eJournals lendemains 36/144

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2011
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Das Subjekt der Nation in der condition postcoloniale – Krisen der Repräsentation und der Widerstreit postkolonialer Erinnerungspolitik in Frankreich

2011
Marcus Otto
ldm361440054
54 Dossier Marcus Otto Das Subjekt der Nation in der condition postcoloniale - Krisen der Repräsentation und der Widerstreit postkolonialer Erinnerungspolitik in Frankreich 1 …quels sont les fondements du roman national? Comment s’est-il vu progressivement critiqué et mis à mal, notamment sous le poids des événements du passé (guerres, génocides, colonisation) qui ont dissocié le couple nation/ civilisation et introduit une brèche dans la linéarité progressiste du déroulement de l’histoire? Que devient le roman national sous le joug des secousses épistémologiques? 2 Einleitung: Zur postkolonialen Dekonstruktion des roman national Seit den 1980ern wird in wiederkehrenden Konjunkturen und variierenden Intensitäten immer wieder darüber gestritten, was die nationale Identität Frankreichs ausmache, wer als zugehörig zur französischen Nation gilt und wer dabei mit welcher Legitimation im Namen der Republik sprechen kann. Die Frage nationaler Identität ist dabei unmittelbar gekoppelt an die Definitions- und Verfügungsmacht über gesellschaftlich relevantes Wissen. Dies gilt insbesondere für das historische Wissen, also die Repräsentation der Geschichte und die daran geknüpfte genealogische Konstitution der republikanischen Nation. In Frankreich erlangt die nationale Geschichte als genealogische Möglichkeitsbedingung der republikanischen Nation insofern einen besonderen politisch-epistemologischen Status, als sich darin die nationale und universalistische Dimension der republikanischen Selbstbeschreibung wechselseitig durchdringen. Dieser Zusammenhang entfaltete sich historisch vor allem seit der III. Republik im Kolonialismus und dem korrespondierenden emphatischen Diskurs einer mission civilisatrice, die zu einem konstitutiven Bestandteil der Selbstbeschreibung und nationalen Identität Frankreichs avancierte. 3 1 Dieser Aufsatz ist hervorgegangen aus dem von der DFG geförderten Projekt „Dekolonisierung und Erinnerungspolitik. Schulbücher im Kontext gesellschaftlicher Konflikte in Frankreich 1962-2010“ unter der Leitung von Prof. Dr. Eckhardt Fuchs am Georg-Eckert- Institut (GEI) Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. 2 Laurence de Cock: „Avant-propos“, in: ders./ Emmanuelle Picard (eds.): La fabrique scolaire de l’histoire. Illusions et désillusions du roman national, Marseille, Agone, 2009, 10. 3 Cf. hierzu ausführlich Dino Costantini: Mission civilisatrice. Le rôle de l’histoire coloniale dans la construction de l’identité politique française, Paris, La Découverte, 2008. 55 Dossier Während in der republikanisch institutionalisierten autobiographie nationale Frankreichs die Revolution von 1789 das konstitutive Ereignis der modernen Erzählung nationaler Identität mitsamt des darin inhärenten Universalismus der modernen civilisation française und ihrer mission civilisatrice darstellte, bildet das Ereignis der Dekolonisierung mit seinen weitreichenden Konsequenzen bis in die Gegenwart hinein eine tiefgreifende Herausforderung dieses nationalen Selbstverständnisses Frankreichs. 4 Diese Herausforderung ist allerdings nicht nur im klassischen Sinne politisch, sondern darüber hinaus zugleich grundlegend epistemologisch, insofern dabei sowohl die Konstitution der Nation als auch der diskursive Modus ihrer Repräsentation als privilegiertes Subjekt der Geschichte, der Zivilisation und damit des neuzeitlichen Weltbildes (Heidegger) 5 insgesamt zur Disposition gestellt wird. 6 Denn genealogisch prägte sich das moderne Subjekt seit der Französischen Revolution mit ihrer emphatischen Rhetorik eines die Welt und die Geschichte gestaltenden nouveau homme in der republikanischen Nation aus, die damit gleichsam einen paradigmatischen Ausdruck des neuzeitlichen Weltbildes darstellt. Und komplementär dazu zeichnete sich der Kolonialismus gerade dadurch aus, dass er im Rahmen dieses Weltbildes der Repräsentation die Kolonien als traditionale Gebilde ohne eigene Geschichte objektivierte und musealisierte. Mit der Dekolonisierung ist dann gleichsam die Geschichte in dieses koloniale Weltbild eingebrochen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien, sondern auch und gerade hinsichtlich der universalistischen Selbstbeschreibung des republikanischen Frankreich als ehemaliger Kolonialmacht. Für die narrative Konstruktion nationaler Identität im Rahmen der französischen Republik blieb das universalistische Konzept der civilisation indes lange Zeit konstitutiv, bevor es wie andere Metanarrative der Aufklärung, des Fortschritts oder der Emanzipation im 20. Jahrhundert zunehmend im Zeichen der berüchtigten Postmoderne, wie sie Lyotard Ende der 1970er diagnostizierte, 7 dekonstruiert und zumindest in seinem universalistischen Anspruch delegitimiert wurde. Die neuerdings kritische und ironische Rede vom roman national 8 in Frankreich verweist in diesem Zusammenhang auf die wahrgenommene Kontingenz und tentative Delegitimation des republikanischen méta-récit in der von gesellschaftlichen Konflikten, widerstreitenden Identitätspolitiken und kulturellen Differenzen geprägten Gegenwart. So entfaltete sich in Frankreich seit dem Ende der 1980er eine neuartige dis- 4 Cf. Todd Shepard: The Invention of Decolonization. The Algerian War and the Remaking of France, Ithaca, Cornell University Press, 2006. 5 Cf. Martin Heidegger: „Das Zeitalter des Weltbildes“, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/ Main, Klostermann, 1950, 69-104. 6 Cf. hierzu auch Robert Weimann: „Einleitung: Repräsentation und Alterität diesseits/ jenseits der Moderne“, in: ders. (ed.): Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1997, 7sqq. 7 Cf. Jean-François Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris, Edition de Minuit, 1979 u. ders.: Le différend, Paris, Edition de Minuit, 1983. 8 Cf. Nicolas Offenstadt: L’histoire bling bling. Le retour du roman national, Paris, Stock, 2009. 56 Dossier kursive Formation nationaler Erinnerungspolitik im Kontext der Debatten um nationale Identität, (postkoloniale) Immigration und der vielfach artikulierten Bedeutung von Geschichte und éducation civique für die republikanische Integration. 9 Und schließlich geriet 1989 zum Jahr einer durchaus bezeichnenden politisch-epistemologischen Koinzidenz des bicentenaire der Französischen Revolution mit der affaire du foulard 10 im Zeichen einer postkolonialen Gegenwart infolge der insistierenden Wiederkehr der kolonialen Unterscheidung Metropole/ Peripherie innerhalb der Metropole selbst. Seitdem avancierte die postkoloniale Erinnerungspolitik im Zuge der Debatten um den Algerienkrieg, die koloniale Sklaverei sowie den Kolonialismus insgesamt zu einem konstitutiven Diskurs widerstreitender nationaler Selbstbeschreibungen. 11 Der vorliegende Beitrag fragt daran anschließend nach den weitergehenden politisch-epistemologischen Implikationen dieser gegenwärtig insistierenden postkolonialen Dekonstruktion des roman national in Frankreich. Subjekt der mission civilisatrice? Die Nation im Zeichen des Weltbildes der Repräsentation und der fracture coloniale Nous autres, civilisations, nous savons maintenant que nous sommes mortelles. Nous avions entendu parler de mondes disparus tout entiers, d’empires coulés à pic avec tous leurs hommes et tous leurs engins; descendus au fond inexorable des siècles avec leurs dieux et leurs lois…12 Der Philosoph Martin Heidegger hat die von ihm so genannte Neuzeit als Zeitalter des Weltbildes charakterisiert. Damit postulierte er, dass erst in der Moderne die Welt im Modus der Repräsentation für den Menschen als Subjekt vorgestellt, dargestellt und damit letztlich überhaupt erst im Modus des Wissens hergestellt wird. „Dass die Welt zum Bild wird“, so konstatiert Heidegger darüber hinaus, „ist ein und derselbe Vorgang, mit dem der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum wird“. 13 Die Welt wird demnach in der Neuzeit vom Standpunkt des souveränen vor-stellenden Subjekts aus in Gestalt des Weltbildes erfahrbar, in dem „das menschliche Tun als Kultur erfasst“ wird. 14 Wissen bildet dabei den zentralen Mechanismus, mit dem sich die korrespondierende Aneignung der Welt durch das 9 Siehe hierfür exemplarisch den Colloque national sur l’histoire et son enseignement, Paris, Centre national de documentation pédagogique, 1984. 10 Cf. Patricia Legris: „Les programmes d’histoire en France (1980-2010)“, in: Histoire de l’Education, No. 26, avril-juin 2010, 135. 11 Cf. Catherine Coquery-Vidrovitch: Les enjeux politiques de l’histoire coloniale, Paris 2009 u. Johann Michel: Gouverner les mémoires. Les politiques mémorielles en France, Paris, PUF, 2010, 119-167. 12 Paul Valéry: „La crise de l’esprit“, in: Nouvelle Revue française, Paris 1919, auch zitiert in: Le monde contemporain, classes terminales, Collection d’Histoire, Paris, Hatier, 1962, 314. 13 Cf. Heidegger: Zeitalter, op. cit., 85. 14 Ebd. 57 Dossier kulturell tätige Subjekt „Mensch“ vollzieht. „Das Wort Subjectum [...] nennt das Vor- Liegende, das als Grund alles auf sich sammelt. Diese metaphysische Bedeutung hat zunächst keinen betonten Bezug zum Menschen und vollends nicht zum Ich. Wenn aber der Mensch zu dem ersten und eigentlichen Subjectum wird, dann heißt das: Der Mensch wird zu jenem Seienden, auf das sich alles Seiende in der Art seines Seins und seiner Wahrheit gründet. Der Mensch wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen.“ 15 Mit dem Begriff des Weltbildes hat Heidegger allerdings zugleich implizit den inhärenten Zusammenhang zwischen der Subjektwerdung des Menschen, dem korrespondierenden neuzeitlichem Humanismus und der universalistischen Disposition zur umfassenden Erforschung, Eroberung und Aneignung der Welt bezeichnet. 16 Das Weltbild des Subjekts, so lässt sich daran anschließend argumentieren, trägt mithin inhärent einen kolonialistischen Index. Der Kolonialismus war in diesem Sinne nicht ausschließlich ein politisch-ökonomisches, sondern auch ein fundamental epistemologisches Projekt der Weltaneignung durch das selbsternannte universalistische Subjekt. 17 In diesem Weltbild waren die Relationen Subjekt/ Objekt und Eigenes/ Fremdes im Modus vornehmlich textueller Repräsentation gleichsam parallelisiert. Im asymmetrischen modern codierten Blick dieser verwissenschaftlichten Repräsentation, die inhärent hierarchisch angelegt war, offenbarte sich das Andere idealtypisch als kulturell spezifisches Objekt gegenüber dem Universalismus eines zivilisatorisch „missionarischen“ Subjekts. Im spezifischen und gleichwohl paradigmatischen Fall Frankreichs waren dementsprechend das republikanische Selbstverständnis der Nation mit der kolonialistischen mission civilisatrice dergestalt inhärent miteinander verknüpft, dass das Kolonialreich geradezu als konsequente zivilisatorische Expansion der Republik sowie als Ausdruck des universalistischen Weltbildes der französischen Nation selbst gelten konnte. Die Musealisierung der Kolonien als traditionale Gebilde ohne eigene Geschichte war integraler Bestandteil dieses Weltbildes der kolonialen Repräsentation. Die mission civilisatrice bezeichnete sowohl ein politisches Projekt der Aneignung und Besetzung kolonialer Territorien als auch ein epistemologisches Projekt der imaginativen und konstitutiven Repräsentation der Kolonien innerhalb der Unterscheidung Metropole/ Kolonien, die im Rahmen des korrespondierenden Wissensregimes und kolonialen Weltbildes unmittelbar mit der politisch-epistemologischen Unterscheidung Subjekt/ Objekt verknüpft war. 18 Die 1950er und 1960er Jahre bedeuteten in diesem Zusammenhang eine tiefgreifende historische Zäsur. Denn sie brachten nicht nur das Ende der IV. und den Beginn der V. Republik (1958) mit sich, sondern damit zusammenhängend und 15 Ebd., 81. 16 Cf. Weimann: Repräsentation, op. cit., 15sq. und Utz Riese: „Repräsentation, postkolonial. Eine europäisch-amerikanische Assemblage“, in, Weimann: Ränder, 325sqq. 17 Ebd. 18 Ebd. 58 Dossier zugleich darüber hinausgehend das welthistorische Ereignis der Dekolonisierung sowie das Ende des französischen Empire. Insofern der Kolonialismus nicht zuletzt auch ein epistemologisches Projekt der aneignenden Repräsentation der Welt durch ein universalistisches (republikanisches) Subjekt der Zivilisation innerhalb des (kolonialen) Weltbildes darstellte, affizierte die Dekolonisierung unweigerlich diese Logik kolonialer Repräsentation. „L’apparition de ces phénomènes nouveaux bouleverse les idées reçues: les années 1950-1960 sont celles d’une mise en question des connaissances et des représentations constituées dans la période coloniale“. 19 Während im Zeichen der mission civilisatrice die Nation und das Metanarrativ der Zivilisation inhärent miteinander verknüpft waren, stellt sich die Frage, inwiefern sich nicht zuletzt ausgehend von der Dekolonisierung in den 1960er Jahren ein politischer und epistemologischer Bruch zwischen Nation und Zivilisation ereignete und welche Konsequenzen dies für die Selbstbeschreibung Frankreichs hatte und bis in die Gegenwart hinein hat. Inwiefern resultiert daraus gar bis in die Gegenwart hinein eine politisch-epistemologische Krise der Repräsentation selbst? Die sogenannte fracture coloniale 20 manifestiert sich gegenwärtig insbesondere in einem virulenten Diskurs postkolonialer Erinnerungspolitik und affiziert damit die Möglichkeitsbedingungen der Repräsentation der Nation sowie der performativen Anrufung (interpellation) von Subjekten im Sinne Althussers, 21 und zwar sowohl als potentiell inkludierte citoyens wie auch als Träger differenten genealogischen Wissens. Die Dekolonisierung und die Präsenz postkolonialer Immigration in Frankreich seit den 1960er Jahren bilden dabei gewissermaßen die umfassende Matrix der Konflikte um Erinnerungspolitik in der condition postcoloniale. Diese Konfliktkonstellation wurde seitdem in verschiedenen Variationen expliziter und impliziter Erinnerungspolitik aktualisiert, und zwar vor allem ausgehend von der Geschichte der Dekolonisierung und der darauf bezogenen Artikulation widerstreitender Selbstbeschreibungen gegenwärtiger Erinnerungspolitik sowie um die diskursive Konstitution der Nation in Frankreich. Und dies verweist insbesondere auf die inhärent performative Dimension der politisch-epistemologischen Repräsentation der Nation als Subjekt seiner eigenen Erzählung. Denn „…une nation est d’abord une ‚fabrique’, une fiction, un récit que certains racontent inlassablement et que d’autres s’émerveillent à entendre, à lire, à chanter, à apprendre par cœur, à répéter sous toutes les formes.“ 22 Eine solche narrative Repräsentation der Nation geht also 19 Claude Liauzu: Race et civilisation. L’autre dans la culture occidentale, Paris, Syros, 1992, 444. 20 Cf. Pascal Blanchard/ Nicolas Bancel/ Sandrine Lemaire (eds.): La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Paris, La Découverte, 2005. 21 Cf. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg, VSA Verlag, 1977, 108-153. 22 Patrick Cabanel: Le tour de la nation par des enfants - romans scolaires et espaces nationaux, XIX e -XX e siècles, Paris, Belin, 2007, 14. 59 Dossier zugleich mit einer wiederholten Anrufung (interpellation) 23 von Subjekten als (potentiellen) citoyens der Nation einher. Es sind dabei vor allem das republikanisch verfasste Bildungssystem und insbesondere die Schulbücher für Geschichte und éducation civique als institutionalisierte Medien der Bildung, Vermittlung und Erinnerung hegemonialen, staatlich autorisierten Wissens, die in Frankreich traditionell die Aufgabe der republikanischen Integration mit der Repräsentation der Nation und der Konstruktion nationaler Identität verbinden. Diese Schulbücher sind mithin republikanische Medien des Weltbildes, indem sie institutionell verbindliches Wissen vermitteln und produzieren sowie damit Schüler als Subjekte einer gesellschaftlichen Szene anrufen und konstituieren, „in der das Seiende fortan sich vorstellen, präsentieren, d.h. Bild sein muß“. 24 In Schulbüchern und in der Bildungspraxis wird die Welt dem Subjekt in Gestalt des Weltbildes dergestalt vermittelt, dass „das menschliche Tun als Kultur erfaßt“ 25 wird. Die republikanische Nation stellt dabei, vermittelt über die klassische Historiographie und die offizielle Erinnerungspolitik, sowohl einen privilegierten Ausdruck des Subjekts als auch ein prominentes Objekt der Repräsentation innerhalb dieses Weltbildes dar. Denn Nationen sind nicht nur imagined communities (Anderson), 26 die diskursiv konstituiert werden, sondern sie bilden darüber hinaus Dispositive, Institutionen und Medien aus, die historisch inspirierte Selbstbeschreibungen generieren, fortschreiben bzw. umschreiben und weiter vermitteln. In Frankreich wird die Nation seit der Dritten Republik, paradigmatisch bei Renan, und wieder in verstärktem Maße seit den 1980ern vor allem auch als Erinnerungsgemeinschaft definiert. Der Politik der Erinnerung ist allerdings ganz im Sinne Renans stets auch eine politique de l’oubli inhärent. 27 In der Historiographie hat sich dies besonders ausgeprägt in Pierre Noras monumentalem Projekt der ausgewählten lieux de mémoires manifestiert, in denen die Geschichte des Kolonialismus mit einer einzigen Ausnahme nicht erinnert wird. Die Ausnahme ist die Kolonialausstellung von 1931, 28 und diese Auswahl ist besonders aufschlussreich, da sich darin gleichsam die Logik der Repräsentation innerhalb des (kolonialen) Weltbildes widerspiegelt. Denn in der Kolonialausstellung wurden die Kolonien buchstäblich in der Metropole repräsentiert und ausgehend vom Subjekt der republikanischen Nation imaginativ vor-gestellt. Damit bildet die Kolonialausstellung übrigens nicht nur einen monumentalen republikanischen Erinnerungsort im Sinne Noras, sondern sie war darüber hinaus eine Heterotopie im Sinne Foucaults, d.h. ein realer Ort, an dem an- 23 Cf. Althusser: Ideologie, op. cit. 24 Cf. Heidegger: Weltbild, op. cit., 85. 25 Ebd., 85. 26 Cf. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflection on the Origins and Spread of Nationalism, London, Verso, 1985. 27 Cf. Ernest Renan: Qu’est-ce qu’une nation? , Paris, Lévy, 1882. 28 Cf. Charles-Robert Ageron: „L’exposition coloniale de 1931. Mythe républicain ou mythe impérial? “, in: Pierre Nora (ed.): Les lieux de mémoires, Bd.1, Paris, Gallimard, 1984, 561-591. 60 Dossier dere abwesende Orte - in diesem Fall die Kolonien - spektakulär repräsentiert, visualisiert und materialisiert werden. 29 Allerdings zeigt sich die diskursive Konstitution der Nation als Erinnerungsgemeinschaft auch weniger spektakulär in den Schulbüchern als institutionalisierten Medien der Bildung, Vermittlung und eben auch Erinnerung hegemonialen, staatlich autorisierten diskursiven Wissens. Geschichtsschulbücher gelten daher gleichsam als „nationale Autobiographien“ 30 und bilden ein gesellschaftlich relevantes und staatlich legitimiertes Archiv historischen Wissens. Während die Historiographie seit dem 19. Jahrhundert die Nation von der jeweiligen Gegenwart aus gleichsam in die Vergangenheit projizierte, greifen die Schule und die Schulbücher diese Projektionen auf, um die Nation ebenfalls von der jeweiligen Gegenwart aus durch die Vermittlung an die nachfolgenden Generationen gleichsam in die Zukunft fortzuschreiben. Insofern wird die Nation durch die invention of tradition als Erinnerungsgemeinschaft konstituiert, wobei Hobsbawm für Frankreich die entscheidende Bedeutung der Schule und der Schulbücher für diesen Prozess unterstrichen hat. 31 Die Historiographie als wissenschaftlich autorisierte Instanz immer noch primär nationalstaatlicher Geschichtsschreibung, die Institution der Schule als primäre Instanz der Rekrutierung von citoyens, als Schule der Nation par excellence, sowie die Schulbücher als primäre schulische Bildungsmedien sollen dabei nicht zuletzt auch für die Tradition, Transmission, Vermittlung und letztlich Einschreibung der Nation in die Öffentlichkeit und Wirklichkeit der nachfolgenden Generationen sorgen. Allerdings unterliegt dies insgesamt einer jeweils spezifischen Historizität und Textualität. „L’essentiel, ici, consistait à rappeler combien les nations sont des textes, des plus grands (les classiques) aux plus modestes (les manuels)…“ 32 So gibt es offensichtlich keine unmittelbare Übertragung oder gar Übersetzung der Historiographie in die Institution der Schule und in die Schulbücher. Stattdessen handelt es sich zumeist um Erinnerungspolitik, d.h. um performative Selbstbeschreibungen, die in den unterschiedlichen institutionellen Kontexten aktualisiert, supplementiert und dabei nicht selten konflikthaft umkämpft bzw. ausgehandelt werden. Und Schulbücher sowie die Institution der Schule sind insofern hierfür konstitutiv, als sie zentrale Medien der Erinnerungspolitik und, damit unmittelbar verbunden, der diskursiven Konstitution der Nation in mindestens zweifacher Hinsicht darstellen: In Schulbüchern wird nicht nur das nationalstaatliche Selbstverständnis, auch und gerade geprägt durch die Repräsentation der Geschichte und die Tradition der Republik, zum Ausdruck gebracht und an Schüler/ innen vermittelt, 29 Cf. Michel Foucault: „Von anderen Räumen“, in, ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd.4, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2004, 935. 30 Cf. Wolfgang Jacobmeyer: „Das Schulgeschichtsbuch - Gedächtnis der Gesellschaft oder Autobiographie der Nation? “, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik, 26, 1998, 26-35. 31 Cf. Eric Hobsbawm: „Mass-Producing Traditions. Europe 1870-1914“, in: ders./ Terence Ranger (eds.): The Invention of Tradition, Cambridge, Cambridge University Press, 1983, 271. 32 Cabanel: Romans scolaires, op. cit., 23. 61 Dossier sondern Schulbücher als Medium institutionalisierten schulischen Unterrichts kommunizieren darüber hinaus performativ eine individuelle und kollektive Ansprache (interpellation) im Namen universalistischer Werte der Republik. Dies wird gegenwärtig zunehmend angesichts postkolonialer Immigration und den damit verbundenen Krisen politischer Inklusion 33 besonders problematisch und politisch brisant. Denn historisch vermittelten die Schulbücher in der III. Republik geradezu einen Diskurs der Legitimation des Kolonialismus 34 und gerieten darüber hinaus in den Kolonien selbst zu erzieherischen Vehikeln der mission civilisatrice. Interessant ist, dass diese zivilisatorische Bildungsmission nicht nur auf die damaligen Kolonien d’outre-mer, sondern auch innerhalb des metropolitanen Frankreichs auf vor allem ländliche Unterschichten 35 sowie auf Provinzen und Regionen 36 abzielte. Assimilation war das dem entsprechende Konzept, das die Einheit der französischen Republik gewährleisten sollte. Insofern Assimilation allerdings zutiefst mit dem Kolonialismus selbst verknüpft war, ist dieses Konzept infolge der Dekolonisierung sukzessive diskreditiert worden. Seit den 1980ern wird daher vor allem mittels der Semantik von Integration auf diese postkoloniale Krise des nationalstaatlich republikanischen Selbstverständnisses reagiert. Im folgenden geht es daher um die Frage, inwiefern die omnipräsente politische Semantik republikanischer Integration zugleich mit der epistemologischen Herausforderung verknüpft war und ist, das kritische Ereignis der Dekolonisierung in die republikanisch institutionalisierte autobiographie nationale, wie sie insbesondere die Geschichtsschulbücher darstellen, 37 zu integrieren. Das Ereignis der Dekolonisierung und Krisen der Repräsentation in der autobiographie nationale. Der Diskurs der Geschichtsschulbücher seit den 1960ern Pour penser l’histoire coloniale scolaire, il faut [...] passer du manuel scolaire empirique au manuel scolaire épistémique en situant les livres d’école selon la position qu’ils occupent dans un espace social, espace où s’agencent une pluralité de relations objectives de transactions et de relations objectives de concurrence.38 33 Cf. Marcus Otto: „Staat und Stasis in Frankreich. Strukturelle Probleme und semantische Paradoxien politischer Inklusion“, in: Christoph Gusy/ Heinz Gerhard Haupt (ed.): Inklusion und Partizipation. Politische Kommunikation im Wandel, Frankfurt/ Main, Campus, 2005, 225-246. 34 Cf. Eric Savarèse: L’ordre colonial et sa légitimation en France métropolitaine. Oublier l’autre, Paris, Harmattan, 1998, 137. 35 Cf. Eugène Weber: Peasants into Frenchmen. The Modernization of rural France, London, Chatto&Windus, 1976. 36 Cf. Herman Lebovics: Bringing the Empire back home. France in the global age, Durham, Duke University Press, 2004. 37 Cf. Jacobmeyer: Schulgeschichtsbuch, op. cit. 38 Eric Savarèse: L’ordre colonial, op. cit., 144sq. 62 Dossier Schulbücher werden als Medien der Erinnerungspolitik immer wieder auch zu deren Gegenstand, indem sowohl der Staat vor allem durch die Gestaltung der Unterrichtsprogramme als auch verschiedene gesellschaftliche Akteure darauf abzielen, die Darstellungen in den Schulbüchern zu beeinflussen. Dies verweist nicht zuletzt darauf, dass Erinnerungspolitik inhärent mit jeweils gegenwärtigen gesellschaftlichen Konflikten verflochten ist, die im Schulbuchdiskurs als sogenannte questions chaudes oder questions socialement vives insistieren. Gegenwärtig gilt dies für die Erinnerungspolitik um le fait colonial und ausgehend von der Debatte um den Algerienkrieg für die Geschichte der Dekolonisierung, deren Darstellung in den Geschichtsschulbüchern im folgenden fokussiert wird, in besonderem Maße. 39 Die Schulbücher sind in Frankreich maßgeblich durch die Konzeption der jeweiligen Unterrichtsprogramme bestimmt. So zeichnen sich diese Programme seit den 1960ern dadurch aus, dass sie explizit eine Geschichte der jeweiligen Gegenwart vorsehen und dementsprechend darauf ausgerichtet sind, nicht nur die dargestellte Geschichte möglichst in die Gegenwart reichen zu lassen, sondern darüber hinaus jeweils aktuelle Begriffe und Konzepte zur Beschreibung und Interpretation dieser Geschichte zu verwenden. Dies fällt insbesondere bereits für das federführend von Braudel konzipierte Programm der 1960er auf. In den korrespondierenden Schulbüchern 40 wird nicht nur das zeitgenössisch historiographisch prominente Konzept der Zivilisation zur zentralen Kategorie der historischen Darstellung, sondern es finden bereits die noch sehr neuen Begriffe der décolonisation und partiell des Tiers Monde unmittelbar Eingang und Verwendung in den Schulbüchern für die Darstellung der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien. Historiographisch sind die Lehrpläne und Schulbücher der 1960er sehr weitgehend vom Ansatz einer histoire totale geprägt, wie sie die Annales-Schule in kritischer Auseinandersetzung sowohl gegenüber der klassischen Ereignisgeschichte als auch gegenüber einer politikzentrierten histoire nationale vertreten hat. „Les nouveaux programmes tiennent compte en partie de ces recommandations: en géographie, par exemple, dans l’étude des pays africains et malgaches d’expression française, ‘on fera une large place à l’étude des populations, de leurs activités, de leur évolution’. En histoire, dans les classes terminales, on étudiera ‘la situation de l’Europe devant la montée de nouvelles puissances’, ‘l’émancipation des pays coloniaux, les contrastes entre pays inégalement développés’ et ‘les grandes civilisations du monde contemporain’ - abandonnant ainsi le concept occidental et traditionnel de 39 Cf. Françoise Lanthéaume: L’enseignement de la colonisation et décolonisation de l’Algérie. Etat-nation, identité nationale, critique et valeurs. Essai de sociologie du curriculum, Paris, Diss. 2002. 40 Die folgenden Ausführungen basieren auf der Untersuchung von Geschichtsschulbüchern der terminale (Abschlussklassen) der 1960er folgender Schulbuchverlage: Belin, Bordas, Delagrave, Dunod, Hachette, Hatier. 63 Dossier civilisation.“ 41 Damit war dieses Unterrichtsprogramm durchaus Ausdruck eines neuartigen Paradigmas der Kritik in den 1960ern und 1970ern. 42 Allerdings handelt es sich hinsichtlich des Aufbaus der Geschichtsschulbücher insofern um einen Kompromiss zwischen historiographischer Innovation und einem eher staatspolitischen Geschichtsverständnis, als im ersten Teil die beiden Weltkriege und eben auch die daran anschließende Dekolonisierung weitgehend ereignisgeschichtlich dargestellt werden. Im zweiten Teil folgt dann eine insgesamt zwischen Musealisierung und Historisierung oszillierende Darstellung verschiedener Zivilisationen der Welt. 43 An dem im mehrfachen Sinne kritischen Begriff der civilisation, wie er historiographisch von der Annales-Schule geprägt und in die Geschichtsschulbücher eingeführt wurde, machte sich schließlich neben der Kritik an einer ereignisgeschichtlichen und politikzentrierten Nationalgeschichte ebenfalls eine paradigmatische Rhetorik der Krise fest. Einschlägig war dabei der Rekurs auf Valérys oben bereits zitierte Schrift „La crise de l’esprit“ von 1919. Zum Begriff der civilisation heißt es nicht zuletzt unter dem Eindruck der Dekolonisierung: „Les nations qui en sont issues ont même cru qu’elle était la seule civilisation digne de ce nom et ont pu espérer au siècle dernier l’imposer à la planète. Il n’en est plus de même aujourd’hui et les Occidentaux ont fini par comprendre que d’autres types de civilisation étaient également valables pour l’humanité.“ 44 Im Kontext der Dekolonisierung wandelt sich dementsprechend grundlegend die Definition von civilisation bzw. civilisations. Klassisch wurde demnach civilisation von primitiven Gesellschaften unterschieden. „…la notion de civilisation implique ainsi l’idée d’une humanité partagée en deux classes inégalement évoluées dont la première seule accomplirait toutes les possibilités de la nature humaine. N’étant pas liée à une doctrine raciste, cette conception n’exclut pas que les sociétés primitives puissent, elles aussi, accéder un jour à la civilisation. C’est même une probabilité, car la civilisa- 41 Manuela Semidei: „De l’Empire à la Décolonisation. A travers les manuels scolaires français“, in: Revue française, Vol. 16, 1966, S.80 u. Arrêté du 1 er juillet 1964, in: Bulletin de l’Education nationale du 16 juillet 1964. 42 Cf. Lanthéaume: Enseignement, op. cit. 43 Nicht unbedingt repräsentativ, aber besonders pointiert ist in diesem Zusammenhang folgende Aussage zu Afrique noire im Kontext der Dekolonisierung in einem federführend von Braudel redigierten und 1963 bei Belin erschienenen Geschichtsschulbuch: „Pour une étude des civilisations, l’Afrique Noire s’offre comme un cas privilégie. Avec les indépendances qui se sont étendues, ces dernières années, à la majeure partie de son espace, avec la valorisation de sa ‘négritude’, cet ‘humanisme naissant’ qui commence à prendre conscience de ses valeurs propres et de ses possibilités, avec la recherche passionnée d’une histoire qu’il lui faut construire, presque inventer, l’Afrique Noire a le très gros avantage de se présenter comme un monde culturel en plein devenir. Elle offre à notre observation toutes les formes, depuis les plus archaiques jusqu’aux formes urbaines les plus progressives, et tous les stades de l’acculturation.“ (Le monde actuel. Histoire et civilisations, classes terminales, Belin, Paris, Belin, 1963, 229.) 44 Le monde contemporain. Cours d’histoire, classes terminales, Paris, Delagrave, 1962, 231. 64 Dossier tion est spontanément universelle.“ 45 Hieraus leitete sich unmittelbar die zivilisatorische Mission des Kolonialismus ab. 46 Im Kontext der Dekolonisierung und als Folge des 2. WK habe sich diese Definition schließlich epistemologisch verschoben hin zu civilisations im Plural und zur Vorstellung von der Relativität der Zivilisationen, wie sie insbesondere durch die zeitgenössische Ethnologie akzentuiert werde. „Une vue toute différente s’est progressivement fait jour qui a aujourd’hui largement supplanté la conception traditionnelle. Cette révision a été imposée par le progrès de nos connaissances en deux directions principales. L’expérience contemporaine n’a pas vérifié la rigueur de la distinction classique entre civilises et non-civilisés. On dut s’aviser que la réalité était moins simple. D’une part, les travaux des ethnologues mirent en lumière que les populations réputées sauvage n’étaient pas entièrement dépourvues de civilisation [...] En retour, la découverte de ces codes jetait sur la tranquille certitude des civilisés dans la valeur absolue de leurs habitudes de pensée et de vie un soupçon de relativité. Précisément des événements comme les guerres et les excès qui les accompagnaient démontraient que même des nations hautement et anciennement civilisées n’étaient pas l’abri de retours à la barbarie, ou, plus exactement, ils suggéraient que le progrès de la civilisation n’était pas uniforme…“ 47 Damit wird zugleich die Legitimation der Kolonisation infragegestellt. Denn in diesem Sinne gibt es keine unterlegenen, sondern nur noch verschiedene Gesellschaften, und der Begriff civilisation bezeichnet keine absolute Einheit mehr, sondern eine Pluralität und relative Größe. 48 Das damit einhergehende fundamentale Krisenbewusstsein der civilisation occidentale wird exemplarisch in einem Lehrwerk von Hachette resümiert: „L’occident se trouve, de nos jours, une fois encore devant son destin, comme il s’y est déjà trouvé à la fin de l’Empire romain - au moment de l’avènement du christianisme - et à la fin du Moyen Age - au moment de la redécouverte de l’Homme. [...] Ce n’est à coup sûr ni une nouvelle religion, ni même la révélation d’autres puissances ou d’autres énergies, fussent-elles nucléaires. Le fait est à la fois plus simple et plus profond: l’Occident prend à présent conscience de ses mesures, depuis qu’il n’est plus un maître mais un égal à l’égard des autres grandes parties du monde. Mesure de sa place dans l’espace: il n’est qu’une fraction de la planète, entre le monde socialiste, le monde musulman, celui de l’Extrême-Orient et celui de l’Afrique noire. Mesure de sa place dans le temps: il a découvert, comme bien des écrivains et des penseurs le lui ont dit, que ‘toutes les civilisations’ et par conséquent la sienne, ‘sont mortelles’; qu’elles subissent la loi de l’essor, de l’apogée et du déclin. Mesure de sa densité humaine: bien que la population occidentale s’accroisse, elle le fait moins et surtout moins vite que bien d’autres [...] Mesure de sa puissance économique et politique, ainsi que 45 Le monde contemporain, classes terminales. Collection d’Histoire, Paris, Hatier 1962, 290. 46 Cf. ebd., 290. 47 Ebd., 290. 48 Ebd., 291. 65 Dossier de son prestige: quoique l’une et l’autre restent encore grands, il est difficile de ne point reconnaître les coups qui leur ont été portés par les deux conflits mondiaux, les crises économiques, les abandons forcés de colonies, etc.“ 49 Epistemologisch sind die Geschichtsschulbücher des sogenannten programme de civilisations mithin ausgehend von eben jenem Begriff der civilisation bzw. der civilisations von einer fundamentalen Kritik und Krise des westlichen Universalismus geprägt, in deren Rahmen dann auch Kolonialismus und Dekolonisierung eingeordnet werden. Dies ändert sich grundlegend mit dem Programm Haby 1982, in dessen Geschichtsschulbüchern 50 die Dekolonisierung sowie der Algerienkrieg zwar weitgehend nunmehr als eigenständige historische Ereignisse in der Herausbildung des monde contemporain behandelt, dabei jedoch zugleich vor allem unter modernisierungstheoretisch gefärbte sozialwissenschaftliche Kategorien und Konzepte wie Tiers Monde, Wachstum, (Unter-)Entwicklung, Nord/ Süd-Konflikt etc. subsumiert werden. In einem programmatischen Einführungstext heißt es beispielsweise: „Au lendemain de la Seconde Guerre mondiale, la révolte des pays colonisés semblait sonner le glas des puissances industrielles. Or la décolonisation, réalisée en quelques années, n’a aucunement affecté la croissance du Nord. En revanche, la conquête de l’émancipation politique ne s’est pas accompagnée, loin s’en faut, du développement du Sud. Cette émergence d’un ‘Tiers Monde’ aux contours mal définis est ainsi devenue le problème majeur de la seconde moitié du XX e siècle. Le ‘fardeau de l’homme blanc’ que magnifiait Kipling, est devenu son remords.“ 51 In einer Bilanz des Kolonialismus wird außerdem anhand des Konzepts ökonomischer Modernisierung die Kolonialherrschaft Frankreichs von der Großbritanniens unterschieden: Der erfolgreichen Dekolonisierung des britischen Indiens stehe „une décolonisation manquée“ der französischen Kolonien, insbesondere Indochinas und Algeriens gegenüber. Denn im Unterschied zu Großbritannien in Indien habe Frankreich aus innenpolitischen Gründen eine Industrialisierung seiner Kolonien verweigert. 52 Gleichsam komplementär dazu wird dann auch die Frage aufgeworfen und diskutiert, inwiefern die Kolonien der Modernisierung Frankreichs hinderlich gewesen seien. 53 Schließlich wird die Dekolonisierung tentativ in ein Narrativ der Modernisierung integriert, indem die Verlustgeschichte des Empire kompensiert wird durch die Erfolgsgeschichte der vor allem sozio-ökonomischen Modernisierung in den Trente Glorieuses. Insgesamt bewegen sich dieses Unterrichtsprogramm und seine Schulbücher weitgehend innerhalb eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas der Modernisierung. An die Stelle des historiographisch 49 Le monde contemporain, classes terminales, Paris, Hachette, 1962, 190 (Hervorhebungen im Original). 50 Die folgenden Ausführungen basieren auf der Untersuchung von Geschichtsschulbüchern der terminale 1982-1988 folgender Schulbuchverlage: Nathan, Colin, Hatier, Delagrave, Hachette. 51 Le monde de 1939 à nos jours, terminales A, B, C, D, Paris, Hachette, 1983, 170. 52 Cf. ebd., 174. 53 Cf. u.a. ebd., 172. 66 Dossier und geisteswissenschaftlich geprägten Begriffs der Zivilisation bzw. Zivilisationen tritt insgesamt der eher sozialwissenschaftlich geprägte Begriff des monde inklusive der spezifischen Prominenz des Begriffs Tiers Monde. Hiermit korrespondiert eine epistemologische Verschiebung der Teilungsprinzipien, also der verwendeten schematischen Leitunterscheidungen, auch und gerade in der Repräsentation der zeitgenössischen Welt. So liegt hier der Aufteilung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg in Erste, Zweite und Dritte Welt insgesamt die Leitunterscheidung Moderne/ Tradition zugrunde, die dabei gleichsam die Unterscheidung verschiedener Zivilisationen überformt. Dieses Ende der 1970er konzipierte und 1982 eingeführte Unterrichtsprogramm wurde allerdings von Beginn an dafür kritisiert, dass es die historische Erzählung allgemein und die nationale Geschichte Frankreichs im besonderen in sozialwissenschaftliche Kategorien zerlege. 54 Diese Kritik mündete schließlich in der Einführung eines neuen Unterrichtsprogramms (Programme Chevènement 1989), das mit dem Ziel verbunden war, (wieder) einen récit national in den Geschichtsschulbüchern 55 zu verankern. Gleichwohl sollte diese erneuerte nationale Geschichtserzählung ganz im Sinne einer Geschichte der Gegenwart und einer (impliziten) éducation civique 56 die jeunes citoyens erreichen, wie im Vorwort eines Lehrwerkes von Nathan formuliert: „Dans son Apologie pour l’histoire ou le métier d’historien, Marc Bloch écrivait: ‘L’incompréhension du présent naît fatalement de l’ignorance du passé. Mail il n’est peut-être pas moins vain de s’épuiser à comprendre le passé, si l’on ne sait rien du présent. […] Cette faculté d’appréhension du vivant, poursuivait-il, voilà bien, en effet, la qualité maîtresse de l’historien.’ Eclairer le présent par le passé, expliquer la construction du monde contemporain, en faire comprendre le fonctionnement, contribuer à rendre les jeunes citoyens plus maîtres de leur temps, telles sont les ambitions des auteurs de ce manuel. Même si le second XX e siècle doit être abordé avec prudence, même si tous les documents n’ont pas encore été publiés, il est toutefois possible, sans céder à l’actualité si souvent confuse ou manipulable, de tracer les lignes de force de la période qui est la nôtre, d’en formuler quelques explications, d’en repérer les principaux enjeux.“ 57 Dabei wird vor allem die gewaltsame Dekolonisierung im Indochina- und Algerienkrieg als historische Zäsur in der Geschichte Frankreichs präsentiert. Daran anschließend wird die Dekolonisierung allerdings unter dem ein- 54 Cf. Patricia Legris: „‘On n’apprend plus l’histoire à nos enfants! ’ Retour sur la polémique de l’enseignement de l’histoire en France au tournant des années 1970-1980“, in, Julien Barroche/ Nathalie LeBouedec/ Xavier Pons (ed.): Les Figures de l’Etat éducateur, Paris, Harmattan, 2008. 55 Die folgenden Ausführungen basieren auf der Untersuchung von Geschichtsschulbüchern der terminale 1989-1994 folgender Schulbuchverlage: Hatier, Belin, Bordas, Nathan, Hachette. 56 Cf. zur angestrebten Verknüpfung von Geschichtsunterricht und éducation civique den Colloque national sur l’histoire et son enseignement, op. cit. 57 Histoire, terminale, Paris, Nathan, 1989, 3. 67 Dossier gängigen Titel „De l’Empire à l’Europe“ von der Verlustgeschichte des Kolonialreiches transformiert in eine Erfolgsgeschichte eines französisch geprägten Europas. Zugleich werden allerdings auch die Konsequenzen der Dekolonisierung wie postkoloniale Immigration sowie die Problematik nationaler Identität und republikanischer Integration in einer Problemgeschichte der Gegenwart Frankreichs seit den 1980ern expliziert. 58 Hier gilt die Darstellung der Geschichte Frankreichs mithin als zentraler Aspekt einer gegenwartsbezogenen éducation civique: „La France (5 chapitres) à laquelle le programme officiel accorde cette année la place privilégiée que nous lui avons déjà consacrée quant à nous dans les volumes de Seconde et de Première. N’est-ce pas en effet, pour des élèves dont une fraction de plus en plus importante a déjà le droit de vote, la première des éducations civiques? “ 59 Insgesamt lässt sich dieses Unterrichtsprogramm mit seinen Geschichtsschulbüchern daher als Ausdruck eines Paradigmas der republikanischen Integration charakterisieren. Während in diesem Diskurs die historische Zäsur der Dekolonisierung weitgehend in das Narrativ der Modernisierung und republikanischen Erneuerung Frankreichs integriert wurde, 60 affizierten immer mehr zutiefst gegenwärtige gesellschaftliche Konflikte diese Repräsentation. Dies führte zu den anhaltenden und wiederkehrenden Debatten um die Angemessenheit eines zumeist kritisch sogenannten (homogenen, linearen und eurozentrischen) roman national in den Geschichtsdarstellungen der Schulbücher angesichts der Heterogenität Frankreichs nicht zuletzt infolge postkolonialer Immigration. 61 Seit den 1990ern sind die Geschichtsschulbücher 62 zunehmend durch die historiographisch-erinnerungspolitischen Debatten um die lieux de mémoires, den patrimoine der französischen und europäischen Geschichte sowie um den devoir de mémoire angesichts heterogener kollektiver Erinnerungsperspektiven, deren potentieller Anerkennung und dem republikanischen Imperativ einer nationalen Erinnerungspolitik, besonders manifest in den sogenannten lois mémorielles, geprägt. 63 Ein zentrales Charakteristikum der Geschichtsschulbücher seit dem Ende der 1990er besteht in diesem Zusammenhang in einer gewissermaßen reflexiven Wendung hin zur Erinnerungspolitik, und zwar nicht nur in Bezug auf den Zweiten 58 Cf. u.a. Histoire, terminale, Paris, Hatier, 1993, 265-269, Histoire, terminale, Paris, Hatier, 1989, 248-251, Histoire, terminale, Paris, Hachette, 1992, 405-412 sowie Histoire, terminale, Paris, Belin, 1989, 458. 59 Histoire, terminale, Paris, Bordas, 1989, 3. 60 Cf. Shepard: Decolonization, op. cit. 61 Cf. de Cock et al.: Fabrique, op. cit. u. Corinne Bonafoux/ Laurence de Cock/ Benoît Falaize: Mémoires et histoire à l’école de la République. Quels enjeux? , Paris, Armand Colin, 2007. 62 Die folgenden Ausführungen basieren auf der Untersuchung von Geschichtsschulbüchern der terminale 1998-2008 folgender Schulbuchverlage: Magnard, Nathan, Bréal, Bordas, Hatier, Belin, Hachette. 63 Cf. u.a. Michel: Gouverner, op. cit., 94sqq., de Cock et al.: Fabrique, op. cit., 105sqq. u. Bonafoux et al.: Mémoires, op. cit., 52sqq. 68 Dossier Weltkrieg, sondern zunehmend auch in Bezug auf den Algerienkrieg und den Kolonialismus. 64 Dies schlägt sich dann ebenfalls in der Art und Weise nieder, wie Geschichte und Gegenwart der zeitgenössischen Welt programmatisch miteinander verflochten werden. „Avec le nouveau programme de Terminale, l’Histoire va, plus que jamais, à la rencontre de l’actualité. Car le monde d’aujourd’hui, si bouleversé, est le fruit de ces grands événements qui se sont passés hier. [...] Une histoire du Monde, de l’Europe, de la France. Depuis 1945 jusqu’à aujourd’hui. Une histoire récente. Une histoire immédiate. Une histoire qui s’écrit encore. Parce que les Archives délivrent peu à peu leurs secrets. Parce que les controverses sont encore vives. Parce que les sujets sont encore brûlants et plongent dans le chaudron de l’actualité. Ce qui renforce encore la nécessité, inhérente à tout enseignement, de transmettre des connaissances, donner des repères, proposer du sens.“ 65 Mithin stehen die Geschichtsschulbücher im Zeichen eines neuartigen Paradigmas der expliziten Erinnerungspolitik. Schulbücher sind dergestalt nicht mehr nur Medien, sondern werden immer wieder zum expliziten Gegenstand auch und gerade der postkolonialen Erinnerungspolitik, wie die explizite Bezugnahme auf die programmes scolaires insbesondere in den lois mémorielles von 2001 zur Anerkennung von esclavage und traite négrière 66 sowie von 2005 zur Darstellung der französischen Kolonisation zeigen. 67 Die damit einhergehende Politisierung zwischen republikanischer histoire officielle und der Anerkennungs- und Erinnerungspolitik verschiedener gesellschaftlicher Akteure schlägt sich schließlich besonders intensiv in den neuesten Programmen nieder: „Ces programmes sont marqués par la promotion d’une ‚nouvelle citoyenneté’. Depuis la publication des programmes Borne, les rapports entre histoire scolaire, champ politique et société civile se sont modifiés. Bien qu’existant déjà auparavant, les pressions exercées par différents groupes sur les producteurs de programmes se sont multipliées. L’histoire scolaire est devenue davantage perméable à certaines attentes sociales et constitue un réel enjeu politique à ce titre. Les ‘questions socialement vives’ sont l’objet de préoccupation de la part des acteurs du secteur éducatif: les enjeux mémoriels et les débats de société pénètrent les salles de classe. C’est par exemple le cas avec l’étude de la guerre d’Algérie et de la période coloniale. Les lois dites ‘mémoriel- 64 Cf. u.a. Histoire, terminale, Paris, Bréal, 2004, 370sq. u. Histoire, terminale, Paris, Magnard, 2008, 124sq. 65 Bréal 2004, op. cit., 4sq. (Hervorhebungen im Original). 66 „Les programmes scolaires et les programmes de recherche en histoire et en sciences humaines accorderont à la traite négrière et à l’esclavage la place conséquente qu’ils méritent.“ (Artikel 3). 67 „Les programmes scolaires reconnaissent en particulier le rôle positif de la présence française d’outre-mer, et notamment en Afrique du Nord, et accordent à l’histoire et aux sacrifices des combattants de l’armée française issue de ces territoires la place éminente à laquelle ils ont droit.“ (Aritkel 4, später aufgehoben). Siehe hierzu auch Michel: Gouverner, op. cit. u. Claude Liauzu/ Gilles Manceron (eds.): La colonisation, la loi et l’histoire, Paris, Editions Syllepse, 2006. 69 Dossier les’, votées par le Parlement entre la fin des années 1990 et le début des années 2000, politisent certains pans de l’histoire.“ 68 Die Dekolonisierung, so lässt sich resümieren, erscheint zunächst im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Diskurs der „Krise der westlichen Zivilisation“ nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. 69 In diesem Zusammenhang gehen Ereignis und Begriff der Dekolonisierung dann auch in die Schulbücher der 1960er ein, die durch das Programm einer Geschichte der civilisations geprägt sind, wie sie die Annales-Schule hervorgebracht hat. Darin wird die Ereignisgeschichte einerseits gleichsam in der Geschichte und Geographie der Zivilisationen aufgehoben, jedoch wird andererseits die aktuelle Gegenwart explizit und programmatisch von jeweils kontingenten historischen Ereignissen her begriffen. Dies gilt insbesondere für die Selbstbeschreibung Frankreichs und seines Status in der gegenwärtigen Welt. Neben den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts erscheint dabei die Dekolonisierung als entscheidendes historisches Ereignis, das die Gegenwart Frankreichs und der Welt insgesamt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich affiziert und konstituiert. Angesichts des kolonialen Weltbildes der Repräsentation gerät die Dekolonisierung allerdings vom bloßen historischen Ereignis zu einer veritablen Zäsur und sukzessive zum Gegenstand der (postkolonialen) Erinnerungspolitik. Dies wirft schließlich die Frage auf, inwiefern die virulente Performativität der gegenwärtigen postkolonialen Erinnerungspolitik auch und gerade Ausdruck einer umfassenden politisch-epistemologischen Krise der Repräsentation selbst ist. Guerres de mémoires - Der Widerstreit und das Unvernehmen postkolonialer Erinnerungspolitik Le statut de l’histoire dans l’enseignement, dans la culture nationale, les usages public sont un héritage dont on ne peut plus se contenter de cultiver les coupons. La nation n’est plus ce qu’elle était, celle des rois qui ont fait la France, celle de l’universalisme de 1789, celle de la ‘plus grande France’. Le roman national ne parle pas à des populations venues des quatre coins du monde. La société est plurielle, elle est traversée par la mondialisation. Une des conditions de l’élaboration d’un devenir commun est le partage d’un passé fait de conflits et d’échanges, qui a transformé les protagonistes.70 68 Patricia Legris: „Les programmes scolaires d’histoire dans l’enseignement secondaire“, in: Laurence de Cock/ Emmanuel Picard (eds.): Fabrique, 51. 69 Cf. Shepard: Decolonization, 55sq. u. Guy Pervillé: De l’Empire français à la decolonisation, Paris, Hachette, 1991, 15. 70 Claude Liauzu: „Entre histoire nostalgique de la colonisation et posture anticolonialiste. Quelle critique historique de la colonisation? “, Colloque pour une histoire critique et citoyenne. Le cas de l’histoire franco-algérienne, 20-22juin 2006, Lyon, ENS LSH, 2007, http: / / w3.ens-lsh.fr/ colloques/ france-algerie/ communication.php3? id_article=209. 70 Dossier Im Zuge der Dekolonisierung, der postkolonialen Immigration sowie der damit einhergehendenWiederkehr (des re-entry) der kolonialistischen Unterscheidung zwischen Metropole und Kolonien in Frankreich, sozialgeographisch gleichsam monumental manifestiert in der Differenz zwischen urbanen Metropolen und suburbanen banlieues, artikulieren sich nunmehr in verschiedenster Weise differente postkoloniale Subjektpositionen, und zwar sowohl allgemein gesellschaftlich als auch dezidiert erinnerungspolitisch. Die rezenten Debatten um die loi mémorielle (2005) zur positiven Darstellung des Kolonialismus und um die Bewegung der Indigènes de la République, die sich strategisch als Nachfahren der ehemaligen Kolonisierten identifizieren, sind exemplarisch für den Zusammenhang zwischen aktuellen gesellschaftlichen Konflikten und dem Widerstreit postkolonialer Erinnerungspolitik. Mithin lassen sie sich als paradigmatischen Ausdruck einer konfliktträchtigen gegenwärtigen condition postcoloniale in Frankreich begreifen. Im Zentrum stehen dabei offensichtlich postkoloniale Deutungs- und Identifikationskonflikte in unmittelbarem Bezug zur Geschichte des Kolonialismus, der Dekolonisierung sowie zur Geschichte und Gegenwart der postkolonialen Immigration in Frankreich. Es handelt sich nicht zuletzt um eine konfliktträchtige Form von Erinnerungs- und Geschichtspolitik, die unmittelbar das Selbstverständnis und die Repräsentation Frankreichs als republikanischer Nationalstaat mit einer inhärenten imperialistischen Vergangenheit betrifft. 71 In Frankreich wird schließlich in den sogenannten guerres de mémoires 72 in Gestalt der sogenannten questions chaudes bzw. questions socialement vives vielfach darüber gestritten, was in welcher Art und Weise in unterschiedlichen Medien der nationalen Selbstbeschreibung wie u.a. in den Schulbüchern erinnert, vermittelt und tradiert wird. In den Debatten um die lois mémorielles, den Algerienkrieg, die Geschichte der kolonialen Sklaverei oder um die identité française angesichts (postkolonialer) Immigration formiert sich damit ein veritabler Diskurs postkolonialer Erinnerungspolitik, dem sowohl eine grundlegend epistemologische als auch eine konstitutiv politische Dimension inhärent ist. Beide Dimensionen verweisen dabei auf die konfliktträchtige Wiederkehr (das re-entry) der innerhalb der nationalen Selbstbeschreibung gewissermaßen ausgelagerten kolonialen Unterscheidung Metropole/ Peripherie nunmehr innerhalb der ehemaligen Metropole selbst. Denn im Diskurs postkolonialer Erinnerungspolitik bricht die im Weltbild der kolonialen Repräsentation musealisierte Subjektivität der ehemaligen Kolonisierten performativ auf. Epistemologisch handelt es sich dabei erstens um den Ausdruck einer condition postcoloniale, einer postkolonialen Krise der Repräsentation selbst. Damit hängt zweitens ein politisches Unvernehmen (Rancière) 73 zusammen, und 71 Cf. Coquery-Vidrovitch: Enjeux, op. cit. 72 Cf. Pascal Blanchard/ Isabelle Veyrat-Masson: Les guerres de mémoires. La France et son histoire. Enjeux politiques, controverses historiques, stratégies médiatiques, Paris, La Découverte, 2008. 73 Cf. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2002. 71 Dossier zwar zwischen dem historischen roman national bzw. der politisch sanktionierten autobiographie nationale (z.B. in den Schulbüchern), die entscheidend zur Bildung republikanischer citoyens beitragen (sollen), einerseits und den widerstreitenden Artikulationen postkolonialer Subjektpositionen andererseits. Auf beiden Seiten erfolgt dabei die diskursive Anrufung (interpellation) von Subjekten ausgehend von der (kolonialen) Geschichte und ihrer Repräsentation, sodass (postkoloniale) Erinnerungspolitik zu einem zentralen Topos sowie zu einer exponierten Szene der aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen (des grundlegenden Unvernehmens der Politik) in Frankreich wird. In diesen Konflikten der Erinnerungspolitik steht schließlich nichts weniger zur Disposition als die Definition der Nation und ihrer republikanischen Tradition und letztlich ebenfalls die Definition der Zugehörigkeit zur nationalstaatlich und republikanisch definierten Gesellschaft. Wie in der zu Beginn dieses Abschnitts zitierten Aussage des französischen Historikers Claude Liauzu verdeutlicht wird, gilt dies in Frankreich gegenwärtig eben vor allem bezogen auf die Geschichte der republikanischen Nation und des Kolonialismus sowie der Dekolonisierung. Im Bezug zu den sogenannten immigrés und ihrer Inklusion/ Exklusion tritt dabei die Kontingenz und Selektivität der staatlich institutionalisierten Erinnerungspolitik besonders zutage. Dies wirkt sich insbesondere auch in Bildungssystem, Bildungsmedien und Schulbüchern aus. Denn das Bildungssystem und Schulbücher als primäre Bildungsmedien verbinden in Frankreich traditionell die Aufgabe der republikanischen Inklusion mit der Repräsentation der Nation. Was, in welcher Weise wie zum Bestandteil einer dergestalt institutionalisierten Erinnerungspolitik wird, verweist eben auch darauf, wer unter welchen Bedingungen historisch und gegenwärtig als zugehörig oder nicht zugehörig zur Nation gilt. 74 Vor diesem Hintergrund wird die Intensität der jüngsten Debatten um die lois mémorielles, in denen es um die staatlich sanktionierte kollektive Erinnerung an die Geschichte des Kolonialismus und der Dekolonisierung ging, überhaupt erst verständlich. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, inwiefern Erinnerungsbzw. Geschichtspolitik mit Fragen politischer Inklusion gegenwärtig in Frankreich in sehr konfliktträchtiger Weise miteinander korrespondieren. Die Geschichte von Kolonialismus und Dekolonisierung und die Geschichte der postkolonialen Immigration nach Frankreich waren bis vor kurzem in Schulbüchern wie auch im bereits erwähnten geschichtspolitischen Projekt der lieux de mémoires marginalisiert. Während dies in der historiographischen und öffentlichen Debatte teilweise mittlerweile reflektiert wird, stellt sich die Frage, ob und inwiefern die Dekolonisierung auch allmählich in den Schulbüchern angekommen ist. Während Shepard aufzeigt, inwiefern die Dekolonisierung freilich im Sinne eines teleologischen Modernisierungs-Narrativs im öffentlichen Diskurs und in einer politisch geprägten Historio- 74 Cf. Werner Schiffauer/ Thijl Sunier: „Die Nation in Geschichtsbüchern“, in: Werner Schiffauer et al. (eds.): Staat - Schule - Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern, Münster, Waxmann, 2002, 37sqq. 72 Dossier graphie in die republikanische Tradition gleichsam inkorporiert worden ist, 75 kritisierte Claude Liauzu im Kontext der Debatte um die lois mémorielles, daß in der Schule und in den Schulbüchern noch eine Geschichte „écrite par des colons“ vermittelt werde. 76 Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht unbedingt überraschend, jedoch durchaus symptomatisch für die hier entfaltete Diagnose einer Krise der Repräsentation selbst, dass die Historiographie nicht mehr nur die sogenannte Erinnerungskultur untersucht oder repräsentiert, sondern längst selbst zum Akteur in diesen Konflikten der Erinnerungspolitik geworden ist. Mit dieser polyvalenten und konfliktträchtigen Erinnerungspolitik korrespondieren offensichtlich jeweils widerstreitende gesellschaftliche Subjektpositionen mitsamt ihren strategischen Identifikationen, seien es nun die nostalgischen Vertreter eines Algérie française oder die selbsternannten Indigènes de la République. Diese betreiben anhand der strategischen Aneignung von Geschichte heraus Anerkennungs- und Identitätspolitiken. Mit der notwendigerweise selektiven und partikularen Aneignung von Geschichte als Ressource für social agency 77 gehen in der Gegenwart performative Selbstbeschreibungen kollektiver Akteure 78 einher. Dies gilt auch für Konflikte, die vordergründig nur wenig mit Geschichte oder Erinnerungspolitik zu tun haben, aber in denen es darum geht, aus einem Bezug zur Geschichte von Kolonialismus, Dekolonisierung und postkolonialer Immigration heraus zu agieren und sein Handeln zu legitimieren, wie z.B. die affaire du foulard seit 1989 oder auch die Auseinandersetzungen in den Banlieues 2005. Erinnerungspolitik wird infolge darauf bezogener antagonistischer Besetzungen der Geschichte und Gegenwart dabei zu einem Konstituens der jeweils konfligierenden Subjektpositionen. Dies lässt sich insgesamt im Anschluss an Jacques Rancière als Unvernehmen der Politik, besonders sichtbar in Bildungssystem, Schulen und den Schulbüchern beschreiben. Das im Bildungssystem institutionell vermittelte Wissen und die damit korrespondierende Ansprache an die häufig immer noch sogenannten immigrés entspricht mithin der Logik der gouvernementalen police im Sinne Rancières, 79 die ihre Identifikation mit der französischen Republik voraussetzt und zudem ihre Integration auch und gerade vermittelt in der republikanischen Institution der Schule einklagt, ihnen jedoch zugleich kollektiv gesellschaftlich subalterne Plätze (z.B. in den banlieues der Republik) zuweist. Demgegenüber formieren sich seit den 1980ern vermehrt postkoloniale Subjektpositionen der sogenannten immigrés, die dieser Zuordnung von subalternen Plätzen und Anteilen in der Gesellschaft eine Politik im Sinne Rancières entgegnet, indem sie einen 75 Cf. Shepard: Decolonization, op. cit. 76 Cf. Liauzu: Histoire nostalgique, op. cit. 77 Jay Winter/ Emmanuel Sivan: War and Remembrance in the twentieth century, Cambridge, Cambridge University Press, 1999. 78 Cf. Marcus Otto: „Zur Aktualität historischen Sinns. Diskursgeschichte als Genealogie immanenter Ereignisse“, in: Franz X. Eder (ed.): Historische Diskursanalysen, Opladen, VS-Verlag, 2006, 181sqq. 79 Cf. Rancière: Unvernehmen, op. cit., 41. 73 Dossier Widerstreit innerhalb des republikanischen Universalismus Frankreichs, der ja scheinbar völlig neutral gegenüber kultureller Herkunft verfährt und dazu jeden Kommunitarismus strikt negiert, evozieren. Und dies erfolgt nicht zuletzt im Rahmen postkolonialer Erinnerungspolitik, indem im Namen der ex-colonisés und im Rekurs auf das fundamentale Allgemeine der universalistischen Republik deren kolonialistischer Charakter in Geschichte und Gegenwart denunziert wird, wie exemplarisch in der performativen Selbstbeschreibung als Indigènes de la République zum Ausdruck gelangt. Insgesamt stellt sich darüber hinaus die Frage, inwiefern fast ein halbes Jahrhundert nach dem „realhistorischen“ Ereignis der Dekolonisierung angesichts solcher Konflikte der Erinnerungspolitik in der ehemaligen imperialen Metropole mittlerweile überhaupt von einer Dekolonisierung der Nation und des Wissens, wie es an die nachfolgenden Generationen vermittelt wird, die Rede sein kann. Allerdings wird das Subjekt der Nation affiziert und transformiert von der musealisierenden Repräsentation des Abwesenden hin zur virulenten Erinnerungspolitik, also zur gegenwärtigen Performativität des Vergangenen, wie insbesondere die Debatten um die lois mémorielles zeigen. Nationale Erinnerungspolitik und die korrespondierenden gesellschaftlichen guerres de mémoires artikulieren widerstreitende Subjektpositionen innerhalb einer condition postcoloniale, d.h. einer postkolonialen Krise der Repräsentation des gesellschaftlich relevanten und republikanisch legitimen (historischen) Wissens dar. Dies stellt eine Herausforderung an historische Narrative der republikanischen Selbstbeschreibung des politisch-epistemologischen Subjekts der Repräsentation dar. Dabei artikuliert sich schließlich ein Widerstreit und Unvernehmen der Erinnerungspolitik, und zwar ganz im Sinne der grundlegenden Frage: wer hat welchen spezifischen Anteil am Subjekt der Nation, d.h. wer wird gezählt, und wer kann „nur“ das universalistische Allgemeine des Subjekts (der Nation) artikulieren, also erzählen? Auf jeden Fall manifestiert sich in der Performativität des Diskurses postkolonialer Erinnerungspolitik, besonders sichtbar in der wiederkehrenden Aktualität (post)kolonial aufgeladener questions chaudes, eine politisch-epistemologische Krise der Repräsentation selbst. Fazit: Von der condition postmoderne zur condition postcoloniale