, VII-XVI, hier V. 17 Mercier, Bd. 8 (1783), 347. 18 Campe, Erster Brief, 2. 19 Ibid., 2sq. 20 Ibid., 1, 2. 21 „Je vais parler de Paris, non de ses édifices, de ses temples, de ses monuments […]. Je parlerai des mœurs publiques & particulieres, des idées régnantes, de la situation actuelle des esprits, de tout ce qui m’a frappé dans cet amas bizarre de coutumes folles ou raisonnables, mais toujours changeantes.“ (Mercier, Bd. 1, III.) Cf. zur Abwendung von der älteren Form der Stadtbeschreibung z.B. Köhn, 64. 22 Mercier, Bd. 1, X. Zum Unterschied zwischen Mercier und Diderot erläutert Stierle: „Schon in Merciers Dramentheorie ist das Konzept des Tableau nicht wie bei Diderot ein Konzept höchster dramatischer Steigerung bis zum Gipfelpunkt eines wie erstarrten sprachlosen, aber ausdrucksgewaltigen Innehaltens, sondern ein Konzept der Beschreibung, das mit der eigentlichen dramatischen Natur des drame nicht mehr in einer wesentlichen Verbindung steht. […] Gleichwohl bleibt Mercier der Zusammenhang von tableau und drame durchaus bewußt. Darauf verweist nicht nur die Theatermetaphorik am Ende der Einleitung, sondern auch seine Überlegung zur dramatischen Behandlung der großen Stadt.“ (Stierle, 118.) Zum größeren Begriffskontext cf. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München, Wilhelm Fink, 2004. 23 Szenen in Paris, während, und nach der Zerstöhrung der Bastille. Nach Französischen und Englischen Schriften und Kupferstichen. Erste, zweite und dritte Sammlung: Leipzig, Gräffsche Buchhandlung, 1790. Vierte Sammlung, nebst Szenen zu Versailles, während der Revolution im Oktober 1789: Leipzig, Gräffsche Buchhandlung, 1790. Fünfte Sammlung: Leipzig, Gräffsche Buchhandlung, 1791. Begonnen hat Vulpius das Schreibprojekt nach eigenen Angaben im August 1789 (cf. Vulpius, Bd. 4, XVII, Anm.). 24 Dass dies offenbar den Zeitgeist traf, impliziert die Rezension in der Frankfurter Gelehrten Zeitung (1790, H. 4, 47): „Der Einfall, die für unsere Zeit so interessirende Revolution zu dramatisiren, ist glücklich“. (Zit. n. Vulpius, Bd. 4, VIII, Anm. 3.) Zur abschätzigen Bewertung des Unterhaltungsliteraten im zeitgenössischen Weimar cf. Inka Daum: „Ein Pfuscher und eingefleischter Dilettant? Christian August Vulpius im Spiegel der Dilettantismus-Debatte um 1800“, in: Stefan Blechschmidt u. Andrea Heinz (eds.): Dilettantismus um 1800, Heidelberg, Winter, 2007, 125-139; Roberto Simanowski: Die Verwaltung des Abenteuers: Massenkultur um 1800 am Beispiel Christian August Vulpius, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1998, spez. 11sq.; Andreas Meier, Kap. „Die ‚triviale Klassik‘ - Unterhaltungsliteratur als kulturelles Komplement“, in: Ders. (ed.): Christian August Vulpius: Eine Korrespondenz zur Kulturgeschichte der Goethezeit, Bd. 1: Brieftexte, Berlin/ New York, Walter de Gruyter, 2003, XIII-CLXXXVII. 176 Dossier 25 Vulpius, Bd. 5, 185; Bd. 3, VII. Cf. Dirk Göttsche: Zeit im Roman: literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, München, Wilhelm Fink, 2001, 43sq. 26 Vulpius, Bd. 5, 186. 27 Ibid. Kritisch dazu Göttsche, der „keinen Helden“ ausmachen und die behauptete Zentralposition des „nachträglich zum Helden erklärte[n] bürgerliche[n] Sekretär[s]“ nicht bestätigen kann (Göttsche, 210). 28 Vulpius, Bd. 5, 186; Bd. 1, 3. 29 Vulpius, Bd. 5, 185sq. 30 „[W]eit leichter“, so Vulpius in Vor- und Endrede, wäre es ihm gewesen, einige der zahlreichen vorliegenden französischen und englischen Stücke, Erzählungen, Beschreibungen und Epigramme zu übersetzen (Bd. 1, 3), „weit leichter“ auch, „nach öffentlichen Berichten einzelne Vorfälle und Begebenheiten während der Revolution in Paris, in dramatischer, und noch weit leichter in bloßer Erzählungsform aufzustellen“ (Bd. 5, 185). Unterschiedliche Einordnungsversuche hinsichtlich der Gattung unternehmen Gerhard Steiner: Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater, Stuttgart 1973, 31; Werner Rieck: „Zu Polarisierungstendenzen im Literaturprozeß um 1789“, in: Siegfried Streller (ed.): Literatur zwischen Revolution und Restauration. Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in Europa zwischen 1789 und 1835, Berlin/ Weimar, Aufbau, 1989, 50-69, 221-224, hier 58; Göttsche, 208sq. 31 Einen weiteren Darstellungsbezug ruft Vulpius mit den (auch bei den französischen Revolutionären beliebten) lebenden Bildern auf: „Ich habe die Ehre, meine Leser in eine Gemäldegallerie zu führen“ (Vulpius, Bd. 1, 4). Cf. (auch zum strukturellen Unterschied zu Merciers Text) Göttsche, 207. 32 Vulpius, Bd. 1, 33. Zum Pont neuf cf. ibid., 15. 33 Die Rezension ist abgedruckt in: Adolph Freiherr Knigge/ Friedrich Nicolai: Briefwechsel: 1779-1795, mit einer Auswahl und dem Verzeichnis der Rezensionen Knigges in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“, ed. von Mechthild und Paul Raabe, Göttingen, Wallstein, 2004, 238sq. Zum Status des Erlesenen in den Szenen in Paris cf. Simanowski (Kap. „Der Bibliothekar - Texte aus Texten“), 215. 34 Vulpius, Bd. 1, 45; Bd. 5, 70; Bd. 1, 11. 35 Ibid., 81. 36 Fußnote, Vulpius, Bd. 2, 19. 37 Fußnote, ibid., 68. Allerdings lässt Vulpius in einer späteren Sammlung dort auch eine Prinzessin wohnen, cf. Bd. 4, 41. Mitunter ist die geographische Zuordnung nicht eindeutig: Die Vorstadt St. Antoine etwa, ein eigentlich volkstümliches Viertel (cf. Hans-Jürgen Lüsebrink u. Rolf Reichardt: Die „Bastille“: Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit, Frankfurt a. M., Fischer Tb, 1990, 51), dient Vulpius als Schauplatz verschiedener Milieus. Distinktiv wirkt hier eher die Entgegensetzung von Innen- und Außenraum: die Volksszenen spielen in der Regel auf der Straße. 38 Vulpius, Bd. 2, 19, 68. 39 Vulpius, Bd. 5, 181. 40 „Allgemeine Erklärung wegen der Karakteristik der Szenen in Paris und Versailles“, ibid., 198. 41 Vulpius im Anhang zur letzten Sammlung: ibid., 198sq. 42 Vulpius, Bd. 1, 50. 43 Die Langlebigkeit des klassizistischen Musters auch in der deutschsprachigen Dramenproduktion beweist etwa die Debatte, die noch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts um