eJournals lendemains 34/133

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Narr Verlag Tübingen
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2009
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Kleine Mythologie des Wasserlaufs

2009
Jacques Leenhardt
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123 Jacques Leenhardt Kleine Mythologie des Wasserlaufs Pour Michael Nehrlich Die Rheinlandschaft. Wir wissen, daß das, was wir „Landschaft“ nennen, nicht eine von geologischen und klimatischen Zufällen bestimmte Gegebenheit ist, sondern ein von Menschen erarbeitetes Konstrukt. Um es mit René-Louis de Girardin zu sagen: „Ein poetischer Ort, eine Situation, gewählt oder geschaffen nach Geschmack und Gefühl“. Groß ist die Zahl derer, die an dieser Schöpfung mitwirkten, Bauern, Militärs, Dichter. Mit ihrem Blick schufen sie sie mental, mit praktischen Eingriffen schufen sie sie in situ. Aus diesem komplexen, imaginären und praktischen Umsetzungsprozeß trat diese Landschaft hervor, sie ist heute immer noch weiter im Entstehen, als Resultat der Taten derer, die in ihr leben und sich intensiv mit ihr beschäftigen, dieser Rheinlandschaft. Als soziales Produkt betrachtet, präsentiert sich die Landschaft also als Ergebnis eines langen historischen Prozesses, in dessen Verlauf sich Vorstellungen, Motivationen und Taten aneinanderfügen, die sein Schema nach und nach hervortreten ließen. Zu unserer ungezwungenen Begegnung schlage ich Ihnen heute keine direkte Lesart der Landschaft vor, sondern eine Lesart der mythologischen Elemente, die im unablässigen Konstruktionsprozeß mitspielten, dessen Ergebnis dann Landschaft ist. Unsere kulturelle Fähigkeit, Schemata zu konstruieren, ist ja zum großen Teil vom jeweiligen eigenen, gesammelten Kulturerbe abhängig. Aus ihm speisen sich unsere Denk- und Vorstellungsstrukturen, die wir aufbieten, sobald sich uns ein neues Objekt darbietet. Zweifellos hat der Rhein nichts von einem neuen Objekt. Er hat ganz im Gegenteil eine alte Geschichte in unserer Imagination. Deshalb möchte ich einigen dichterischen Spuren dieser Imagination erneut nachgehen, ihrer Logik folgen, die - fortgeführt oder modifiziert - unsere Fähigkeit ausmacht, den Rhein heute als neue Landschaft in einem neuen Europa neu zu empfinden. Damit eine neue Landschaft erzeugt wird, ist es wirklich notwendig, daß sich die Motivationen ändern, selbst wenn die physische Wirklichkeit unverändert bleibt. Für die Landschaft, so bemerkte Augustin Berque, dreht sich die Erde nicht um die Sonne, sondern dreht sich die Sonne wider jede Gesetzmäßigkeit der Astronomie um den Horizont und streift über Hügel und Meere. Ich möchte also meine Überlegungen unter den Auspizien von zwei Dichtern anstellen, zwei Dichter, deren Bekanntheitsgrad zweifellos unterschiedlich ist, die sich aber in ihrer Sensibilität für die Mythologie des Wasserlaufs ähneln; zwei 124 Dichter, die dazu beitragen, diesen unfaßlichen Fluxus, der die Flüsse sind, in unserer Imagination zu Anknüpfungspunkten an die Landschaft werden zu lassen. In der Geschichte der Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland läßt sich kaum entscheiden, ob der Rheinstrom eine Linie darstellt, die Provinzen verbindet, oder eine Grenze, die Reiche oder Nationen voneinander scheidet. In der langen Dauer, die Lucien Fèvre so lieb war, ist der Rhein sowohl das eine als auch das andere, und somit Grund für den Historiker, das, was in seinen Augen letztendlich bloß ein geographischer Zufall war, nicht zum politischen Symbol zu erheben. Aber mehr als von einer solchen vorsichtigen Zurückhaltung des Historikers wurde die Rheinlandschaft in unserer Imagination immer auch von der politischen Wirklichkeit wie von den Studien der Geographen geprägt. Die Angelegenheit ist zweifellos komplex, so komplex wie die symbolischen und kriegerischen Bedeutungen, die sich in der Spur dieser natürlichen Grenze vereinigen, eine Spur, die diese natürliche Grenze seit jeher in die Landkarten und Hafenkarten einschrieb. War die Wacht am Rhein, von 1870 bis 1918, eine Art Nationalhymne für das siegreiche Deutschland, neuer und einziger Eigentümer des mythologischen Rheins, so war die Ligne bleue des Vosges, die weit vom Fluß zurückgezogene Grenze der französischen Abwehr am Rhein nach der Niederlage von 1870 - und Vorläufer der Maginotlinie - ihr französisches Äquivalent. Man wird auch im weiteren die Kraft des Landschaftsvokabulars in der populären Form des politischen Themas von der Grenze am Rhein bemerken. Diese wohlbekannten Themen aus der deutsch-französischen Debatte haben bereits vollbracht, und das schon seit langem, was sie bieten konnten. Deshalb möchte ich ihnen einige Gedichte gegenüberstellen, in denen die Rheinlandschaft anders gezeichnet wird, und das aus einer Perspektive, die in meinen Augen dem, was wir von den vor uns liegenden Jahren erhoffen können, mehr entspricht. Ich werde Ihnen also zuerst ein Gedicht eines sehr verkannten Autors vorlesen: Jean Villard. Sein Pseudonym war „Gilles“, und er war eher ein Liedersänger als ein Dichter. Er war, und das rechnete er sich selbst zum Ruhme, im Kanton Waadt in der Schweiz geboren. Dieses biographische Detail hat seine Bedeutung, da dieser Schweizer Kanton im Laufe seiner Geschichte eine starke kulturelle Identität im Ensemble der verschiedenen Teile, die die Schweiz bilden, entwickelt hat. La Venoge On a un bien joli canton: des veaux, des vaches, des moutons, du chamois, du brochet, du cygne; des lacs, des vergers, des forêts, même un glacier, aux Diablerets; du tabac, du blé, de la vigne, mais jaloux, un bon Genevois, m’a dit, d’un petit air narquois: 125 - Permettez qu’on vous interroge: Où sont vos fleuves, franchement? Il oubliait tout simplement la Venoge! Un fleuve? En tous cas, c’est de l’eau qui coule à un joli niveau. Bien sûr, c’est pas le fleuve Jaune mais c’est à nous, c’est tout vaudois, tandis que ces bons Genevois n’ont qu’un tout petit bout du Rhône. C’est comme: „Il est à nous le Rhin! “ ce chant d’un peuple souverain, c’est tout faux! car le Rhin déloge, il file en France, aux Pays-Bas, tandis qu’elle, elle reste là, la Venoge! Faut un rude effort entre nous pour la suivre de bout en bout; tout de suite on se décourage, car, au lieu de prendre au plus court, elle fait de puissants détours, loin des pintes, loin des villages. Elle se plaît à traînasser, à se gonfler, à l’élancer - capricieuse comme une horloge - elle offre même à ses badauds des visions de Colorado! la Venoge! En plus modeste évidemment. Elle offre aussi des coins charmants, des replats, pour le pique nique. Et puis, la voilà tout à coup qui se met à faire des remous comme une folle entre deux criques, rapport aux truites qu’un pêcheur guette, attentif, dans la chaleur, d ’ un œil noir comme un œil de doge. Elle court avec des frissons. Ça la chatouille, ces poissons, la Venoge! Elle est née au pied du Jura, mais, en passant par La Sarraz elle a su, battant la campagne, qu’un rien de plus, cré nom de sort! elle était sur le versant nord! grand départ pour les Allemagnes! Elle a compris! Elle a eu peur! Quand elle a vu l’Orbe, sa sœur - elle était aux premières loges - filer tout droit sur Yverdon vers Olten, elle a dit: „Pardon! “ la Venoge! „Le Nord, c’est un peu froid pour moi. J’aime mieux mon soleil vaudois et puis, entre nous: je fréquente! “ La voilà, qui prend son élan en se tortillant joliment, il n’y a qu’à suivre la pente, mais la route est longue, elle a chaud. Quand elle arrive, elle est en eau - face aux pays des Allobroges - pour se fondre amoureusement entre les bras du bleu Léman, la Venoge! Pour conclure, il est évident Qu’elle est vaudoise cent pour cent! Tranquille et pas bien décidée. Elle tient le juste milieu, elle dit: „Qui ne peut ne peut! “ mais elle fait à son idée. 126 Et certains, mettant dans leur vin de l’eau, elle regrette bien - c’est, ma foi, tout à son éloge - que ce bon vieux canton de Vaud n’ait pas mis du vin dans son eau… la Venôge! (Port-Manech, Juni 1954) Das Nahe und das Ferne Das Thema des Stroms, sei es in Bezug auf die Rhône oder den Rhein, wird hier direkt mit allen Konnotationen der Internationalität charakterisiert. Genf, Stadt und Kanton mit dem Prestige-Nimbus internationaler Institutionen, die sie seit der Gründung des Völkerbundes beherbergt, kann nicht anders als aus den Höhen seiner Verachtung auf seinen Nachbarn, den Kanton Waadt, herabsehen. Dessen Rückzug auf sich selbst wiederum wird durch die Abwesenheit eines Stroms symbolisiert, Transportmittel transnationaler Beziehungen schlechthin. Worauf der waadtländische Bauer mit der Verherrlichung der Venoge reagieren wird, wahrlich ein kleiner Fluß, doch ganz in das waadtländische Erdreich eingeschrieben, auch sie symbolischer Träger einer Identität, in jeder Hinsicht Opposition zum Genfer Internationalismus. Die Venoge ist autochthon vollständig in das Gebiet eingeschrieben, entspricht in ihrem Verhalten der Eigenheit der waadtländischen Kultur. Sie verhält sich „psychologisch“, wenn man so will, mit den Eigenschaften eines Waadtländer so wie ihn der Dichter beschreibt: still, unentschieden usw. In der Inszenierung dieser Opposition sieht man ein Gefühl des Lokalpatriotismus im Entstehen. Dieses Gefühl geht von der Vorstellung aus, daß mit der großen Zirkulation von Ideen, Waren und Menschen notwendigerweise ein Identitätsverlust einhergehen werde. Der Strom symbolisiert als Kommunikations- und Handelsweg diesen Identitätsverlust, von dem der Dichter ausgeht. Wenn der kleine Fluß derart gegen den großen Strom ausgespielt wird, ist damit nicht nur die Kategorie small is beautyfull angesprochen, sondern das verstärkt auch die Angst davor, sich einer größeren und unbekannten Welt zu öffnen. Jedoch zeichnet sich hinter dem lokalistischen Motiv in einem allgemeineren Sinne eine wahre Revolte gegen die Idee der Aneignung eines Flusses wie des Rheins, dessen Essenz die Internationalität ist, durch eine Volk oder eine Kultur ab. Der Rhein ist zuallererst europäisch, und er wüßte selbst nicht, wo er schweizerisch, deutsch, französisch oder holländisch ist, so daß Gilles hervorhebt: „Der Rhein bricht auf, er verduftet in Frankreich, in den Niederlanden...“. Folgt man der Poetik des Lokalpatriotismus bei diesem waadtländischen Dichter, entdeckt man, daß sie Implikationen zur mentalen Vorstellung des Raums 127 umfaßt. Der Rhein ist beweglich, er verläßt jede Erde, in der er nur für einen kurzen Augenblick gebadet hat, er ist der Erde, die er befruchtete, untreu. Hier entwickelt sich ein den verschiedenen Mythologien von Strom und Fluß gemeinsames Motiv: die Liebe. Die Venoge ist verliebt, sie wird sich fügen oder sogar zerschmelzen „in den Armen des blauen Léman“. Ihre autochthone Art, ihre Treue lassen sich unmittelbar in Begriffe von verliebter Zuneigung umsetzen, und das in einem umschriebenen Raum und in einer erweiterten Zeit, die symbolisch in den Windungen und Umwegen des Wasserlaufs gespiegelt ist. Ganz anders der Rhein, und ebenso die Rhône: er ist stürmisch und brutal. Er schreibt seinen Verlauf in die Linearität einer der Zukunft widerstrebenden Zeitlichkeit ein. Wenn er nicht mehr ist, wo er zu sein schien, regiert der Ruf der Ferne über ihn. Zeit und Raum des Stroms sind verstohlen, vergänglich, immer schon aufgehoben. Somit ist die Vision einer Liebe, die sich diesem Strom zuneigt, gekennzeichnet von Eroberungswünschen, Fernweh, der Herrschaft des Vergessens. Diese kurze Lektüre von La Venoge erlaubte uns, einige paradigmatische Gegensatzpaare aufzustellen, die uns helfen werden: Fluß versus Strom, Mäander versus gerade Linie, das Autochthone versus Internationalismus, fest entschlossene Wahl des Objekts der Liebe versus Don Juans Vergessen. Loreley Letztgenanntes Motiv erinnert uns naheliegenderweise an die Sage der Loreley, die, gezeichnet von der verzweifelten Suche eines fernen Geliebten, jeden Mann, der seinen Blick erhebt um sie zu schauen, zum sicheren Tode verdammt. Diese ausschließliche Liebe, um so absoluter als ihr Objekt unfindbar ist, ist die mythische Figur unerfüllter oder gar unmöglicher Liebe. Mon amant est parti pour un pays lointain Faites-moi donc mourir puisque je n’aime rien (Apollinaire) (Mein Liebling ist fort in ein fernes Land So macht mich sterben, liebe ich doch nichts mehr) Loreley wird im Rhein untergehen und dort ihr letztes Exil finden. Er ist Äquivalent zu ihrem Zufluchtsort, dem Kloster, denn der Rhein stellt als Strom, der entlang völlig anderer Welten führt (wie das Schloß ihres Geliebten, das eindeutig als unerreichbares Land erscheint), als letzter Aufenthaltsort das Ultimum für ihr absolutes Verlangen dar. Ich will noch einmal sehen Nach meines Liebes Schloss ich will noch einmal sehen Wohl in den tiefen Rhein (Clemens Brentano Lore Lay) 128 Der tragische Tod der Loreley unterstreicht das Vorhandensein einer doppelten, mythischen Kategorie, in der sich Wasser und Tod vermischen: das unbewegliche Wasser von Narziß’ Spiegel, der sich selbst als Objekt seiner Liebe auserkor (zu nahes Objekt und zu sehr eigene Kontingenz) und daran sterben wird, erscheint wie eine Umkehrung des tobenden Wassers des Rheins, das die Loreley im Tode empfangen wird, ob ihrer Liebe für ein zu absolutes und zu fernes Objekt. Wie der Geliebte der Loreley ist der Flußschiffer, der im Rhythmus des Stroms lebt, ganz und gar gebunden an die Flut des Wassers, das ihn trägt. Aktiver Teil der Logik des Stromes, ist es ihm verboten, sich nach dem, was ihn fasziniert, umzudrehen, denn diese Geste, die seine Gebundenheit offenbaren würde, eine Verankerung, wäre die Abwendung von seiner eigenen Natur, einer Natur, die ihn immer an einen anderen Ort ruft. Die Gebundenheit an Grund und Boden, die die Loreley auf ihrem Felsen verkörpert, tritt daher im Gedicht, im Gegensatz zum Schicksal des Flußschiffers, das noch ganz und gar offen vor ihm liegt, in ein Spannungsverhältnis mit einem Absoluten, das dem Rhythmus seines Verlaufs entflieht. Dem Schiffer ist es alles in allem nicht erlaubt, an Liebe zu denken, außer wenn sie in purer Anspannung auf eine unerreichbare Perfektion gerichtet wäre. Der Rheinschiffer kann in Todesnot die Linearität der Strömung, die ihn zu seinem Gral trägt, brechen. Der Rhein ist ein zölibatärer Strom, dessen Priesterin sich Loreley nennt. Der Seemann kann nur das Meer lieben, das immer wie ein verlorenes Schicksal vor ihm liegt. Ich habe oben Brentano und Apollinaire zitiert. Letzterer hat jedoch keine bloß tragische Vision vom Strom. Ein zweites Gedicht wird uns davon überzeugen: Les bacs. Die Fähren Die Rhein-Fähren fahren hin und her Entlang der schönen Jahreszeit Und die Fährmänner, die sie von ihren Tauen lösen, Schlafen darauf im Gehäuse. Die Rhein-Fähren fahren dorthin und kehren heim, Befördern das Leben und den Tod, Verlorene FIöße man sieht nicht Im Wasser die Ketten, die sie halten. Der Fährmann hat in dem Gehäuse Ein kleines Bett, das nichts ist als ein Schrein, Ein heiliger Christopherus, dem man opfert Blumen in der schönen Jahreszeit. Ein Rosenkranz und Flaschen, Gefüllt bis an ihren langen Schlund Mit wahrem Wein, hell wie der Strom 129 Gülden wie ihre Ohrgehänge Und wenn die Glocke ertönt ist In der Nacht auf dem gegenseitigen Ufer Unter den Sternen unter dem Regensturm Flucht der alte Fährmann als Verdammter Beschuht mit Stoffsandalen Mit dumpfen Schritten geht er die Taue lösen Laßt die Glocke ertönen und Ruft den guten heiligen Christopherus an Am anderen Ufer Nur herein Jesus Steigt ein schöner Bursche, Kommt Ihr Schöne Die Fähre ist besser als ein Kahn Um zu beten, um zu lieben darauf Bisweilen hat man bessere Fracht, Kutschen, Karren, je nach dem, Schöne Dampfschiffe fahren flußabwärts Doch die Fähre fährt immer quer Fährmann fahre bis zum Tod Die Fähren ziehen immer her und hin Und die Taue die sie festhalten Im klaren Wasser sind nicht zu sehen. Unter Ächzen lösen die Fährleute die Taue Hinübergesetzt werden muß, hinübergesetzt werden muß Hinübersetzen und dann von vorne beginnen Die Rhein-Fähren ziehen hin und her. (Übersetzung André Stoll) Hier finden sich alle Elemente in der Umkehrung wieder: Dem direkten Gerichtet-Sein des Stroms widersetzt sich eine Querbewegung, eine Transversalität. Wenn der Loreleysschiffer zu seinem dunklen Schicksal aufgebrochen ist, wenn Gilles’ Rhein aufbricht und entwischt, die Fähren auf dem Rhein kommen und gehen, dann wird das Territorium gezähmt, wie es auch die Mäander der Venoge tun, über Windungen und Umwege, ohne dem Ruf stromabwärts folgen zu können… Wenn die Venoge die Liebe des Lebens ist, Liebe und Leben in einer extatischen und paradiesischen Vision, bezeugen die Rheinfähren, die fahren und wiederkehren, in der der Transversalität eigenen Komplexität vielmehr Leben und Sterben. An zwei Ufer gefesselt, wenn auch frei in ihrem Widerschein in der spiegelnden Oberfläche des Stroms, sind sie in Wahrheit für das große Stromabenteuer verloren, verloren für den Strom, der alle mit sich nimmt, die zu ihm gehören. 130 An dieser Stelle wird eine neue Richtung transparent: die der Tiefe. In der Gegenüberstellung von Oberfläche und Grund, von sichtbarer Erscheinung und verborgenem Geheimnis läßt Apollinaire unsere Mythologie in das Reich der Metaphysik eintreten. Diese Sorglosigkeit der Oberfläche, was enthüllt sie von den Dramen, die sich auf dem Grund abspielen, dort, wo sich die Fesseln begegnen? Unter welchen Bedingungen navigieren sie also, die Fähren, von ihrem Schicksal unberührt, unbeweglich zwischen Leben und Tod aufgehängt? Immer da, fahrend und wiederkehrend, sind sie ein Kompromiß zwischen Bewegung und Unbeweglichkeit. So hat, der Fährmann sein Domizil gewählt, Bild der Permanenz im tiefsten Herzen der Flut. Panta rhei, Alles fließt, ich bleibe! Diese Weisheit desjenigen, der im Moment des Lebens unbeweglich verharrt, führt ein neues Thema ein, dem wir bereits in La Venoge begegnet sind: den Wein. Das Thema vom Gold des Weines bietet Apollinaire einen Kontrapunkt zum unheilvollen Gold des offenen Haars der Loreley: de vrai vin clair comme le flot D’or comme ses boucles d’oreille (Mit wahrem Wein, hell wie der Strom Gülden wie ihre Ohrgehänge) Als heilvolles Äquivalent des Goldes verwandelt der Wein den Rheinschiffer in einen freundlichen Wirt, der Jesus, schöne Mädchen und schöne Knaben empfängt. le bac est mieux qu’une nacelle pour prier et aimer dessus (Die Fähre ist besser als ein Kahn Um zu beten, um zu lieben darauf) Die hier durch den Wein eingeführte Liebe, Eros und Agape zugleich, sinnliche Liebe und brüderlicher Friede, unterscheidet sich ganz klar von der Liebe, von der die tragische Loreleydichtung handelt. Apollinaire kopiert Brentanos Verse übrigens sehr genau. Um den Unterschied stärker hervorzuheben, greift er das Bild des Nachen wieder auf (bei Brentano: Schifflein), bereits benutzt, um das imaginäre kleine Boot zu bezeichnen, in dem der verschwundene Geliebter in loreleyverliebtem Delirium naht. Tout là-haut sur le Rhin s’en vient une nacelle Et mon amant s’y tient, il m’a vue, il m’appelle (Dort oben auf dem Rhein nähert sich ein Kahn Mein Liebling steht darin hat mich gesehen ruft nach mir) In welchem Maße eröffnen uns die Anmerkungen zu diesen Rhein-verbundenen Gedichten einen Weg in unserer Betrachtung? Drei Themen können festgehalten werden: 131 Teilungslinie In Gilles’ Gedicht ist die Frage der Teilungslinie zentral: Sie symbolisiert alternativ entweder den großen Aufbruch, die Reise, das Fremde oder aber den verliebten Rückzug auf das Territorium, Garten der Lüste und Paradies der Brüderlichkeit. Man entdeckt hier eine auf den Garten begrenzte Räumlichkeit, hortus conclusus, ein Bild, das dem des Hauses nahesteht, also eine Geographie der Gemeinsamkeit und nicht der Separation. Wenn der Strom reißend in die Ferne fließt, hängt die seinen steilen Ufern gewidmete Aufmerksamkeit am Gegenteil fest und deutet einen Raum der Nähe an. Die steilen Ufer verbinden neu, was der Fluxus trennt. Die Fähre ist bei Apollinaire ganz in diesem Wieder-miteinander-Verbinden-Wollen gedacht. Die Bevorzugung der Transversalität gegenüber der fliehenden Strömung hat jedoch ihren Preis: den Preis der grenzenlosen Freiheit, des Entkommens. Nähe zu schaffen heißt auch, die Regeln der Nachbarschaft zu akzeptieren. Die Fesseln, mit denen nicht die der Sklaverei gemeint sind, kann man eher als Bänder bezeichnen, und sie erhalten sich - genau wie der Garten - selbst. Der Garten der beiden Ufer Mit dieser Dimension der Sorgfalt und der Kultur tritt nun die Idee in den Vordergrund, die bereits mit dem Beschluß der Städte Straßburg und Kehl, gemeinsam einen Garten anzulegen, ihren Weg gefunden hat; Garten der beiden Ufer, ein Garten, der den Strom überschreitet, der die wilde und rebellische Flut in eine Bewässerungsquelle verwandelt. Von diesem Augenblick an wird das wilde Wasser als Berieselung in den häuslichen Raum des Gartens eintreten, wird sich seine sterile Freiheit in nützliche und wohltuende Produktion begeben. Auch hier erscheint wiederum die Umkehrung des Themas vom unheilvollen Gold der Locken der Loreley in das edle Gold des Weines. Die Kultur, alchimistisches Meisterwerk, verkehrt den Sinn und erhöht, was sie erfaßt, in die Würde eines Produkts humaner Meisterschaft. Diese Domestizierung des Unheilvollen durch Kulturarbeit kulminiert in der Herstellung von Wein, für unsere christliche Kultur schlechthin symbolisches Produkt, dessen unheilvoller Ursprung noch seine Spuren in dem Rausch konserviert hat, in den er denjenigen führen kann, der ihn mißbraucht. Umgekehrt hat fehlende Sorgfalt dem Rhein erlaubt, sich im Laufe der Jahre in eine wahre Kloake zu verwandeln, Sammelplatz aller Abwässer des hochindustrialisierten Europa, auch wenn sich die Situation heutzutage anscheinend sehr gebessert hat. Allein diese Erinnerung schafft eine logische und symbolische Verbindungslinie zwischen der Nachlässigkeit gegenüber dem Strom und seiner Wahrnehmung als ein Gewässer, das das Autochthone nicht kennt und, weil international, von jedem 132 Territorium losgelöst ist. Deshalb ist der Rhein in unserer postnationalistischen Moderne ein Niemandsland, weil er nicht anders als eine Flut gedacht wird, die dahinschwimmt und die fließt. Deshalb konnte er in einen Abfluß verwandelt werden. Mit der bloß auf das Gerichtet-Sein seines Wassers geprägten Wahrnehmung hat der Rhein jeden symbolischen Bezug zu seinen Bewohnern verloren und sie von der Sorge befreit, ihn als ihr Gut zu erhalten. Das Territorium Die Wiedereinführung der Transversalität in der Verbindung der beiden Ufer sollte also dazu führen, eine symbolische Aneignung neu zu beleben. Dies wird jedoch nichts mit den kriegerischen Projekten aus nationalistischer Hand zu tun haben. Gegenstand ist wirklich nicht mehr die Rhein-Grenze, sondern der Rhein-Wasserlauf, der den Garten Europas bewässert, an dem mehr als 50 Millionen Einwohner vereint sind. Zurückgegeben an ein Territorium, wo seine Bestimmung die des befruchtenden Elements sein wird, Objekt der Liebe, oder um das Vokabular, dem wir im Zusammenhang mit der Venoge begegnet sind, noch einmal aufzunehmen, Objekt der Sorge, wird der Rhein ein Territorium werden können, und wird aufhören, nur eine Linie zu sein, Demarkationslinie oder Abflußlinie. Als ein Territorium, das in der Zukunft offen ist für die symbolischen Investitionen einer neuen Kultur, wird der Rhein die wahre Landschaft für das Europa von morgen. Zum Abschluß eine Frage: warum die Dichter als Ausgangspunkt? Wäre es nicht viel effektiver gewesen, gleich von der Größenordung der Wasserverschmutzung zu sprechen, unsere Entrüstung über die Verwüstung zu wecken und uns auf technische Daten zu stützen? Letztere sind notwendig, doch werden wir heute von ihnen überflutet, und sie sagen uns nichts mehr; so hat auch der politische Kampf ihre imaginäre Stärke abgestumpft, ihre Kraft in den Dienst irgendeiner These - oder auch ihres Gegenteils - gestellt. Die wissenschaftliche Metapher ist nur eine der möglichen Kategorien, in denen wir von der Welt Kenntnis nehmen. Und wir wissen zur Genüge, daß den anderen Kategorien eine Wirksamkeit eigen ist, die ihr in nichts nachsteht, auch wenn uns der Umgang mit diesen Kategorien etwas abhanden gekommen ist. Clausewitz sagte, daß der Frieden nicht mehr sei, als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. So können auch wir behaupten, daß Kunst und Poesie nicht mehr und nicht weniger sind, als die Fortführung der Wissenschaft mit anderen Mitteln. Nur in diesem Sinne kann man wirklich über die Landschaft sprechen, als unbewußtes Zusammengehen von Praxis, Wissen und Vorstellung. Übersetzung Regina Sasse (Rotterdam)