des Subjekts der Nation Das europäische Denken befindet sich in der Tat an einem Wendepunkt. Dieser Wendepunkt ist auf der Ebene der Geschichte nichts anderes als das Ende des Imperialismus. Diese Krise hat keinen Philosophen hervorgebracht, der sich dadurch auszeichnet, dass er sie selbst darstellt. Denn das sich in der Krise befindliche abendländische Denken drückt sich in Diskursen aus, die sehr interessant sein können, die jedoch weder spezifisch noch außergewöhnlich sind. Es gibt keinen Philosophen, der diese Epoche markiert. Denn es ist das Ende der abendländischen Philosophie. Wenn es also eine Philosophie der Zukunft gibt, dann muss sie außerhalb Europas entstehen, oder 74 Dossier sie muss als Folge von Begegnungen und Erschütterungen zwischen Europa und Nicht-Europa entstehen.80 In diesem Beitrag wurde ausgehend von der sowohl historischen als auch epistemologischen Zäsur, wie sie Foucault hier in einem 1978 geführten Interview artikuliert hat, nach den kontingenten politisch-epistemologischen Möglichkeitsbedingungen der Erzählung(en) nationaler Identität in Frankreich im Zeichen der condition postcoloniale gefragt, und zwar gleichsam homolog zur von Lyotard diagnostizierten condition postmoderne. Unter diesem Titel postulierte dieser französische Philosoph bekanntlich seinerzeit nicht nur das Ende der so genannten métarécits, sondern damit verbunden eine grundlegende epistemologische Verschiebung humanwissenschaftlichen Wissens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 81 Diese Verschiebung lässt sich diskurstheoretisch pointiert begreifen als Verschiebung von der Figur der Identität hin zu Figuren der Differenz bzw. Alterität oder auch als Verschiebung der Logik der Repräsentation hin zu Logiken der Performativität 82 etc. Eine auch politisch virulente Fokussierung erfuhr dieser (humanwissenschaftliche) Diskurs um die Krise der Repräsentation und des Wissens schließlich in der Debatte um die Krise des (modernen westlichen) Subjekts. Historisch korrespondiert dieser humanwissenschaftliche Diskurs - so die hier zugrunde gelegte Ausgangshypothese - dabei offensichtlich inhärent mit postkolonialen Artikulationen der Kritik des modernen Subjekts und westlicher Repräsentationen (des Wissens). Denn das humanwissenschaftliche Wissen war wissensgeschichtlich im konstitutiven Modus der Repräsentation inhärent mit der Figur des modernen Subjekts verknüpft. Mit der Dekolonisierung fand schließlich eine tiefgreifende Erschütterung dieses humanwissenschaftlichen Weltbildes (Heidegger) der Repräsentation statt, innerhalb dessen sich das moderne Subjekt konstituierte, indem es die Welt - auch und gerade kolonialistisch - vor-sich-stellte. 83 Während in Lyotards Diagnose der condition postmoderne das Problem des Wissens und der (vor allem technologisch-kommunikativen) Modi seiner Produktion, Zirkulation und Rezeption im Vordergrund stand, verschiebt sich das Problem im Zeichen der condition postcoloniale hin zur Frage des Subjekts des Wissens und seiner genealogischen Konstitution. Und dies wiederum verweist im Zeitalter eines gleichsam dezentrierten Weltbildes und der dazu koextensiven globalen Mobilität paradoxerweise auf die Nation, die in diesem Zusammenhang freilich geradezu zu einem Bündel und Vehikel vielfältiger Krisennarrative avanciert ist: Krisen der Legitimation, Krisen politischer Inklusion 84 und eben nicht zuletzt auch Krisen der Repräsentation (selbst) 85 80 Michel Foucault: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2003, 780sq. 81 Cf. Lyotard: Condition postmoderne, op. cit. 82 Siehe hierzu in einer etwas anderen Terminologie auch Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München, Fink, 1992. 83 Cf. Weimann: Ränder, op. cit. 84 Cf. Otto: Staat, op. cit. 85 Zur Krise der Repräsentation im Zeichen der sogenannten Postmoderne siehe vor allem aus semiologischer Perspektive Winfried Nöth (ed.): The Crisis of Representation (Spe- 75 Dossier sowie der Möglichkeit kollektiv geteilten Wissens. In diesem Kontext insistiert weiterhin insbesondere die Frage nach der politisch-epistemologischen Repräsentation postkolonialer Subjektpositionen in der ehemaligen Metropole: „Can the subaltern speak? “ 86 Dieser politisch-epistemologische Problemzusammenhang bildet, so die hier entfaltete These, den Rahmen und die Möglichkeitsbedingung sowohl für die Frage nationaler Identität als auch für den wuchernden Diskurs postkolonialer Erinnerungspolitik in Frankreich. Denn die darin implizierte wiederholte Erzählung nationaler Identität wirft unweigerlich immer auch die Frage nach dem politischen und epistemologischen Standpunkt des jeweiligen Subjekts der Erzählung auf. 87 Insofern bildet die Nation in Anlehnung an Foucault eine politisch-epistemologische Dublette, 88 d.h. zugleich den Gegenstand (das Objekt) und das historisch privilegierte Subjekt als Möglichkeitsbedingung der jeweiligen Erzählung und des entsprechenden historischen Wissens. Der Rekurs auf die Geschichte und deren Bedeutung für die Gegenwart spielt daher eine konstitutive Rolle, wie sie sich vor allem in der nationalen Erinnerungspolitik manifestiert. Die seit der III. Republik institutionalisierte postrevolutionäre Erinnerungspolitik konstituierte die Nation dezidiert als eine republikanische Erinnerungsgemeinschaft. 89 Die darin inhärente historisch-politische Begründung und republikanische Legitimation nationaler Identität prägte weitgehend auch noch die Erinnerungspolitik zu den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Allerdings wurde dies seit den 1980ern im Zuge der schmerzhaften Auseinandersetzung mit der Geschichte des Vichy-Regimes bereits zunehmend problematisch. Schließlich hat diese - mit dem Rekurs auf die Geschichte und Werte der Revolution begründete - emphatisch republikanische Konstitution nationaler Identität seitdem eine tiefgreifende Krise erfahren, und zwar nicht zuletzt durch die kontroversen Auseinandersetzungen zunächst vor allem um die Geschichte des Algerienkrieges sowie sukzessive der kolonialen Vergangenheit insgesamt. 90 Zweifellos korrespondiert dieser Wandel der Erinnerungspolitik mit der wahrgenommenen politischen Herausforderung der nationalen Identität Frankreichs durch die postkoloniale Immigration. Allerdings verweist dieser neuartige kritische Fokus innerhalb der republikanischen Selbstbeschreibung der Nation darüber hinaus auch auf eine grundlegende politisch-epistemologische Krise incial Issue). Semiotic foundations and manifestations in culture and the media, Berlin, de Gruyter, 2003. 86 Gayatri Chakravorty Spivak: Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien, Turia und Kant, 2008. 87 Cf. Homi Bhabha: The Location of Culture, London, Routledge, 1994, 146sqq. 88 Cf. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Paris, Suhrkamp, 1966, 384sqq. 89 Siehe hierzu monumental Renan: Nation, op. cit. sowie historiographisch Hobsbawm: Tradition, op. cit. 90 Siehe hierzu u.a. Coquery-Vidrovitch: Enjeux, op. cit. 76 Dossier folge des historischen Ereignisses der Dekolonisierung und des damit verbundenen Endes Frankreichs als koloniale Weltmacht. Insgesamt handelt es sich hier um ein diskursives re-entry der Unterscheidung Metropole/ Kolonien in der Metropole, die damit eine grundlegende Herausforderung der politisch-epistemologischen Repräsentation des Subjekts der Nation darstellt. Eine zentrale These lautet daher, dass sich in diesem Zusammenhang seit der Dekolonisierung eine politischepistemologische „Krise der Repräsentation“ (Liauzu) 91 und sukzessive eine erinnerungspolitische Verschiebung vom postrevolutionären zum postkolonialen Subjekt der Nation ereignet (hat). 91 Cf. Liauzu: Race, op. cit., 444. Résumé: Marcus Otto, Le sujet de la nation dans la condition postcoloniale - Crises de la représentation et controverse mémorielle postcoloniale aborde la question du discours sur l’identité nationale en France en la replaçant dans le contexte plus large de la politique de la mémoire postcoloniale et de la césure politique et épistémologique de la condition postcoloniale, telle qu’elle résulte en particulier du fait historique de la décolonisation ainsi que du déclin du concept occidental de civilisation qui en résulte. A travers une analyse de l’évolution des programmes d’enseignement de l’histoire et des manuels scolaires, cette problématique est reformulée ici en un questionnement sur les conditions de fonder historiquement un sujet de la nation politique et épistémologique dans un champ discursif marqué par l’épistème postcoloniale. A la suite de la décolonisation et de l’immigration postcoloniale s’opère finalement une réintroduction du discours dichotomique métropole/ colonies au sein de l’ancienne métropole française. Ce phénomène débouche sur une profonde crise politique et épistémologique de la représentation de la nation, une crise qui se manifeste en particulier dans des „guerres de mémoires“, donc par un discours virulent inspiré par une politique de la mémoire postcoloniale.