eJournals lendemains 34/133

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Narr Verlag Tübingen
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2009
34133

Luis Antonio de Villena, Anthologe

2009
Dieter Ingenschay
ldm341330110
110 Dieter Ingenschay Luis Antonio de Villena, Anthologe 1. Vorspiel auf dem Berliner Theater Michael Nerlichs Œuvre zeigt auf den ersten Blick nicht, in welcher Intensität und mit welcher Kompetenz er sich mit der Gegenwartslyrik Spaniens befasst hat. Am ehesten ist bekannt, dass er die Großstadtgedichte Jenaro Talens’ über die nordamerikanischen Metropolen St. Paul und Minneapolis durch Fotografien ergänzt hat, welche jenen ‘fremden Blick’ exemplifizieren, der dem Band den Titel gibt (La mirada extranjera). 1 In der Kooperation zwischen Talens, dem Dichter und Literaturtheoretiker, und Nerlich ist 1985 ein Band entstanden, der bei aller Individualität und Partikularität in vieler Hinsicht sehr typisch für die Tendenzen der spanischen Lyrik gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist. Mit den folgenden Betrachtungen möchte ich Michael Nerlich danken für all das, was ich von ihm über die iberische Dichtung unserer Zeit gelernt habe. Für den Juni 2001 hatte Michael Nerlich die Reise von sechs ‘exemplarischen Vertretern der spanischen Gegenwartsdichtung’ (so der Jargon der gehobenen Kulturindustrie) nach Berlin organisiert, die mit dem Zeitpunkt des 1. Internationalen Literaturfestivals zusammenfiel. Dann allerdings war Michael Nerlich während des Besuchs selbst verhindert, so dass er mich bat, die illustren Gäste (Ana Rossetti, Francisco Brines, Carlos Marzal, Luis Antonio de Villena, Luis García Montero und José María Álvarez) unter meine Fittiche zu nehmen, was ich - gemeinsam mit Janett Reinstädler - gern übernahm (sie moderierte die Dichterlesung im Theater des Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm). Mit dem Werk von einigen der sechs war ich relativ vertraut: Francisco Brines, der Senior der Gruppe, war als Angehöriger der so genannten Generation von 1950 in der internationalen Hispanistik schon damals bekannt; er hatte zu dem Zeitpunkt gerade die Mitteilung seiner Aufnahme in die Real Academia erhalten. Ana Rossetti hatte ich 1992 auf dem Bonner Hispanistentag kennen gelernt, als Horst Weich sie zur Lesung in seine Sektion eingeladen hatte. Den Kontakt zur Lyrik Luis Antonio de Villenas verdanke ich wiederum Horst Weich, den Zugang zu ihm als Person unserem gemeinsamen Freund, dem Madrider Schriftsteller Eduardo Mendicutti; doch Werk wie Mensch hatten sich mir damals nicht geöffnet. 2 Die anderen kannte ich lediglich aus Anthologien: José María Álvarez, Michael Nerlichs engster Kontakt unter den Besuchenden, war einer jener neun spanischen Dichter, die José María Castellet 1970 in einer der bahnbrechendsten Anthologien der spanischen Lyrik im 20. Jahrhundert vorgestellt hatte, in Nueve novísimos poetas españoles. So umstritten Auswahl und Programmatik der Lyrik der novísimos waren und geblieben sind, 3 so nachhaltig diskussionsfördernd war 111 diese Sammlung, belegt sie doch augenscheinlich, dass mit ihr ein signifikanter Bruch in der Entwicklung der spanischen Lyrik einher geht: „En la literatura castellana del siglo XX, Nueve novísimos españoles no es la única antología que ha servido para fechar la eclosión de una nueva generación poética, pero sí es, sin duda, la más discutida“. 4 Mit lyrisch-unlyrischenTexten, die auf die moderne Konsumwelt anspielen, die internationale Pop-Ikonen zu Bezugspunkten wählen und eine grenzenlose Freiheit des Individuums zelebrieren, wird belegt, dass die Zeit der bis dato dominierenden engagierten poesía social ihr Ende erreicht hatte und dass die spanische Lyrik inmitten der durchaus nicht ‘sanften’ Endphase der frankistischen Diktatur in der europäischen Welt angekommen war; in einer Welt, deren spezifische Modernität nicht zuletzt durch die Ereignisse vom Pariser Mai 1968 entscheidende Anstöße erhalten hatte. Einige Gedichte von Luis García Montero hatte ich in jener Anthologie gelesen, die direkt auf Castellets Sammlung und ihren Titel Bezug nimmt: in der Anthologie Postnovísimos, die Luis Antonio de Villena 1986 - also nur 16 Jahre nach Castellets Buch, aber gut 10 Jahre nach Francos Tod - bei Visor herausbrachte. Und Carlos Marzals Gedichte kannte ich aus einer wiederum anderen Anthologie, Fin de siglo (1992), mit dem durchaus programmatischen Untertitel El sesgo clásico en la última poesía española, welche ihrem Herausgeber - und wieder handelt es sich um Luis Antonio de Villena - den Ruf einbrachte, der große Wortführer des Klassischen in der spanischen Gegenwartslyrik zu sein. Von den Lyrikern, die de Villena dann in La lógica de Orfeo, seiner bislang letzten ‘großen’ Anthologie aktueller spanischer Dichtung vorstellt, war 2001 keiner in Berlin anwesend. 2. Lyrikanthologien in Spanien Bevor ich näher auf die von de Villena besorgten Anthologien eingehe, sind einige Sätze der Erklärung von Rolle und Funktion des Anthologisierens in Spanien fällig. Dass ich nämlich mehrere der 2001 nach Berlin gereisten Lyriker aus Anthologien und nicht aus ihren Monographien kannte, ist, laut Juan José Lanz, bezeichnend: „[L]a mayor parte de los estudiosos de la poesía española actual conocen a los poetas jóvenes por antologías y no por libros propios, con lo que sólo conocen su producción poética fragmentariamente.“ 5 Zwar lernt man aus jenen Sammelbänden die jungen Lyriker nur fragmentarisch kennen, dafür aber durch die Vermittlung einer Instanz, die kraft des editorischen Amtes ein so hohes Maß an Autorität gebietet, dass die Anthologie - lt. Julio Ortega eine „mapa tentativa de lectura“ 6 - sogar zur Staatsangelegenheit zu werden sich anschicken kann - jedenfalls in jenen befreundeten Ländern, in denen Staatspräsidenten ihre eigenen Lyrikanthologien zusammenstellen.... Doch zurück zur hispanischen Welt, wo es vor allem das Privileg von Dichtern ist, Anthologen zu werden (erinnert sei etwa an jene Antologías personales mit beigegebenen CDs der Colección Visor, welche die Auswahl von Jaime Gil de Biedma oder José Agustín Goytisolo vorstellen). 1930 verfasst 112 der mexikanische Gelehrte Alfonso Reyes seine Teoría de la antología, in der er die kardinalen Nachteile anthologischer Sammlungen - die Subjektivität oder auch Willkür ihrer Auswahl - gegen eine historisch korrekt und ‘objektiv’ operierende Praxis des Anthologisierens abzuwägen sich bemüht. Und relativ unvermittelt lässt der große Essayist seine Rede ins Ironische kippen: Por su parte, las antologías de sentido histórico, cuando persiguen un solo fenómeno, también alcanzan temperatura de creación, de creación crítica al menos. Otra tengo yo soñada para denunciar cierta poesía diabética y a la que he puesto el nombre de „Panal de América o Antología de la gota de miel“7 (p. 127) Voll Spott gegen den großen Philologen der alten Madre España erdenkt sich Reyes eine Anthologie der „murmullos del bosque - importante porque, en América, venía a decir Menéndez y Pelayo, la poesía política y la descriptiva llenan el cuadro“ (p. 128). Als Reyes sich derart über jene Süße lustig machte, die seit Marcelino Menéndez y Pelayos Antología de poetas líricos castellanos und Ramón Menéndez Pidals Flor nueva de romances viejos das Herz der (niemals wirklich umfangreichen) Lyrik lesenden Massen honiggleich labte, erblickte die erste ‘moderne’ Anthologie der spanischen Lyrikgeschichte das Licht der Welt: Gerardo Diegos Poesía española. Antología 1915-1931 (1932, zwei Jahre später folgte Poesía española. Antología. Contemporáneos): Modern ist die Anthologie von 1932, weil sie a) statt des historischen Rückblicks ausschließlich Gegenwartsliteratur veröffentlicht und b) damit zugleich die in Spanien zuvor allgemein eingeführte Argumentationsfigur generationaler Schemata höchst fruchtbar zur Konstruktion einer ‘Generation von 1927’ einsetzt. Beide Aspekte haben das Buch zum Gegenstand heftigster Polemiken gemacht, 8 welche allerdings die ‘große Erzählung’ von der Formierung einer ‘Dichterschule’ zur Erinnerung an Góngoras Todestag nicht in Frage gestellt hat. 9 Der Literaturkritik ist durchaus bewusst, dass jede Anthologie ohne Zweifel ein immanentes Manipulationspotential in sich trägt. Marta Palenque fasst diese Problematik recht wohlwollend als eine ‘intertextuelle Kategorie’: Nada es inocente en una antología, ya que toda presencia implica una ausencia. [...] [L]as antologías no sólo eligen poemas, crean una nueva obra (son, pues, categorías intertextuales), de tal manera que tienen la capacidad de crear y manipular, incluso tricionando la esencia del texto que, fuera de su conjunto o combinado con escritos de distinta procedencia, deriva en un sentido nuevo.10 Auch Juan José Lanz, einer der aktivsten Dichtungsforscher Spaniens, sieht mindestens vier negative Folgen der gegenwärtigen Anthologisierungswut: man kenne von jungen Dichtern lediglich Anthologiestücke, kein Gesamtwerk; die Auswahl für eine neue Anthologie orientiere sich oft am bereits Publizierten, folge also einem ‘Schneeball-System’; die Flut neuer Namen verhülle den Unterschied zwischen tatsächlichen Erneuerern und Epigonen; und letztlich verleiteten Anthologien den Literaturwissenschaftler zu der irrigen Annahme, in ihnen spiegele sich das objektive Panorama der Produktion von Lyrik in einer gegebenen Situation. 11 Diese 113 Skepsis artikuliert der Literaturwissenschaftler vor der Folie der enormen Flut von Anthologien zeitgenössischer spanischer Lyrik gerade seit etwa 1980. José Luis García Martín bringt seit 1980 nicht weniger als sechs Anthologien heraus: Las voces y los ecos (1980), La generación de los Ochenta (1988), Selección nacional. Última poesía española (1995) sowie Treinta años de poesía española (1996), La generación del 99: antología crítica de la joven poesía española (1999) und Poetas del Novecientos: entre el Modernismo y la Vanguardia (2001). Antonio Garrido Moraga präsentiert El hilo de la fábula (1995) sowie De lo imposible a lo verdadero. Poesía española 1965-2000 (2000), Germán Yanke Los poetas tranquilos. Antología de la poesía realista del fin de siglo (1996). Große Verbreitung genießt ferner La nueva poesía española von Miguel García-Posada (1996). Eher speziell dagegen scheinen Antonio Ortega, La prueba del nueve (1994), abundant Basilio Rodríguez Cañada, Milenium (1999), und im Spektrum der Verbreitung alternativer Lyrik seien Antonio Rodríguez Jiménez, Elogio de la diferencia (1997) und Isla Correyero, Feroces. Radicales, marginales y heterodoxos en la última poesía española (1998) erwähnt. Noni Benegas und Jesús Munárriz ist für eine Synopose der von Frauen geschriebenen Lyrik aus zwei Jahrzehnten zu danken (Ellas tienen la palabra. Dos décadas de poesía española, 1997). Und die Aufzählung könnte fortgesetzt werden, 12 vor allem um die von Luis Antonio de Villena edierten Sammelbände, auf die in der Folge einzugehen sein wird. Bei diesem reichen Angebot, so mag man Alfonso Reyes und die vielen anderen, welche der Anthologen Willkür wittern, zu beschwichtigen versuchen, sei doch wohl für jeden Geschmack und aus jeder Richtung etwas im Angebot.... 13 Ein solches Bewusstsein, gepaart mit einem unbestreitbaren Witz, veranlasst Marta Beatriz Ferrari, eine Anthologie aus Anthologiestücken zusammenzustellen, 14 womit der alte und berechtigte Vorwurf der Subjektivität der Auswahl durch den Anthologen allenfalls ein wenig relativiert wird durch den indirekten Einbezug des Publikumsgeschmacks als Kriterium. Unhinterfragt und unbeantwortet bleiben aber auch dabei zwei sich (mir jedenfalls) aufdrängende Fragen: Warum koinzidiert der starke Zuwachs von Anthologien mit der Zeit der unmittelbaren Postdiktatur, und welche Folgen haben die Anthologien für die Kanonisierungsprozesse spanischer Lyrik? Während die Literaturgeschichtschreibung mit Staunen vermerkt hatte, dass Castellets Nueve novísimos, wenn auch mit starken Eingriffen der Zensur, 1970 - in einer eher harten Phase des Frankismus - erscheinen konnte, so hat sie doch bisher die vielen postfrankistischen Anthologien kaum je auf die veränderte politische Situation hin perspektiviert. Das mag an der vermeintlich oder tatsächlich mehrheitlich wenig expliziten politischen Ausrichtung von Lyrik liegen, vielleicht aber auch an den ‘immanenten’, die Lyrik bestimmenden Tendenzen, welche sich allesamt weiterhin gegen die so genannte poesía social der 1950er Jahre sträuben. Ob es inzwischen eine neue poesia comprometida gebe, ist Leitfrage einer von Araceli Iravedra 2002 koordinierten Sondernummer der Zeitschrift Ínsula („Los compromisos de la Poesía“), 15 in der zahlreiche der dort zu Wort 114 kommenden Lyriker, Kritiker, Anthologen und Herausgeber zaghaft das Aufleben einer poesía de la consciencia oder auch eines neuen (im weiteren Sinne politischen) Engagements prognostizieren. Michael Nerlichs ‘Koautor’ Jenaro Talens hat Prozesse der Kanonbildung gerade anhand der novísimos und ihres historischen Ortes reflektiert. 16 Er weist darauf hin, dass die literaturgeschichtliche Funktion solcher Kanonisierungsprozesse nicht primär als Aneignung des Vergangenen, sondern gerade als Rechtfertigung des Gegenwärtigen Gestalt gewinnt. 17 Auf die Tätigkeit de Villenas als einer der aktivsten Anthologen des Postfrankismus 18 wirft diese Erkenntnis ein spezifisches Licht, erlaubt sie doch, Auswahl und poetologische Bestimmung nicht als bloße ‘Willkür’ aufzufassen, sie auch nicht nur jeweils als Ausdruck dessen zu lesen, was gerade en vogue ist, sondern sie erlaubt und suggeriert die Annahme, dass die Gesamtheit seines Anthologisierens einem künstlerisch-ästhetischen wie auch literaturtheoretisch-’politischen’ Konzept folgt. Um dieses zu erkennen, müssen wir uns den Anthologien zuwenden. 3. Ästhetik und Politik der Villena’schen Anthologien a. Postnovísimos: die Ankunft Spaniens in der Postmoderne Unter Luis Antonio de Villenas Lyrikanthologien widme ich mich in der Folge nur denen, die sich mit spanischer Gegenwartslyrik beschäftigen, 19 also konkret mit Postnovísimos (1985), Fin de siglo. El sesgo clásico en la última poesía español (1992), 10 menos 30. La ruptura interior en la «poesía de la experiencia» (1997) und La lógica de Orfeo (2003). 20 Die Titelgebung seiner ersten Anthologie, Postnovísimos, hat für den Leser eine doppelte Konnotation: zum einen spielt sie überdeutlich auf Castellets fulminante Anthologie der Nueve Novísimos an, und zwar im Sinne einer Überwindung dieses einst ‘Neuen’, und zweitens gemahnt die Begrifflichkeit der postnovísimos an die exemplarische Formel für heutige Kulturbeschreibung, an die Postmoderne. Dem titelgebenden Begriff der postnovísimos wirft Araceli Iravedra „inexactitud“ 21 vor. Bei näherem Blick auf die in dem detailreichen Vorwort dargelegten poetologischen Konzepte, denen die Auswahl folgt, scheint Iravedras Vorwurf nicht gerechtfertigt. De Villena räumt von Anfang an ein, dass die Postmoderne ein unklares Konzept sei und es die Ästhetik der Postmoderne nicht gebe, und gerade deshalb gibt er konkret die Koordinaten an, durch die er die Gedichte seiner sieben ausgewählten Lyriker verortet: den Umbruch nämlich von jener ‘venezianischen’ Tendenz der spanischen Lyrik, welche nach 1975 nur noch epigonale Produkte hervorgebracht habe, zu einer poesía de la experiencia. Damit prägt er einen für weitere Diskussionen folgenschweren, in sich wieder mehrdeutigen Terminus, der im Übrigen erst später (in seiner Einleitung zu La lógica de Orfeo, p. 13) auf seinen Ursprung bei dem britischen Dichter Robert Langbaum bezogen wird. Das Konzept einer poesía de la experiencia wird vor allem von Luis García Montero, der in drei 115 der genannten Villena’schen Anthologien vertreten ist, zur Selbstdefinition seiner Lyrik benutzt. Auch wenn José Carlos Mainer schon vor dem Milleniumswechsel die Tage dieses Terminus für gezählt hielt, blieb die poesía de la experiencia trotz der Kritik Einzelner 22 das verbreitetste und sich behauptende Konzept, so dass Araceli Iravedra sich unlängst in einem programmatischen Artikel entschloss „de romper una lanza por un rótulo tan falseado“ (133), für einen Begriff, der zumindest größere Teile der postfrankistischen Lyrik zu erfassen vermag als andere Termini (poesía realista, poesía figurativa, realismo meditativo, irracionalismo cognoscitivo und was es sonst noch im Angebot gibt). Wenn de Villena selbst darauf hinweist, dass die postnovísimos keine fest gefügte Gruppe sind („sin consciencia de grupo“), und grundsätzlich postuliert, die Postnovísimos seien „una generación abierta“ (p. 28) bzw. eine „generación débil“ (p. 29), so scheint er damit das starre in den Köpfen seiner Landsleute unauslöschlich herrschende Generationenschema im Ansatz aufzuweichen. Positiv bestimmt er die Postnovísimos durch ihre Abwendung vom Gestus des Aktuellen und Modernen der Novísimos; zwar seien sie „de entrada, una formación continuista“ (p. 17), doch schlössen sie sich nicht den novísimos, sondern deren Vätern - im unerbittlichen Generationenschema also der generación del 50 (mit Jaime Gil de Biedma und Franicisco Brines) - an (p. 19). Prototypische Vertreterin der postnovísimos ist für ihn Blanca Andreu; Hauptkriterium für die Aufnahme bestimmter Dichter ist weniger das Verfolgen einer bestimmten Schreibart, denn Postnovísimos sei durch die Kopräsenz verschiedener Ästhetiken gekennzeichnet (p. 30), 23 und die Anthologie stelle einen „cajón de sastre“ dar, der ebenfalls Kennzeichen der Postmoderne sei (p. 18). Im Laufe seiner langen Einführung kehrt de Villena zum generationalen Diskurs zurück; so gibt er für seine Auswahl vor allem das äußere Kriterium einer ‘Generation’ an, also ein bestimmtes Geburtsdatum: die hier vertretenen Lyriker seien 1985, bei Manuskripterstellung, alle unter 30 Jahre gewesen. Mit Blick auf die nächste Anthologie und die Villena’schen Kontinuitätsstrategien ist auf die lange „Paréntesis sobre la tradición y el modo de usarla“ (p. 23-25) zu verweisen, in der de Villena, mit Bezug auf Pedro Salinas, die Tradition als ‘das Leben’ von Kunst und Literatur wertet und daher einen richtigen Umgang mit ihr fordert. b. Fin de siglo: die Präsenz des Klassischen Deutete sich in Postnovísimos bereits die Rückkehr zur klassischen Tradition an (s. etwa Postnovísimos, p. 19), so steht dieser Aspekt, laut de Villenas Interpretation, für die Autoren der Anthologie Fin de siglo. El sesgo clásico en la última poesía española vollkommen im Zentrum. Auch bei anderen Dichtern und Kritikern erkennt de Villena eine Tendenz zur Rückwendung zur tradición clásica, so in Jenaro Talens’ Gedichtsammlung Tabula rasa (cf. Fin de siglo p. 13). Unter den elf Charakteristika, die er in seiner programmatischen Einführung aufzählt und kursorisch kommentiert, stellen Bezüge auf paradigmatische Autoren und Epochen den stärksten argumentativen Anteil; konkret sind dies Rückblicke auf die Generación 116 del 50 (mit Gil de Biedma und Brines), auf den lyrischen Ton Antonio Machados, auf das Onirische Quevedos, auf formale Elemente wie Alexandriner, Elfsilbler, Quartettstrophen usw. sowie auf hedonistische und vitalistische Tendenzen. In einzelnen Fällen findet de Villena weitere Charakteristika einzelner Autoren, etwa jene nueva sentimentalidad, die er bei García Montero vorfindet (und die für ihn den Granadiner Dichter in die Nähe Gil de Biedmas rückt). Ganz in der Linie der in Postnovísimos dargelegten Konzepte polemisiert de Villena wieder gegen die frühen Produkte der sog. Generación del 70 mit ihrem „afán de modernidad y ruptura“ (p. 11) und kommt auch noch einmal auf seine Beobachtungen aus der ersten Anthologie zurück, dass nämlich in einem „segundo movimiento generacional“ in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre sich jene Neuansätze ankündigen, die dann ab 1980 den retorno a la tradición einleiten, der zu einer nueva generación poética führt (p. 14). Als eines der hervorstechenden Merkmale dieser Dichtung sieht er die Wiederentdeckung der griechischen und lateinischen Antike, (und als Beispiel dient ihm ein Gedicht von José María Álvarez aus dem Jahr 1985, „La belleza de Helena“). Wieder wagt es de Villena, einen Kriterienkatalog von neun typischen Zügen dieses Mal der Generación del 80 aufzustellen, aus dem ich nur die auffälligsten Aspekte herauspicke, etwa die Annäherung an Poeten aus der anglo-amerikanischen Tradition (Larkin, Auden, Eliot) und an die französischen Spätsymbolisten (Jammes), sowie - formal - die Rückkehr zum Blankvers und - thematisch - nochmals die poesía de la experiencia (mit einem spezifischen Rollenverständnis des Dichters und des Lesers als hombres normales). Fragt man nach der Position von Fin de siglo innerhalb der anthologisierenden Unternehmung de Villenas, nach Kontinuitäten und Brüchen, so fällt als verbindende Achse zu Postnovísimos die Skepsis gegenüber der Generación del 70, die Befürwortung der poesía de la experiencia und vor allem das Aufleben ‘klassischer’ Dichtungsformen auf. Wenn drei der zehn in Fin de siglo vertretenen Autoren bereits in Postnovísimos erschienen (García Montero, Benítez Reyes, Alas), nur zwei (Álvaro García und Luis Muñoz) aber in der folgenden Sammlung, 10-30, wieder auftauchen werden, dann deutet dies darauf, dass Fin de siglo mit der Vergangenheit enger verzahnt ist als mit der Zukunft. De Villena selbst empfindet seine Anthologie Fin de siglo weniger als Neubeginn und stärker als Abschluss, und dies und dessen Begründungkontext kommentiert er so: Toda antología - como ha quedado claro - es una opción. Yo he hecho la mía. Me parece prudente, realista y también esperanzada. Sin embargo es tanto el epigonismo que empieza ya a surgir en esta estética - que tan atractiva ha resultado a los más jóvenes - que no me parece muy difícil advertir que esta no es una antología de inicio sino de cierre. (p. 33) Was aber kommt nach dem cierre? Noch vor der nächsten Anthologie gibt es prospektive Gedanken dazu auf der letzten Seite der Einleitung. Zwei mögliche Tendenzen erwartet de Villena dort, generell die Intensivierung ‘realistischer’ Strömun- 117 gen zu einer nueva poesía social und dann im Erfahrungfeld der Großstädte eine Lyrik des realismo sucio (cf. p. 33). Genau zehn Jahre vor der Sondernummer der Zeitschrift Ínsula zur neuen engagierten Lyrik beschreibt Luis Antonio de Villena bereits jene beiden Tendenzen, die dort als deutlichste Kennzeichen der spanischen Dichtung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert gehandelt und behandelt werden. c. 10 menos 30: Dichtung und Erfahrung Der seltsame Titel der dritten hier zu behandelnden Anthologie de Villenas, 10 menos 30. La ruptura interior en la ‘poesía de la experiencia’, ist so zu entschlüsseln, dass wir hier die Gedichte von 10 jungen Lyrikern finden, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unter 30 Jahre alt sind und die das herrschende Konzept der poesía de la experiencia jeweils auf ihre Weise brechen. Zwei von ihnen, wie gerade erwähnt, finden sich schon in Fin de siglo, alle anderen sind relativ unbekannte Autoren. Vielleicht ist gerade deshalb de Villenas Prolog hier besonders umfangreich, besonders programmatisch, besonders ‘theoretisch’. Gleich zu Beginn seiner Einleitung beschreibt der Anthologe die Szene der neuen spanischen Lyrik als Schlachtfeld. Deutlicher als sonst weist er auf die Flut von Anthologien in der Gegenwart, seit der Generación del 80, hin (p. 12) und verortet sein neues Produkt gegenüber den anthologischen Projekten z.B. von García Martín. Die hier versammelten Lyriker eint, dass sie alle eine neu verortete poesía de la experiencia schreiben, die sich deutlich von früheren Formen dieser Ästhetik unterscheidet, also von den Formen, die Gil de Biedma Robert Langbaums The Poetry of Experience (1957) entnommen und rekontextualisiert hatte. De Villena sieht, dass seine so intensiv reflektierte und geförderte Lieblingstendenz, die poesía de la experiencia, Gefahr läuft, in einen „cansancio epigonal“ (p. 26) zu verfallen, gegen den er seine ausgewählten Paradigmen setzt. Viel stärker als in seinen anderen Anthologien geht de Villena hier in diesem Vorwort auf Dichter ein, die er in diesen Band (wohl wegen der Altersgrenze oder wegen ihrer Etabliertheit) gerade nicht aufgenommen hat. Um seine in Fin de siglo aufgestellte Hypothese von den beiden am Horizont aufscheinenden neuen Richtungen, von nueva poesía social und realismo sucio, zu untermauern (später wird dazu eine Lyrik der psychischen Tiefe kommen, s. S. 32), stellt er eingehend die 1997 schon recht bekannten Hauptvertreter beider Richtungen vor: Jorge Riechmann und Roger Wolfe. Als erster würdigt de Villena Riechmanns „realismo de crítica y hondura“ (p. 32) und seinen Ansatz zu einer praktischen Poetik der Ökologie, welche gleichzeitig (im Sinne der poesía de la experiencia) der Tücken des Alltags gewahr ist. Wolfe und seinen „realismo de la perturbación“ (p. 34) setzt de Villena in den Kontext des amerikanischen dirty realism, in den er durchaus gehört. 24 Aber beide Lyriker tauchen, wie gesagt, in der Anthologie nicht auf, (obwohl z.B. ein in den Band aufgenommenes Gedicht von Alberto Tesán den Titel eines Textes von Roger Wolfe trägt: „Nada nuevo“); ihr Format weist keiner der in die Anthologie Aufgenommenen auf. 118 d. La lógica de Orfeo: Rilke am Manzanares Nicht von ungefähr gemahnt der Titel der bislang letzten und zugleich größten Anthologie de Villenas - sie stellt Gedichte von nicht weniger als 18 verschiedenen Lyrikern vor - an Rilkes Kult des Orphischen. In seiner Einleitung nämlich konfrontiert der Anthologe eine ‘logische Stimme’, die er in all den gerade in Spanien durch die gesamte Literaturgeschichte florierenden Spielarten des Realistischen inkarniert sieht, mit einer ‘orphischen Stimme’, die Rilkes Übersetzer Carlos Barral direkt in die spanische Dichtung hineingetragen habe. Inhaltlich bestimmt er die voz órfica als jene Stimme „que ha preferido basicamente el camino de lo oscuro o de lo supuestamente inefable, que la propia poesía [...] hacía por volver sugerible o decible“ (p. 9). Kennzeichen jener neuen Poesie, die er in dieser Anthologie vorstellt, sei eine ars combinatoria, eine Verkettung der voz órfica und der voz lógica, die in der Lyrik seit dem Bürgerkrieg, am deutlichsten aber von der Generación del 80, also den Postnovísimos, streng getrennt worden seien. De Villena stellt, anstatt der üblichen poetologischen Einlassung der Anthologisierten eingangs ihrer Beiträge, hier nur die seine originelle Konzeption betreffende Frage nach der „unión de una poesía de base realista o lógica con otra de signo irracionalista o metafísico“ (p. 41) voran, und die 18 derart befragten Lyriker antworten mit sehr unterschiedlicher Plausibilität oder Relevanz. Álvaro García, der bereits sowohl in Fin de siglo als auch in 10 menos 30 erschien (also, wie Luis García Montero, dreimal von de Villena anthologisiert ist), sieht im Spannungsverhältnis von Logik und Orphik die so typisch moderne Debatte um conocimiento y comunicación reflektiert, und Abraham Gracera erkennt in ihm die „límites y trampas del lenguaje“ und definiert sogleich seine Vorstellung vom Gedicht als „intento de organización verbal“ (S. 220), eine Definition, die wenig spanisch wirkt und sich eher der konsequenten Nachfolge der nordamerikanischen Lyriker um William Carlos Williams („a poem is a small [or large] machine made of words“) unterstellt. Die Kombinationsformen des Orphischen und des Logischen ergeben Strömungen, die entsprechend als realismo meditativo und irracionalismo cognoscitivo beschrieben sind und die vor allem eine Veränderung des Konzepts der poesía de la experiencia in Richtung auf eine neue ‘realistische’ oder ‘meditative’ Dichtung bewirken. 4. Anthologie und literaturgeschichtlicher Kontext Das skizzierte intensive Anthologisieren de Villenas ist in seiner Gesamtheit bislang nicht gewürdigt worden, obwohl de Villena als Lyriker, Romancier, Literaturkritiker und -wissenschaftler gerade international große Anerkennung zuteil wurde. 25 Es geht mir hier darum, seine Tätigkeit als Anthologe nicht als ein dilettantisches oder mehr oder weniger willkürliches Auswählen zu registrieren, sondern einige komplexere Zusammenhänge aufzuzeigen. Wenn Jenaro Talens anhand der Novísimos die Prozesse der Kanonbildung nicht primär als Aneignung des Vergange- 119 nen, sondern gerade als Rechtfertigung des Gegenwärtigen gewertet hatte (s.o.), dann zeigt sich mit den von Luis Antonio de Villena edierten Postnovísimos in dieser Hinsicht ein signifikanter Bruch: War Castellets Nueve novísimos die letzte ‘große’ Anthologie, die unter frankistischer Zensur litt, so ist Postnovísimos die erste ‘große’ frei und ohne Zensur gewählte Synopse, welche jene Jahre des Umbruchs dokumentiert, ohne dabei ihren Ort innerhalb des postfrankistischen remapping der Literaturszene mit politischen Argumenten deutlich zu machen. Und doch ist nicht zu übersehen, dass bei aller Verpflichtung zur Tradition, die de Villenas Anthologien durchzieht, er inmitten der Generación del 70 einen Bruch ansetzt, deren jüngere Vertreter (ab 1976) er als Wegbereiter der 1980er, der Postnovísimos, schätzt. Der Zusammenfall dieses Bruchs mit dem Ende der Diktatur durch den Tod des Diktators im November 1975 ist eben kein Zufall, denn schließlich hat sich de Villena in so vielen seiner Romane und Essays als Chronist der sog. transición, der Übergangsjahre zur Demokratie erwiesen (- ich nenne exemplarisch nur die Chronik Madrid ha muerto), dass es verkürzend wäre, nicht auch Postnovísimos als erste Manifestation postfrankistischen Anthologisierens zu sehen (und die Flut der Anthologien am Ende des 20. Jahrhunderts als Ausdruck der Möglichkeit und des Bedürfnisses, unabhängig von expliziter Thematisierung von memoria- Kulturen poetische Erfahrung in Freiheit zu artikulieren und Erfahrung poetisch zu artikulieren). In diesem Sinne bedeutet das starke Setzen auf neue lyrische Ausdrucksformen im Postfrankismus mehr als das Auftauchen eines neuen Erwartungshorizonts, das Jaime Siles in den Vordergrund stellt, 26 nämlich die Reflexion auf die Möglichkeiten von Dichtung unter Bedingungen der Erfahrung von Freiheit. Als Anthologe legt de Villena zwar nicht ein aus einem Block gegossenes, aber doch ein reflektiertes und kohärent konstruiertes Gesamtkonzept vor, das durch die Wiederaufnahme einzelner besonders wirkungsstarker Lyriker (wie Luis García Montero) Kontinuität erhält, vor allem aber der extrem schwierigen Aufgabe entgegenkommt, die je neuen Entwicklungen zu registrieren und, wenigstens im Ansatz, theoretisch zu fassen und historisch zu verorten. Wenn die poesía de la experiencia als Leitkonzept eigentlich bis La lógica de Orfeo beibehalten wird, dann scheint hinter der Formel jener Erfahrungshorizont auf, der Lyrikern wie Lesern bis zur Milleniumswende als erster präsent ist, wenn es um Erfahrung geht: die gelebte Erfahrung einer Diktatur, auf welche die poesía social und die klassische Form der Generación del 50 ganz anders antworten mussten als die Postnovísimos oder die zehn jungen Lyriker in 10 menos 30. De Villena zeigt damit zugleich die Dynamik der Kanonbildung innerhalb der selbst in Spanien nicht riesigen Schar der aficionados. Anthologien seien, so führt Marta Palenque aus, „productos destinados a la polémica“. 27 Luis Antonio de Villena hat sich gelegentlich polemisch gegenüber anderen Anthologien geäußert; dies möchte ich hier nicht weiter verfolgen, ich möchte vielmehr auf eine literaturwissenschaftliche Polemik gegen den Anthologen de Villena eingehen, nämlich auf den kurz erwähnten Artikel von Juan Miguel López Merino. Ein Teil seiner langen Einlassung beschreibt anhand einiger Antholo- 120 gien de Villenas die Problematik dieser Vermittlungsform. Einerseits kommt der Autor nicht umhin, die Wirkmacht der Villena’schen Anthologien (neben anderen) anzuerkennen, andererseits wählt er aber gerade das Beispiel de Villena, um die generellen Probleme des Anthologisierens, etwa die Subjektivität / Willkür der Auswahl, zu reflektieren. Zwar lobt López Merino den Sachverstand unseres Anthologen, und doch mündet seine Reflexion in den Vorwurf eines vermuteten amiguismo, der zwar nicht nur de Villena betreffe, aber der an seinem Beispiel behandelt wird („El problema del amiguismo, por supuesto, no sólo afecta a Villena“). Anhand einzelner Zitate aus den lyrikgeschichtlichen und -theoretischen Einleitungen will López Merino Widersprüche in den Urteilen de Villenas aufdecken („Las contradicciones son claras, la incoherencia patente, y el seguimiento de ambas esclarecedor y tedioso“), ein Verfahren, dass eigentlich nach einer diskurstheoretischen Erwiderung ruft, welche ihrerseits den nicht nur unpräzisen, sondern manipulativen Umgang mit ‘Argumenten’ aufzeigt. Letztlich münden diese Überlegungen in die Fiktion einer alternativen, aber völlig unproduktiven Dichtungsgeschichte, wenn sie die Frage aufwerfen, was gewesen wäre, wenn sich nicht durch das Wirken de Villenas die poesia de experiencia als Hauptrichtung durchgesetzt hätte. 28 1 Jenaro Talens / Michael Nerlich (1985), La mirada extranjera (1984-1985), Madrid: Hiperión. Michael Nerlichs scheinbar nachlässige, doch sorgfältigst komponierte Schwarzweiß-Fotografien zeichnen sich durch eine hohe Subtilität der Grautöne aus, mehr noch durch eine auffällige Technik der quadratischen Rahmungen von Stadtansichten und Bewohnern, oft mit einer Ästhetik des gesenkten Blicks. 2 Zum Werk de Villenas hatte ich möglicherweise deshalb einen so schweren Zugang, weil das erste, das ich von ihm las, die kaum adäquate dt. Übersetzung seines Romans Amor Pasión war. Warum im persönlichen Feld gegenseitig Reserven bestanden, vermag ich nicht zu sagen. Tatsache ist, dass während des Besuchs in Berlin, als in privater Runde alle DichterInnen ihre Exemplare signierten und widmeten, Luis Antonio de Villena mir in mein Exemplar der Chronik Madrid ha muerto hineinschrieb „a Dieter Ingenschay, con amistad creciente“ - ein angesichts der spanischen Widmungsenkomiastik vernichtender Satz, wie ihm durchaus bewusst war. Dies bestätigte er mir später bei einer gemeinsamen Einladung bei Luis García Montero und Almudena Grandes, als die Freundschaft schon erheblich gewachsen war, die sich u.a. durch die gemeinsame Teilnahme an der Großdemonstration nach dem 11. März 2004 und mehr noch durch den regelmäßigen Austausch über Literatur verfestigt hat. 3 Die Anthologie erschien 1970 (Barcelona: Ed. Barral) und erfuhr 2001 eine Neuauflage (Barcelona: Ed. Península), der ein „Apéndice Documental“ beigegeben ist, in dem auch der Bericht der Zensurbehörde abgedruckt ist, der die Streichung von Passagen auf über 20 Seiten verlangte. 4 „Nota editorial“, im Apéndice Documental der Reedition, p. 1. 5 Juan José Lanz, „La joven poesía española. Notas para una periodización“, in Hispanic Review 66 1998, p. 261-287, hier: p. 281. 6 Zit. bei Marta Beatriz Ferrari, Poesía española del ‘90. Una antología de antologías. Mar del Plata: Editorial EUDEM 2008, p. 41. 121 7 Alfonso Reyes, „Teoría de la antología“, in: La experiencia literaria. Buenos Aires: Ed. Losada, 1952 [1930]. 8 Nach Wiederauflagen Ende der 1950er Jahre publizierte José Teruel 2007 bei Cátedra eine Neuausgabe beider Bände in einem. Zur mehr als lebhaften Rezeption besonders des ersten, die sog. Generación del 27 als ‘Generation’ konstruierenden Teils s. Gabriele Morelli, Historia y recepción de la Antología poética de Gerardo Diego, Valencia: Pre- Textos 1997. 9 Zum Kontext des Entstehens einer durch den centenario Góngora ausgelösten dichterischen prise de conscience s. noch immer Gumbrecht, Hans Ulrich, „Warum gerade Góngora? Poetologie und historisches Bewußtsein in Spanien zwischen Jahrhundertwende und Bürgerkrieg“, in: Rainer Warning/ Wilfried Wehle (Hgg.), Lyrik und Malerei der Avantgarde, München: Fink 1982, S. 145-192. Die spanische Manie, das Generationsschema allenthalben zu verabsolutieren, quittiert Gumbrecht in seiner schon klassischen Literaturgeschichte mit einigen ironischen Bemerkungen und hat ihn wohl veranlasst, den Eintrag „Generation“ für das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Berlin 1997) zu schreiben. 10 Marta Palenque, „Cumbres y abismos: las antologías y el canon“ in Ínsula no. 721/ 722, enero/ febrero 2007. 11 Juan José Lanz, s. oben Anm. 5, p. 281. 12 Beispielsweise durch solche Anthologien, die etwa die Generation von 1970 behandeln (wie Pedro Provencio), oder die Nachbürgerkriegszeit bis 1980 (wie Fanny Rubio und José Luis Falcó), oder die zeitgenössische poesía social (wie Fanny Rubio und Jorge Urrutia), oder den Zeitraum von 1940 - 1980 (wie José Paulino Ayuso); dies alles zu berücksichtigen, würde zu weit führen. 13 Heftig widersprechen würde Juan Miguel López Merino dieser Argumentation, zeigt er doch die inneren Verquickungen und Querbezüge auf, die für ihn das Geschäft der Anthologen zusätzlich problematisieren. Cf. López Merino, „Hacer historia. Crítica literaria y poesía posfranquistas“, www.tonosdigital.es/ ojs/ index.php/ tonos/ article/ view/ 202, Zugriff vom 10. 1. 2009; Artikel ohne Paginierung. 14 Ferrari, Marta Beatriz, Poesía española del ‘90. Una antología de antologías. Mar del Plata: Editorial EUDEM, 2008. 15 Ínsula, no. 671/ 672, „Los compromisos de la Poesía“, nov./ dic. 2002. 16 „[...] la construcción de todo canon historiográfico dirige, selecciona y construye a su vez su propio objetivo y la perspectiva desde donde leerlo. En una palabra, no hay crítica sobre los ‘novísimos’ porque existan previamente los ‘novísimos’ sino que hay ‘novísimos’ como objeto de estudio porque existe una crítica que habla de ellos“, Jenaro Talens, „La coartada metapoética“, in Ínsula, no. 512/ 513, 1989, p. 55. 17 „En una palabra, no se instituye para recuperar un pasado sino para ayudar a constituir y justificar un presente“. Jenaro Talens, „De la publicidad como fuente historiográfica: la generación poética española de 1970“, in Revista de Occidente 101, 1989, p. 107-127, hier: p. 107 18 De Villena ist, lt. López Merino, „probablemente el más conocido e influyente de los oficinates, resultando ser, por tanto, el que ha dejado las secuelas más visibles“. 19 Hinzufügen kann man eine repräsentative Auswahl von spanischsprachigen Sonetten durch die Jahrhunderte (El libro de los sonetos en lengua española, 2005) sowie zahlreiche Editionen von nichtspanischer Lyrik; auf dies alles werde ich hier nicht eingehen. 20 Fast alle dieser Anthologien erschienen in der Colección Visor de Poesía; lediglich 10 menos 30 wurde vom Verlag Pre-Textos in Valencia publiziert. Unberücksichtigt bleibt 122 seine Anthologie La poesía plural (Visor 1998), da diese eine Zusammenstellung von Gewinnern des Premio Loewe darstellt und damit zwar ‘plural’ ist, aber nicht auf einer freien Auswahl beruht. 21 Araceli Iravedra, „De ‘The Poetry of Experience’ a la’ Poesía de la Experiencia’: Algunas Reflexiones para la Revisión Historiográfica de un Concepto Crítico“, in Iberoromania 64, 2007, p. 132-146, hier: 133. 22 S. dazu Iravedra p. 133. 23 Das Spektrum geht von Jorge Riechmann, mit (dem jüngst verstorbenen) Leopoldo Alas der jüngste unter den vertretenen Dichtern, der eine sich politisch verstehende, neomarxistisch inspirierte, inzwischen auch ökopoetologisch orientierte Schreibart pflegt, bis zu Angel Muñoz Petisme, der danach vor allem als Texter von Rockballaden Bekanntheit erreicht hat. 24 Zu dieser Zugehörigkeit s. Dieter Ingenschay, „El realismo sucio o la poesía de los márgenes“, in Ínsula no. 671/ 72, Sondernummer „Los compromisos de la poesía“, nov.dic. 2002, p. 46-48. 25 Erwähnt seinen nur pauschal die Arbeiten von Horst Weich in Deutschland, Marie-Claire Zimmermann in Frankreich, Chris Perriam in Großbritannien und Juan M. Godoy in den USA. 26 Jaime Siles: „lo que en los primeros años 80 se produce es un nuevo Erwartungshorizont, un nuevo horizonte de expectativa que desplaza a la estética novísima y la va sustituyendo poco a poco por otra corriente que, subterránea antes, aflora ahora y que termina instaurándose como nueva noción“, Jaime Siles, „Ultísima poesía española escrita en castellano: rasgos distintivos de un discurso en proceso y ensayo de una posible sistematización“, in Iberoromania 34, 1991, p. 8-31, hier: 12. 27 Marta Palenque, s. o. Anm. 10. 28 Am Rande und als Abschluss sei vermerkt, dass derselbe Juan Miguel López Merino einem Artikel aus meiner Feder, s.o. Anm. 24, eine ähnliche Polemik angedeihen lässt: („Sobre la presencia de Roger Wolfe en la poesía española (1990-2000) y revisión del marbete ‘realismo sucio’“, in Especulo 31, verfügbar unter www.ucm.es/ info/ especulo/ numero31/ rogwolfe.htlm, Zugriff vom 10.01.2009) nachdem er zunächst über weite Strecken den Argumentationsfiguren meines Artikels zu dem spanischen Lyriker Roger Wolfe als Vertreter des realismo sucio folgt, verwirft er dann diesen Begriff grundsätzlich, um allein den historisch wie systematisch erheblich unpräziseren Terminus neorrealismo zuzulassen. Ferner, so López Merino, irre Ingenschay, wenn er Wolfes Texte für schmutzig halte. Doch glaubt Ingenschay indes nicht zu irren; nach jeder Lektüre der Wolfeschen Gedichte über Scheiße fressende Fliegen weniger.