eJournals lendemains 34/133

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2009
34133

Theorie und Praxis der Landeswissenschaften – ein Erfahrungsbericht

2009
Roland Höhne
ldm341330094
94 Roland Höhne Theorie und Praxis der Landeswissenschaften - ein Erfahrungsbericht 1. Konstituierung Die romanistischen Landeswissenschaften entstanden in den 70er Jahren durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Frankeichkunde, wie sie seit 1945 an den romanischen Seminaren praktiziert wurde. Unter dem Einfluß herrschaftskritischer und gesellschaftspolitischer Vorstellungen der Studentenbewegung wurden sowohl das geistesgeschichtliches Paradigma der älteren Kulturkunde als auch Inhalte und Methoden der positivistischen Landeskunde kritisiert. 1 Die Kulturkunde gehe von holistischen Vorstellungen über das „Wesen“ Frankreichs aus und tradiere so geisteswissenschaftliche Frankreichdeutungen, die wenig mit den politischen und gesellschaftlichen Realitäten Frankreichs zu tun hätten, die positivistische Landeskunde habe weder ein wissenschaftlich definiertes Erkenntnisinteresse noch ein methodologisches Instrumentarium zur Erarbeitung und Vermittlung von Inhalten. Sie gleiche noch immer einem „gigantischen Trödelladen“ in dem wahllos heterogene Wissensbestände feilgeboten würden. 2 Sie ermögliche daher keine wissenschaftliche Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Realität des Objektlandes. Außerdem spiele sie im Romanistikstudium nur eine Nebenrolle, die meist von französischen Lektoren im Rahmen der Sprachpraxis wahrgenommen werde. Die Kritiker forderten deshalb eine wissenschaftliche Fundierung der Landeskunde und ihre Integration als eigenständigen Lehr- und Forschungsbereich in die Romanistik. 3 Unterstützt wurden sie von Sozialwissenschaftlern, 4 die sich an der französischen Germanistik orientierten. In dieser bildet die „Civilisation“ eine gleichberechtigte Disziplin neben Literatur und Sprache der deutschsprachigen Länder und ist auch entsprechend personell ausgestattet. 5 Gemeinsam plädierten sie auf dem Romanistentag von Heidelberg 1973 für die Aufnahme einer „landeskundlichen Komponente“ in die Hochschulromanistik und machten Vorschläge für ihre inhaltliche Ausgestaltung. 6 Unter dem Einfluß der Landeskundekritik entwickelten die Landeskundesektionen der Romanistentage des Deutschen Romanisten-Verbandes (DRV) in den Jahren 1977-1983 sowie ein Arbeitskreis am Deutsch-Französischen Institut Ludwigsburg (DFI) wissenschaftliche und curriculare Konzepte für die inhaltliche Fundierung einer neuen Landeskunde. Um diese von der alten Landeskunde begrifflich zu unterscheiden und um ihren wissenschaftlichen Anspruch zu demonstrieren, bezeichneten sie diese als Landeswissenschaft. 7 Angesichts der Vielfalt des Gegenstandsbereichs stellte sich jedoch die Frage, ob sich dieser durch eine einzelne Wissenschaft erfassen lasse. Einige Teilnehmer der Reformdiskussion be- 95 vorzugten daher den Begriff der Landeswissenschaften in Analogie zu dem der Sozialwissenschaften. 8 Die Reformdiskussion innerhalb der Hochschulromanistik fand ein positives Echo unter Französischlehrern und Fremdsprachendidaktikern. Gemeinsam bemühten sich diese um eine Verbindung von Landeskunde und Spracherwerb im schulischen Fremdsprachenunterricht und erarbeiteten entsprechende Konzepte. 9 Sie hielten jedoch an der traditionellen Bezeichnung Landeskunde fest. Sie begründeten ihre Haltung vor allem mit dem Unterschied der Anspruchsebene und des Anwendungsbereichs von schulischer Landeskunde als Teil des Fremdsprachenunterrichts und universitärer Landeswissenschaft als Teildisziplin der fremdsprachlichen Philologien. Weltanschauliche und bildungspolitische Motive dürften jedoch ihr Festhalten an der alten Bezeichnung ebenfalls bestimmt haben. 10 Die landeskundlichen Reformbestrebungen stießen auf den erbitterten Widerstand etablierter Romanisten. Sie sahen in diesen eine Gefahr für den philologischen Charakter der Romanistik und damit ihrer Deutungshoheit über das Fach. Sie bezeichneten daher die Landeswissenschaften als fachfremd und sprachen ihnen die Wissenschaftlichkeit ab, ohne sich je ernsthaft mit der landeskundlichen Theoriediskussion beschäftigt zu haben. Sie hätten keinen systematisch definierten Gegenstandsbereich und sie orientierten sich an überkommenen Nationenvorstellungen und deren Problembereichen. 11 Ausnahmen bildeten Michael Nerlich an der TU und Winfried Engler an der PH Berlin. Nerlich schuf bereits 1973 eine Assistentur für Landeskunde 12 und gründete 1975 Lendemains als interdisziplinäres Forum der Frankreichforschung, Engler vergab im Bereich Französisch landeskundliche Lehraufträge, die sich mit politischen und gesellschaftlichen Themen Frankreichs beschäftigten. Die Signalwirkung dieser Initiativen veranlaßte schließlich auch das Seminar für Romanistik der FU Berlin, eine Mitarbeiterstelle für Landeskunde einzurichten. Damit war ein erster Schritt zur Etablierung einer erneuerten Landeskunde in der Hochschulromanistik getan. Der entscheidende Durchbruch gelang jedoch erst durch die Integration landeskundlicher bzw. landeswissenschaftlicher Elemente in pluridisziplinäre Studiengänge an den Universitäten Gießen und Kassel. Gleichzeitig profilierten sich als Alternative zu den Landeswissenschaften die Kulturwissenschaften, insbesondere die interkulturelle Kommunikation. Seit Mitte der achtziger Jahre wurden daher nur noch kulturwissenschaftliche Professuren und Assistenturen innerhalb der Romanistik eingerichtet, so in Passau, Saarbrücken, Chemnitz, Halle, Leipzig, Dresden, Frankfurt/ Oder und Köln. 13 Sie wurden mit Philologen besetzt, von denen sich lediglich einer, Ingo Kolboom in Dresden, an der Landeskundediskussion beteiligt und durch landeswissenschaftliche Arbeiten qualifiziert hatte. Damit wurde insbesondere in den neuen Bundesländern die Chance vertan, die Romanistik inhaltlich zu erneuern und den veränderten Anforderungen des Beschäftigungssystems anzupassen. 14 96 2. Inhaltliche Debatte In der landeskundlichen Reformdiskussion der siebziger Jahre bestand Einigkeit darüber, daß sich die Landeswissenschaften primär mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen Frankreichs beschäftigen sollten, um so die Absolventen der Romanistik, insbesondere die zukünftigen Französischlehrer, adäquat auf ihre beruflichen Aufgaben als „Mittler“ zwischen Frankreich und Deutschland vorzubereiten. 15 Dieser Grundkonsens beinhaltete auch eine Abwendung vom geisteswissenschaftlichen Paradigma der Frankreichdeutung. 16 Unterschiedliche Auffassungen bestanden jedoch in der Frage der Ansätze und Methoden sowie der Formen der Institutionalisierung. 2.1. Didaktische und sozialwissenschaftliche Ansätze Infolge ihrer Einbindung in die Lehrerausbildung und ihrer sozialwissenschaftlichen Orientierung dominierten in den Landeswissenschaften zunächst didaktische und sozialwissenschaftliche Ansätze. In den didaktischen Ansätzen wurden die Gegenstände von den Lernzielen des schulischen Fremdsprachenunterrichts bzw. der Sprachvermittlung her bestimmt. Ihren Vertretern ging es vor allem um den Abbau von Kommunikationshemmnissen zwischen Deutschen und Franzosen im Interesse transnationaler Kommunikationsfähigkeit. Sie beschäftigten sich deshalb vorrangig mit tradierten Länderbildern, d.h. mit ethnozentrischen Perzeptions- und Deutungsmustern und bedienten sich dabei vor allem literaturwissenschaftlicher und ideologiekritischer Methoden. Sie entwickelten außerdem Konzepte zur Vermittlung länderspezifischer Informationen. Diese wurden jedoch den Zielen des Spracherwerbs untergeordnet und damit an die Sprachprogression gebunden. 17 Die Landeswissenschaften blieben dadurch eine Komponente der Fremdsprachendidaktik, welche die Auswahl der zu vermittelnden Informationen bestimmte. Da deren Vertreter meistens von abstrakten, humanistisch oder gesellschaftskritisch inspirierten Lernzielvorgaben ausgingen, tendierten sie dazu, die notwendige Vermittlung von gesellschaftlichem Realprozeß und wissenschaftlicher Gegenstandskonstitution zu vernachlässigen. Im Gegensatz zu den didaktischen Ansätzen wurden in den sozialwissenschaftlichen Ansätzen die Gegenstände der Landeswissenschaften nicht von allgemeinen schulischen Lernzielen, sondern vom politischen Ziel der deutsch-französischen Zusammenarbeit her bestimmt. Im Interesse dieser Zusammenarbeit strebten ihre Vertreter primär die Schaffung einer transnationalen Kommunikations- und Handlungskompetenz an. Dieser Zielsetzung sollte die Vermittlung eines „Orientierungswissens“ über die Gesellschaft des Ziellandes dienen. Da Frankreich und Deutschland beide entwickelte Industriestaaten sind, plädierte Hans Manfred Bock 1978 für eine Konzentration der Landeswissenschaften auf „die wichtigsten politisch-gesellschaftlichen Probleme moderner kapitalistischer Industriestaaten“. 18 In den 80er Jahren erweiterte er den so definierten Gegenstandsbereich der Landeswissenschaften um den Ländervergleich und beschäftigte sich nun verstärkt auch 97 mit den kulturellen sowie zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland. 19 Angesichts der Vielfalt sozialwissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden stellte sich jedoch auch Bock die Frage, ob es eine spezifische Erkenntnislogik für die Länderforschung gäbe und wie sie begrifflich zu fassen sei. 20 Auch Robert Picht und Gisela Baumgratz stellten die Beschäftigung mit politischen und gesellschaftlichen Problemen Frankreichs in den Mittelpunkt ihrer konzeptionellen Überlegungen. Zum Verständnis dieser Probleme hielten sie jedoch ebenfalls eine Beschäftigung mit deren Entstehungsgeschichte für notwendig. Sie definierten deshalb den Gegenstand der Landeswissenschaften als „Geschichte und Gegenwart einer nationalstaatlich organisierten Gesellschaft“. Für das Studium betrachteten sie den „Erwerb eines historischen und gesellschaftlichen Grundwissens“ als unerläßlich. 21 In seinen eigenen Arbeiten beschäftigte sich Robert Picht dagegen vor allem mit sozialpsychologischen und kulturellen Faktoren der deutsch-französischen Kommunikation unter Vernachlässigung ihrer historischen Dimension. 22 Die Vertreter der sozialwissenschaftlichen Ansätze plädierten wie die Vertreter der didaktischen Ansätze für eine enge Zusammenarbeit von Landes-, Literatur- und Sprachwissenschaft(en) in Lehre und Forschung. So empfahl R. Picht die Schaffung interdisziplinärer Arbeitsstrukturen, 23 Roland Höhne und Thomas Arnold entwickelten ein interdisziplinäres Konzept für einen alternativen Diplomstudiengang Romanistik, in dem die drei Disziplinen eng aufeinander bezogen sein sollten 24 und Hans-Manfred Bock zeigte gemeinsam mit dem Linguisten Manfred Raupach Möglichkeiten einer Kooperation der Landeswissenschaft mit der Literatur- und der Sprachwissenschaft auf. 25 Diese Vorschläge wurden zunächst lediglich von einigen Reformromanisten aufgegriffen und an der Universität Kassel in konkrete Kooperationsstrukturen umgesetzt. Die Veränderung der Anforderungen des Beschäftigungssystems an Romanisten zwang auch die Landeswissenschaftler in den 80er Jahren erneut zur Selbstreflexion über Inhalte, Aufgaben, Methoden und Schwerpunktsetzungen ihres Arbeitsgebietes. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen standen nun nicht mehr die Probleme der Sprachvermittlung, sondern der transnationalen Kooperation und Kommunikation in der Wirtschaft, in den Medien und in internationalen Organisationen. Dieses neue Interesse inspirierte zahlreiche Untersuchungen über internationale Wirtschaftskommunikation, über Kommunikationsprobleme in bi- und multinationalen Unternehmen sowie über „Kulturmauern“ in den Köpfen von Deutschen und Franzosen, 26 aber auch über den „französischen Wirtschaftsstil“ 27 . 2.2 Sozial- und mentalitätsgeschichtliche sowie interdisziplinäre Ansätze Ein zentrales Problem der Landeswissenschaften bildet die Integration ihrer verschiedenen Dimensionen. Wolfgang Asholt schlug daher 1990 vor, die Nouvelle Histoire zur theoretischen Grundlage einer historisch ausgerichteten Landeswissenschaft zu machen. Nur so sei es möglich, die Ereignis- und Strukturgeschichte 98 mit der Sozial- und Mentalitätsgeschichte zu einer histoire totale zu verbinden. 28 Dorothee Röseberg plädierte dagegen für eine „integrative Landeskunde“. 29 Diese sollte interdisziplinär von Länderspezialisten der Geschichts-, Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften betrieben werden und der Vermittlung von systematischen Grundlagen- und Orientierungswissen im Grundstudium dienen. Asholts Vorschlag war bestechend, reflektierte jedoch nicht die methodologischen Probleme der Nouvelle Histoire, Rösebergs Konzept war dagegen rein additiv, da ihm ein integrierendes Erkenntnisinteresse und daraus abgeleitete gemeinsame Fragestellungen fehlten. Beide Konzepte sollten außerdem nur die Grundlagen im Sinne eines Propädeutikums für ein literaturbzw. kulturwissenschaftlich orientiertes Romanistikstudium schaffen. 2.3 Der landeswissenschaftliche Grundkonsens Trotz aller unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen und fachspezifischen Ausgangspositionen bildete sich unter den Landeswissenschaftlern in den 80er Jahren ein Grundkonsens über Gegenstand, Erkenntnisinteresse und Aufgabenstellung der Landeswissenschaften. Im Gegensatz zu den „Cultural Studies“ des angelsächsisch-amerikanischen Sprachraums beschäftigen sich diese mit geographisch, historisch, staatlich und sprachlich klar eingrenzbaren Entitäten, d.h. Staaten, Regionen, Provinzen oder Sprachräumen. Aufgrund der Verankerung der Landeswissenschaften in der Romanistik handelt es sich dabei um Länder, in denen eine romanische Sprache Staats- oder Verkehrssprache ist wie z.B. das Französische in Frankreich, in Québec, in Wallonien, in der Westschweiz oder in den frankophonen Staaten Afrikas. Zum Gegenstandsbereich der romanistischen Landeswissenschaften zählen aber auch Regionen, deren Kultur und Selbstverständnis stark durch eine romanische Sprache geprägt worden ist, so Akadien und Louisiana durch das Französische sowie internationale Kommunikationsverbünde, die sich einer gemeinsamen romanischen Sprache bedienen wie die Frankophonie. Zentrales Erkenntnisinteresse bei der Beschäftigung mit diesen Entitäten bilden die innergesellschaftlichen Antriebskräfte politischen Handelns. Zu diesen zählen auch die kulturellen Traditionen und Referenzsysteme. Die Landeswissenschaften bedienen sich dabei vor allem der Methoden und Wissensbestände der Sozialwissenschaften, überprüfen diese aber auf ihre Tauglichkeit für ihre länderspezifischen Fragestellungen. 30 Da die innergesellschaftlichen Verhältnisse das Ergebnis historischer Entwicklungen sind, beschäftigen sich die Landeswissenschaften auch mit ihrer Entstehungsgeschichte. Dabei berücksichtigen sie nicht nur politische und soziale, sondern auch sprachliche und kulturelle Faktoren, die diese geprägt haben. Die Landeswissenschaften besitzen somit auch eine historische Komponente. Bei der Beschäftigung mit der Geschichte geht es ihnen aber nicht nur um die Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern auch um ihre kulturelle Repräsentation in Geschichtsbildern, Gedächtnisorten und Meistererzählungen, da diese gegenwärtiges Handeln in hohem Maße beeinflussen. 99 Länder im oben definierten Sinne sind keine abgeschlossenen Entitäten, sondern Teile größerer Kommunikationsräume. Die Landeswissenschaften beschäftigten sich daher auch mit interkulturellen und transnationalen Austauschprozessen. Dabei spielen Perzeptionen und Rezeptionen fremder Realitäten eine wichtige Rolle. Dies hat notwendigerweise eine intensive Auseinandersetzung mit sprachlichen, begrifflichen und kulturellen Referenzsystemen der Objektländer zur Folge. Dabei sind die Landeswissenschaften auf die Methoden und Wissensbestände der Literatur- und Sprachwissenschaft(en) angewiesen. Ihre Verortung in den Philologien ist somit nicht nur eine funktionale, sondern auch eine wissenschaftliche Notwendigkeit. Ein zentrales Thema der Landeswissenschaften bilden die deutsch-französischen Beziehungen. Sie haben die europäische Geschichte entscheidend geprägt und sie sind heute zentraler Bestandteil des europäischen Projekts. Die tiefgreifende Veränderung ihrer internationalen Rahmenbedingungen durch das Ende des Ost-West-Konflikts sowie ihrer innergesellschaftlichen Grundlagen durch die Globalisierung zwangen jedoch in den neunziger Jahren zur Überprüfung bisheriger Positionen. 31 3. Die kulturwissenschaftliche Herausforderung der Landeswissenschaften Als Alternative zu den Landeswissenschaften profilierten sich seit den achtziger Jahren die Kulturwissenschaften, 32 die eng an philologische Traditionen anknüpften. Sie beruhen auf einem erweiterten Kulturbegriff, der auch die Lebensnormen und Verhaltensweisen sowie die ihnen zugrundeliegenden Kulturmuster und Vorstellungsstrukturen umfaßt. Im Gegensatz zu den sozialwissenschaftlichen Ansätzen beschäftigen sie sich nicht primär mit gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen, Institutionen und Organisationen, sondern vor allem mit kulturspezifischen Vorstellungsstrukturen sowie Denk-, Deutungs- und Wahrnehmungsmustern und ihren Kommunikationsformen. Methodisch stützen sie sich nicht nur auf das traditionelle Instrumentarium der Philologien, sondern auch auf das der Anthropologie, der Semiotik, der Semantik, der Kultursoziologie, der Diskursanalyse sowie der Begriffs- und Mentalitätsgeschichte. Eine wichtige Rolle innerhalb der kulturwissenschaftlichen Ansätze spielt die Interkulturellen Kommunikation. 33 Sie beschäftigt sich vor allem mit den interkulturellen Interaktionsformen, Wahrnehmungsvorgängen sowie Transfer- und Rezeptionsprozessen. Ihr zentrales Interesse bildet nach H. Thoma die „biggf. multilaterale Differenz in der Similarität auf der Ebene der Wissensvorräte, der national sowie der bilateral relevanten Deutungs-, Kommunikations- und Handlungsmuster in Geschichte und Gegenwart.“ 34 Gegenstand der Landeswissenschaft sollte daher der -“ nach sozialer Schichtung - zu differenzierende Vorrat an national bedeutsamen kulturellen Objektivationen, Mythenbildungen (Auto- Heterostereotype) und Handlungsmuster in Geschichte und Gegenwart sowie die daraus resultierenden 100 prognostizierbaren interkulturell-affektiven Verhaltensweisen, welche je konkrete Person bzw. soziale Gruppen eines Ziellandes entscheidend prägten und prägen und bei einer bilateralen Begegnung bzw. Handlung kommunikationsrelevant wurden und werden.“ 35 Landeswissenschaft wird hier als „handlungstheoretisch fundierte und sich an sprachlichen und textuellen Artikulationen orientierende interkulturelle Kommunikationswissenschaft“ verstanden. 36 Die Entfaltung der Kulturwissenschaften, insbesondere der Interkulturellen Kommunikation wurde durch den linguistic turn in den Sozialwissenschaften gefördert. Die These, daß die Sprache den Schlüssel zum Verständnis der Welt und damit auch der sozialen Realität bilde, machte die Linguistik nun tendenziell zur zentralen Bezugswissenschaft der Landeswissenschaften. 37 Dies stieß auf die heftige Kritik sozialwissenschaftlich orientierter Frankreichforscher. 38 Trotz der grundlegenden wissenschaftstheoretischen und methodologischen Unterschiede von Landes- und Kulturwissenschaften ist eine fruchtbare Zusammenarbeit im Fachzusammenhang der Romanistik aber durchaus denkbar. 39 4. Theorie- und Methodenprobleme in den Landeswissenschaften 4.1 Fremd- und Eigenwahrnehmung Aus der Sicht deutscher Wissenschaftler sind die romanischen Länder fremde Realitäten. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen zwingt daher, sich mit dem Problem des Fremdverstehens auseinanderzusetzen. Zu diesem gehört vor allem der Ethnozentrismus, d.h. die Übertragung eigener kultureller Perzeptions- und Interpretationsmuster auf fremde Realitäten. Jeder Mensch internalisiert im Verlaufe seiner Sozialisation in einem bestimmten kulturellen Kontext die kulturellen Muster, die in diesem dominieren. Infolge des wachsenden Einflusses der atlantischen Weltkultur auf die europäischen National- und Regionalkulturen sowie der intensiven interkulturellen Kommunikation in Westeuropa sind die individuellen Kulturmuster zwar nicht mehr rein nationalbzw. regionalkulturell geprägt. Dies gilt ganz besonders für das geistige Instrumentarium von Wissenschaftlern, die im permanenten Diskussionszusammenhang mit der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft stehen. Trotzdem ist auch dies nicht völlig frei von nationalkulturellen Prägungen. Gerade Begriffe und Kategorien, mit deren Hilfe Wirklichkeit erfaßt bzw. „auf den Begriff gebracht wird“ transportieren trotz ihrer scheinbaren Universalität kulturelle Partikularitäten sowie kognitive und emotionale Konnotationen. Culture ist nicht identisch mit Kultur, esprit nicht mit Geist etc. 40 Was für Begriffe und Kategorien gilt, trifft erst recht auf Symbole, Mythen, Repräsentationen, Sitten, Rituale etc. zu, in denen sich politische und kulturelle Vorstellungen ausdrücken. Ein monument aux morts ist kein Kriegerdenkmal und die passation des pouvoirs im Elyseepalast ist keine Amtsübergabe im Schloß Bellevue. Gerade die Landeswissenschaften 101 müssen sich daher mit den kulturellen Voraussetzungen ihrer Erkenntnisprozesse auseinandersetzen. Das Problem des Ethnozentrismus läßt sich methodisch nicht dadurch lösen, daß man die Wissensbestände, Wissensinterpretationen und Sichtweisen des Objektlandes einfach übernimmt. Da diese ebenfalls nationalkulturell geprägt sind, müssen sie auf ihre kulturellen Gehalte hin untersucht und, falls erforderlich, durch eigene Forschung überprüft und ergänzt werden. Dabei ist der Dialog mit Wissenschaftlern des Objektlandes, im Falle Frankreichs mit Franzosen, unerläßlich. 4.2 Similarität, Alterität und Vergleich Angesichts der manifesten Unterschiedlichkeit westeuropäischer Gesellschaften bei gleichzeitiger Gemeinsamkeit der grundlegenden Strukturen, Entwicklungen und Probleme stellt sich die Frage, ob die nationalen Gesellschaften Westeuropas lediglich Varianten des gleichen gesellschaftlichen Grundtyps sind, nämlich der westlichen, pluralistischen Industriegesellschaft oder aber eigenständige Entitäten, die sich trotz der Angleichung ihrer sozio-ökonomischen Strukturen und kulturellen Muster ihre Individualität behauptet haben und auch in Zukunft behaupten werden. Je nach der Beantwortung dieser Frage gilt es, die Similarität in der Differenz oder die Alterität in der Similarität aufzuzeigen. Die politischen und wissenschaftlichen Implikationen dieser unterschiedlichen Paradigmen liegen auf der Hand. Im Fall der Similarität ist ein Zusammenwachsen westeuropäischer Gesellschaften in der Europäischen Union nicht nur wünschenswert und notwendig, sondern auch möglich. Die Landeswissenschaften sollten sich daher vorrangig auf die grundlegenden Gemeinsamkeiten der Objektländer konzentrieren und die Unterschiede relativieren. Im Fall der Alterität findet dagegen die europäische Integration ihre Grenzen an den Kernbereichen nationaler Individualität. Die Landeswissenschaften sollten sich daher vorrangig mit den Verschiedenartigkeiten nationaler Gesellschaften beschäftigen. Um rational mit beiden Paradigmen umgehen zu können, muß man sich zunächst einmal ihre theoretischen Prämissen und normativen Grundlagen bewußt machen und dann nach Wegen suchen, sie empirisch so weit wie möglich zu überprüfen. Das Similaritätsparadigma beruht auf der Annahme, die industriewirtschaftliche Entwicklung habe zu einer weitgehenden Angleichung der Wirtschafts- und Sozialstrukturen der westeuropäischen Länder, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, geführt. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Gemeinsamkeiten seien weit wichtiger als die weiterhin bestehenden sozio-kulturellen und politisch-institutionellen Unterschiede. Normative Grundlage dieser Annahme ist die Überzeugung von der Zentralität gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse und der Relativität sozio-kultureller sowie politisch-institutioneller Verhältnisse. Das Alteritätsparadigma geht dagegen von der Prämisse aus, es bestünden trotz der Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen nach wie vor qualitative Unterschiede zwischen den westeuropäischen Gesellschaften, insbesondere auf politischem und kulturellem Gebiet. Die Alterität nationaler Gesell- 102 schaften und Kulturen bzw. nationaler Kulturräume wird dabei als das Ergebnis der spezifischen nationalen Geschichte eines jeden Landes begriffen, also als historisch geworden und nicht als essentialistisch gegeben. Das Alteritätsparadigma impliziert somit nicht die Annahme, nationale Unterschiede seien von ontologischer Qualität, wohl aber die Hypothese, sie reproduzierten sich bei entsprechenden historischen Bedingungen. Normative Grundlage des Alteritätsparadigmas bildet die positive Bewertung kultureller Vielfalt und die grundsätzliche Bejahung der Nationen. Unter Kultur werden dabei nicht nur die kreativen und künstlerischen Artefakte sowie Kommunikationsformen und Verhaltensweisen, sondern auch die Rechtssysteme, Verwaltungsstrukturen, staatlichen Institutionen etc. verstanden, die kulturell geprägt sind und ihrerseits die Gesellschaft prägen. Methodisch hilfreich bei der Beschäftigung mit dem Problem von Similarität und Alterität ist der Vergleich. 41 So zeigen z.B. historisch-sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Entwicklung Frankreichs und Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert sowohl die Ungleichzeitigkeiten und Unterschiede als auch die Konvergenzen und Gemeinsamkeiten beider Länder. 42 Allerdings ist der deutsch-französische Vergleich nicht in allen Fällen möglich, da es nationale Ereignisse bzw. Entwicklungen gibt, die länderspezifisch sind, so z.B. die französische Décolonisation oder die deutsche Wiedervereinigung. In diesem Fall sind multilaterale Vergleiche notwendig. 5. Praxis an der Universität Kassel Die Landeswissenschaften wurden Ende der siebziger Jahre an der damaligen Gesamthochschule Kassel unter der Bezeichnung Civilisation française in die Franko- Romanistik und unter der Bezeichnung British/ American Studies in die Anglistik integriert und mit eigenen Professuren ausgestattet. Ergänzt wurden sie durch die Europawissenschaften, die sich mit der europäischen Integration und ihren historischen Voraussetzungen beschäftigten. Die Landeswissenschaften bildeten ebenfalls einen integralen Bestandteil der Hispanistik und der Italianistik, waren in diesen allerdings nicht durch eigene Professuren vertreten. Ihre Betreuung übernahm daher in der Hispanistik der Frankreichwissenschaftler und in der Italianistik der Europawissenschaftler. Dadurch wurde es möglich, die Landeswissenschaften in den wichtigsten romanischen Nationalphilologien zu studieren. Da die Romanistik einen gemeinsamen Fachbereich mit der Anglistik bildete, bestanden auch günstige organisatorische Voraussetzungen für den Vergleich romanischer und angelsächsischer Länder und eine Verzahnung des westeuropäischen Ländervergleichs mit dem Studium der Europäischen Integration. Das Studienangebot der Anglistik und Romanistik bestand aus Lehramts- und Magisterstudiengängen sowie aus einem Diplomstudiengang. Dieser kombinierte sprachliche und nichtsprachliche Fächer (Wirtschaftswissenschaften), um seine Absolventen wissenschaftlich auf außerschulische Tätigkeitsfelder in transnationa- 103 len Bezügen vorzubereiten. Er unterschied sich von Magisterstudiengängen durch seine Fächerkombination, seine länderspezifische und berufspraktische Ausrichtung sowie seine Organisationsstruktur. Er gliederte sich in ein viersemestriges Grund- und ein viersemestriges Hauptstudium und wurde mit dem Diplom abgeschlossen. Je nach Hauptfach werden die Grade „Diplom-Anglist“ oder „Diplom- Romanist“ verliehen. 43 Für die einzelnen Studiengänge bestand jedoch kein gesondertes Lehrangebot. Es war daher nicht möglich, in den Landeswissenschaften auf die spezifischen Bedürfnisse der Studierenden der einzelnen Studiengänge einzugehen, wie dies die Fachdidaktik in den Lehramtsstudiengängen konnte. Daraus ergaben sich erhebliche didaktische Probleme. Im Herbst 1981 wurde ich an die GH Kassel auf die Professur für Civilisation française berufen und erhielt so Gelegenheit, die in den siebziger Jahren entwickelten landeswissenschaftlichen Konzepte in der Praxis anzuwenden. Ich hatte Geschichte, Politologie, Soziologie und Romanistik studiert, unter der Anleitung von René Rémond und Alfred Grosser am Institut d’Etudes Politiques von Paris eine Arbeit über die französische Rechte in den dreißiger Jahren geschrieben, anschließend bei Gilbert Ziebura am Institut für Politik in Berlin über die innergesellschaftlichen Antriebskräfte der französische Außenpolitik gearbeitet und als Assistenzprofessor für Regionalstudien am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität gelehrt. In den siebziger Jahren hatte ich mich an der Landeskundediskussion innerhalb des DFI Ludwigsburg und des DRV beteiligt und landeskundliche Lehrveranstaltungen an der PH und der FU Berlin abgehalten. Von Alfred Grosser hatte ich das Konzept des „Mittlers“ übernommen, von Gilbert Ziebura den sozialwissenschaftlichen Ansatz der Frankreichforschung. 44 Lehre An der Universität Kassel bildeten die Landeswissenschaften einen integralen Bestandteil der Romanistik. Sie waren daher mit den Philologien nicht nur organisatorisch durch eine gemeinsame Studien- und Prüfungsordnung verbunden, sondern diesen in jeder Hinsicht gleichgestellt. Ich konnte daher mein Lehrangebot frei gestalten und die Studierenden konnten die Landeswissenschaften im Hauptstudium zu ihrem Studienschwerpunkte machen, ein landeswissenschaftliches Thema für ihre Abschlußarbeit wählen und sich in Landeswissenschaften prüfen lassen. Von dieser Möglichkeit machten sie regen Gebrauch. Entsprechend dem landeswissenschaftlichen Grundkonsens der achtziger Jahre beschäftigte ich mich in der Lehre mit den grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten der französischen Politik sowie der deutsch-französischen Beziehungen. Im Zentrum standen das politische System einschließlich der politischen Kultur sowie gesellschaftliche Konflikte, soziale Bewegungen, politische Parteien, nationale Selbstverständigungsprozesse, Immigration und Integration. Als unerläßliche Voraussetzung dafür betrachtete ich die Vermittlung eines histori- 104 schen Grundwissens sowie einer sozialwissenschaftlichen Methodenkompetenz. Die Studierenden sollten erkennen, daß die gegenwärtigen Verhältnisse Frankreichs nicht essentialistisch gegeben, sondern historische entstanden waren, und sie sollten befähigt werden, politische und soziale Probleme selbständig zu analysieren. Aufgrund der Verankerung der Landeswissenschaften in der Romanistik bemühte ich mich ebenfalls um die Kooperation mit den Literatur- und Sprachwissenschaftlern. Für die Vermittlung des historischen Grundwissens sowie der sozialwissenschaftlichen Methodenkompetenz standen die obligatorischen „Orientierungskurse“ und die Pro-Seminare des Grundstudiums zur Verfügung. Die „Orientierungskurse“ sollten länderspezifisch in Fragestellungen, Problemfelder und Methoden der Landeswissenschaften einführen. Ausgehend von sozialwissenschaftlichen Fragestellungen behandelte ich in großen Längsschnitten die Entstehungsgeschichte aktueller politischer und sozialer Probleme wie z.B. das Spannungsverhältnis von Sozialstaat und Marktwirtschaft bzw. von Arbeit-Kapital, Zentrum-Peripherie, Autoritarismus-Parlamentarismus, Universalismus-Nationalismus, Militarismus-Pazifismus, Kolonialismus-Republikanismus, Elitismus-Egalitarismus, Laizismus-Klerikalismus, Staat-Religion, etc. Dadurch sollten die Studierenden erkennen, daß diese Probleme das Ergebnis spezifischer historischer Entwicklungen waren, die auch zu ganz anderen Ergebnissen hätten führen können. Für viele war diese Sichtweise neu, gingen sie doch in ihrer Frankreichperzeption völlig unhistorisch von den gegenwärtigen Erscheinungsformen aus und projizierten diese auf die Vergangenheit. Da sie dies ebenfalls bei ihrer Deutschlandperzeption taten und mit der deutschen Geschichte nur wenig vertraut waren, mußte ich auf den ursprünglich geplanten deutsch-französischen Vergleich häufig verzichten. Ein Teil der Studienanfänger hatte erhebliche Probleme mit dem historisch-sozialwissenschaftlichen Zugang. Sie hatten in der Schule meistens Geschichte vor dem Abitur abgewählt und sich kaum mit politischen oder gesellschaftlichen Problemen Frankreichs beschäftigt. Wohl aber interessierten sie sich allgemein für Frankreich und kannten dies häufig auch aus eigener Erfahrung. Als Alternative zum historisch-sozialwissenschaftlichen Orientierungskurs bot ich daher eine Veranstaltung über die deutsche Frankreichperzeption in Reise- und Erlebnisbüchern an. Die Studienanfänger konnten so verschiedene Frankreichbilder miteinander vergleichen und dabei ihre eigenen Vorstellungen und Erfahrungen einbringen. Die den verschiedenen Frankreichbildern zugrundeliegenden Wahrnehmungsmuster nötigten sie, sich mit der Problematik von Fiktionalität und Realität, von Essayistik und Wissenschaft, von geisteswissenschaftlicher Deutung und sozialwissenschaftlicher Forschung auseinanderzusetzen. Da dies ohne Methodenkenntnisse nicht möglich war, gelang es mir, sie auf diese Weise in Fragestellungen und Methoden der Landeswissenschaften einzuführen. Im Anschluß an die Einführungsveranstaltungen ermöglichten die Proseminare eine Beschäftigung mit einzelnen Problemfeldern. Die Studierenden sollten so die 105 Ursachen der Konfliktualität der französischen Politik erkennen. Ähnlich wie in den Orientierungskursen wirkten sich hier die fehlenden Vorkenntnisse und die unscharfe Begrifflichkeit hemmend auf die Lernprozesse aus. Es war daher immer wieder notwendig, schulische Versäumnisse nachzuholen und die Begriffe zu präzisieren. Dies galt ganz besonders für Begriffe, die im Deutschen und Französischen unterschiedliche Bedeutungen besitzen oder unterschiedliche Emotionen auslösen. Dies führte stets zur Auseinandersetzung mit dem sprachlichen, begrifflichen und kulturellen Referenzsystem der politischen Systeme Deutschlands und Frankreichs. Anscheinend war dies nie im schulischen Fremdsprachenunterricht geschehen. Im Hauptstudium war dann die Konzentration auf einige zentralen Themenfelder der französischen Politik sowie der deutsch-französischen Beziehungen möglich. Aber auch hier durfte ich die Meßlatte nicht zu hoch ansetzen. Die Studienordnung erlaubte zwar die Schwerpunktbildung in den Landeswissenschaften, aber für eine vertiefte sozialwissenschaftliche Analyse der französischen Politik unter Berücksichtigung ihrer sprachlich-kulturellen Aspekte fehlte bei den meisten Studierenden das unerläßliche Vorwissen und die Methodenkompetenz. Diese Defizite ließen sich nur teilweise ausgleichen. Trotzdem sind gute Seminar- und Abschlußarbeiten entstanden. Die landeswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen waren stets gut besucht, landeswissenschaftliche Themen wurden häufig für Abschlußarbeiten gewählt. Die Landeswissenschaften zählten neben der Linguistik zu den beliebtesten Prüfungsfächern. Dies war besonders im Diplomstudiengang der Fall. Kooperation mit der Literatur- und der Sprachwissenschaft Die Kooperation mit den Literatur- und Sprachwissenschaftlern erwies sich infolge des unterschiedlichen Selbstverständnisses der einzelnen Disziplinen als schwierig. Inhaltliche Gespräche mit ihnen ergaben sich meistens nur in Anschluß an gemeinsame Prüfungen. Diesen verdanke ich wertvolle Anregungen und Erkenntnisse. Für eine Vertiefung der Themen fehlte jedoch die Zeit. Ein systematischer Meinungsaustausch fand nicht statt. Die Landeswissenschaften wurden akzeptiert, stießen aber bei einigen Kollegen, insbesondere den Literaturwissenschaftlern, deutlich auf innere Vorbehalte. Allerdings beeinträchtigte dies nicht die kollegiale Zusammenarbeit in organisatorischen Fragen, bei Prüfungen, Betreuung von Abschlußarbeiten etc. Trotz der wissenschaftstheoretischen Unterschiede veranstalteten wir gemeinsame Seminare zu europäischen Kulturbewegungen wie der Aufklärung und der Romantik. Kooperation mit den Historikern Schwierig gestaltete sich ebenfalls die Kooperation mit den Stelleninhabern für British/ American Studies und für Europawissenschaften. Beide waren Historiker, die neo-positivistische Ansätze vertraten und das Konzept der Landeswissenschaften 106 ablehnten. Trotzdem veranstalteten wir gemeinsam vergleichende Seminare zu zeitgeschichtlichen und politischen Themen, so zum Faschismus bzw. Frankismus in Italien, Frankreich und Spanien oder zur Immigration in Westeuropa. Das Interesse der Studierenden an diesen länderübergreifenden Seminanen war allerdings gering. Sie interessierten sich jeweils nur für ihr Zielsprachenland, nicht jedoch für den Ländervergleich. Dabei erlaubte gerade dieser eine Auseinandersetzung mit zentralen landeswissenschaftlichen Fragestellungen wie der von Similarität und Alterität, von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit sozio-ökonomischer und politischer Entwicklungen sowie des Einflusses kultureller Faktoren - Geschichtsbilder, Erinnerungen, Selbstverständnisse etc. - auf die Politik. Abwicklung Nach meinem Ausscheiden aus der Universität Kassel im Frühjahr 2001 wurde die Professur für romanistische Landeswissenschaften abgeschafft, ihre Aufgaben auf die neugeschaffene Professur für westeuropäische Geschichte im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften übertragen. Diese Entscheidung traf die Universitätsleitung allein. Die Betroffenen wurden nicht gefragt. Eine wissenschaftstheoretische oder hochschulpolitische Diskussion fand nicht statt. Die Gründe dafür waren sowohl hochschulpolitischer als auch fachlicher Natur. Die Gesamthochschule Kassel war 1972 als Reformuniversität gegründet worden, um neue Wege in Lehre und Forschung zu beschreiten. Eines ihrer grundlegenden Prinzipien bildete die Interdisziplinarität. Diese wurde Anfang des neuen Jahrtausends im Zuge einer internen Reorganisation wieder abgeschafft. Alle landeswissenschaftlichen Professuren, auch die für British/ American Studies und Europawissenschaften wurden aus den Philologien ausgegliedert, die Anglistik und die Romanistik mit der Germanistik zu einem rein philologischen Fachbereich vereint. Das traditionelle Fachprinzip hatte sich nun auch in Kassel durchgesetzt. Das Reformexperiment war beendet. Meine Bemühungen, die Landeswissenschaften innerhalb der Romanistik zu erhalten, waren erfolglos. Sie wurden weder innerhalb des Fachbereiches noch im Romanisten-Verband unterstützt. Auch hochschulpolitische Initiativen scheiterten. Ich hatte mich 1997 an der Gründung des Franko-Romanisten-Verbandes in Münster beteiligt, mich in seinen Vorstand wählen lassen und noch einmal landeswissenschaftliche Sektionen auf seinen Kongressen in Jena (1998) und Mainz (2000) organisiert. Das Echo war gering, die Reformallianz der siebziger Jahre zwischen Pädagogen, Politologen und Philologen ließ sich nicht erneuern. Damit war das Projekt der Landeswissenschaften trotz erfolgreicher Praxis nach zwanzig Jahren gescheitert. 1 Cf. u.a. P. Hinrichs/ I. Kolboom, Ein gigantischer Trödelladen? Zur Herausbildung der Landes- und Frankreichkunde in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: M. Nerlich 107 (ed.), Kritik der Frankreichforschung 1871-1975. Karlsruhe 1977 (Argumente-Sonderband 13), 82-95 sowie Gerhard Bott, Deutsche Frankreichkunde 1900-1933. Das Selbstverständnis der Romanistik und ihr bildungspolitischer Auftrag. Rheinfelden 1982, 2 Bde. 2 Die Bezeichnung der Landeskunde als ‘gigantischen Trödelladen’ stammt von E. Fueter, Was ist Auslandsforschung? in: Hesperia, 1 (1948-1949), 3-13, hier . 6. 3 Cf. Empfehlung der Kommission Landeskunde der Konferenz der Romanischen Seminare zur inhaltlichen, curricularen und organisatorischen Neubestimmung der Landeskunde in den romanistischen Studiengängen vom Oktober 1974, in: Ingo Kolboom/ Thomas Kotschi/ Edward Reichel (eds.), Handbuch Französisch (Sprache Literatur Kultur Gesellschaft), 2. Aufl., Berlin 2008, 407-409. 4 Zu ihnen gehörten vor allem Hans Manfred Bock, ehemaliger Mitarbeiter von Pierre Bertaux am Institut d’Allemand d’Asnières und Robert Picht, ehemaliger Mitarbeiter der Pariser Zweigstelle des DAAD. 5 Cf. Hélène Miard-Delacroix/ Jérôme Vaillant: Civilisation allemande. Zur wissenschaftlichen Verortung einer Fachrichtung, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Intercultural German Studies 32 (2006), 85-100. 6 Cf. Hans Manfred Bock: Zur Neudefinition landeskundlichen Erkenntnis-Interesses, in: Robert Picht u.a. (eds.): Perspektiven der Frankreichkunde. Ansätze zu einer interdisziplinär orientierten Romanistik, Niemeyer, Tübingen, 1974, 13-22. 7 So im programmatischen Titel der Akten der Sektion Landeskunde des Romanistentages 1981. Cf. Roland Höhne/ Ingo Kolboom (eds.), Von der Landeskunde zur Landeswissenschaft. Beiträge zum Romanistentag 1981, Rheinfelden 1982. 8 So definierte Roland Höhne nach seiner Berufung auf die Professur für Civilisation française an die Gesamthochschule Kassel im Jahre 1981 sein Fachgebiet als „romanistische Landeswissenschaften.“ 9 Cf. Resolution zur Frankreichkunde der Vereinigung der Französischlehrer auf ihrem Kongreß in Tübingen 1974, in: Ingo Kolboom u.a.: Handbuch Französisch, op. cit., 409. Gisela Baumgratz u.a. (eds.): Stuttgarter Thesen zur Rolle der Landeskunde im Französischunterricht, in: Robert Bosch Stiftung/ Deutsch-Französisches Institut (eds.): Fremdsprachenunterricht und Internationale Beziehungen. Gerlingen 1982, 8-9. 10 Cf. Dieter Buttjes, Landeskunde im Fremdsprachenunterricht: Zwischenbilanz und Arbeitsansätze, in: Neusprachliche Mitteilungen 35. Jahrgang, 1, 3-16. 11 So der Literaturwissenschaftler Fritz Nies (Düsseldorf) in seinem Festvortrag auf dem Kongreß des Franko-Romanisten-Verbandes in Halle am 9.10.2006. 12 Diese wurde allerdings 1981 wieder ersatzlos gestrichen. 13 Cf. Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik, 17, 9. Jahrgang 2002. 14 Cf. Robert Picht: Frankreichkunde an der Humboldt-Universität oder die Selbstisolierung der Romanistik, in: Dokumente, Heft 4, 49. Jg., August 1993, 305-309; Roland Höhne: Die vertane Chance - Romanistik in den Neuen Bundesländern ohne Landeswissenschaften, in: Lendemains 71/ 72, 1993, 154-156. 15 Cf. Robert Picht/ Gisela Baumgratz (eds.), Perspektiven der Frankreichkunde, 2 Bde, Niemeyer, Tübingen 1974 u. 1978, insbesondere die Beiträge von H.M. Bock und Michael Nerlich in Bd. I, 13-22 bzw. 23-40. 16 Cf. Hans Manfred Bock: Von der geisteswissenschaftlichen Frankreichdeutung zur sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung, in: Joachim Schild (ed.), Länderforschung, Ländervergleich und Europäische Integration, Neue Ludwigsburger Beiträge 1, Deutsch- Französisches Institut Ludwigsburg1991, 50-61. 108 17 Cf. Wilma Melde, Zur Integration von Landeskunde und Kommunikation im Fremdsprachenunterricht, Tübingen 1987. 18 Cf. H. M. Bock, Neudefinition des landeskundlichen Interesses, op. cit. 13-22. 19 Hans Manfred Bock, Landeskunde und sozialwissenschaftlicher Ländervergleich, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 1980, 151-160. 20 Cf. H. M. Bock, Von der geisteswissenschaftlichen Frankreichdeutung zur sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung, op. cit., 53. 21 Cf. G. Baumgratz/ R. Picht, Postulate zur Überwindung des Dilettantismus in der Landeskunde, in: dies. Perspektiven der Frankreichkunde, op. cit. Bd. 2, 259f. 22 Cf. R. Picht, Interessen und Vergleich: Zur Sozialpsychologie des Deutschlandbildes, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 1980, 120-132. Ders., Kulturelle Beziehungen als Voraussetzung deutsch-französischer Kommunikation, in: R. Picht (ed.), Deutschland, Frankreich, Europa, München 1978, 243-267. Ders., Die Fremdheit der Partner: genügen die kulturellen Beziehungen? , in: R. Picht (ed.), Das Bündnis im Bündnis, Berlin 1982, 193-219. 23 Cf. R. Picht, Frankreichstudien als interdisziplinäres Organisationsproblem, in: G. Baumgratz/ R. Picht, Perspektiven, op. cit., Bd. 1, 83-90. 24 Cf. Roland Höhne/ Thomas Arnold, Konzept eines alternativen Diplomstudienganges Romanistik, in: Herbert Christ (ed.), Romanistik. Arbeitsfelder und berufsbezogene Praxis, Tübingen 1986, 105-127. 25 Cf. H. M. Bock/ M. Raupach, Der Diplomstudiengang „Berufsbezogene Fremdsprachenausbildung Anglistik/ Romanistik an der Gesamthochschule Kassel, in: DRV-Mitteilungen, 3 (1988), 30-34. 26 Cf. Robert Picht, Die „Kulturmauer“ durchbrechen. Kulturelle Dimensionen politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit in Europa, in: Europa-Archiv 10/ 42, 279-286. 27 Cf. Günther Ammon, Kultur, Identität, Kommunikation, München 1988. 28 Cf. H. Thoma/ W. Asholt, Wozu ‘Landeskunde’ - Rolle und gegenwärtige Situation der Landeswissenschaft in der Romanistik , in: W. Asholt, H. Thoma (eds.), Frankreich. Ein unverstandener Nachbar (1945-1990), Bonn 1990, 17-43, hier 40-42. 29 Cf. Dorothee Röseberg, Integrative und kulturwissenschaftliche Landeskunde in der Romanistik. Theoretische, methodische und Unterrichtskonzepte, in: Quo Vadis Romania? , 6/ 1995, 8-24. 30 Cf. Joachim Schild (ed.), Länderforschung, op. cit. 31 Cf. Hans Manfred Bock, Neue Unübersichtlichkeit und Perspektiven der Frankreichforschung, in: Lendemais, 71/ 72 (1993), 125-136. 32 Cf. Hans-Jürgen Lüsebrink/ Dorothee Röseberg (eds.), Landeskunde und Kulturwissenschaft in der Romanistik, Tübingen 1995. 33 Cf. Heinz Thoma, Zur Gegenstandskonstitution der „interkulturellen Kommunikation“, in: W. Asholt/ H. Thoma (eds.): Frankreich, op. cit., 9-16. 34 Ib. 13. 35 Ib. 14. 36 Ib. 15. 37 Cf. die Zusammenfassung bei Fritz Schütze, Die Rolle der Sprache in der soziologischen Forschung, in: U. Ammon, N. Dittmar, K. Mattheier (eds.), Soziolinguistik: Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, Bd. I, Berlin 1987, S. 413-431. 38 Cf. H. M. Bock, Neue Impulse für die sozialwissenschaftliche Frankreichforschung? in: Lendemais, 51 (1988), S. 155-159. 109 39 Cf. Ingo Kolboom, Land versus Kultur? Zehn Thesen zu einer unfruchtbaren Kontroverse, in: Grenzgänge 6 (1996), 53-63. 40 Vgl. Jacques Leenhardt/ Robert Picht (eds.), Esprit/ Geist. Hundert Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, München 1989. Ferner Robert Picht/ Vincent Hoffmann-Martinot/ René Lasserre/ Peter Theiner (eds.): Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert. München 1997. 41 Cf. Albert Broder (ed.), Industrialisation et société en Europe occidentale: France, Allemagne, Royaume-Uni, Italie, Benelux (1880-1970), Paris 2000. Ferner Hartmut Kaelble/ Jürgen Schriewer (eds.), Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaften. 2. Aufl. Frankfurt/ Main 1999. 42 Cf. besonders Hartmut Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880. München 1991. 43 Cf. Roland Höhne, Der Kasseler Diplomstudiengang Anglistik/ Romanistik. Konzeption und Perspektiven, in: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik, 9 (2002), Heft 17, 38-45 44 Cf. Hartmut Elsenhans/ Gerd Junne/ Gerhard Kiersch/ Birgit Pollman (eds.): Frankreich, Europa, Weltpolitik. Festschrift für Gilbert Ziebura zum 65. Geburtstag, Opladen 1983. Hans Manfred Bock: Zur Konstituierung der sozialwissenschaftlichen Frankeichforschung in Deutschland. Anmerkungen aus Anlaß der Festschrift zu Gilbert Zieburas 65. Geburtstag, in: Frankreich-Jahrbuch 1990, Opladen 1990, S. 223ff. Zur wissenschaftlichen Entwicklung Zieburas cf. Adolf Kimmel, Gilbert Ziebura: seine Bedeutung für die deutsche sozialwissenschaftliche Frankreichforschung und seine Rolle in den zivilgesellschaftlichen deutsch-französischen Beziehungen, in: Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock (Intervalle 8), Kassel 2005, 461-479.