eJournals lendemains 34/133

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Narr Verlag Tübingen
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2009
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Der Dichter und Schriftsteller Georg Schneider als Valéry-Übersetzer

2009
Frank-Rutger Hausmann
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85 Frank-Rutger Hausmann Der Dichter und Schriftsteller Georg Schneider als Valéry-Übersetzer Depuis bien des années j’avais laissé l’art des vers: essayant de m’y astreindre encore, j’ai fait cet exercice que je te dédie. [Für Michael Nerlich zum 11. März 2009] 1 Ingeborg Schuldt, die Frau des Münchner Schriftstellers Georg Britting, hat in ihren Erinnerungen aus den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem Titel „Sankt-Anna-Platz 10“ 2 dem aus Coburg stammenden Dichter, Essayisten und Übersetzer Georg Schneider (1902-1972) einen Ehrenplatz unter den Freunden ihres Mannes eingeräumt: „Er konnte schreiben, worüber er wollte, die Feuilletons der Zeitungen druckten ihn - auch in der Schweiz“ (221). 3 Dort zählte er Erwin Jaeckle, Max Rychner und Emil Staiger zu seinen engen Freunden. Schneider gehörte zu den regelmäßigen Gästen der auch von Britting allabendlich frequentierten Schwabinger Gaststätte „Leopold“. Hier präsidierte er einem Stammtisch, zu dem außer Britting noch Georg von der Vring, Friedrich Schnack und andere Münchner Dichter, Schriftsteller und Künstler gehörten. Von Hause aus Lehrer, hatte sich Schneider, als er zum FDP-Abgeordneten des ersten Bayerischen Nachkriegs-Landtags gewählt wurde, nach München versetzen lassen und die Leitung einer Volksschule in Schwabing übernommen. Diese Tätigkeit ließ ihm genügend Freizeit für eigene literarische Arbeiten. Er trat als Lyriker hervor, glänzte aber auch als Übersetzer aus dem Französischen und Englischen und wagte sich sogar an chinesische Lyrik heran. 4 Als Soldat der großdeutschen Wehrmacht war er in den letzten Kriegsjahren in der Provence stationiert gewesen und hatte sich als Wachtposten die Zeit mit Übersetzen vertrieben. Ihm schwebte bereits seit geraumer Zeit die Herausgabe einer umfangreichen Anthologie deutscher Übertragungen französischer Lyrik vor, die vor allem den großen Symbolisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewidmet sein sollte. Dies war zu diesem Zeitpunkt ein kühnes Unterfangen, denn gerade die Symbolisten galten den Nazis als dekadente und unmoralische „poètes maudits“. Der damals noch in Rostock lehrende Romanist Fritz Schalk wurde beispielsweise im Anschluß an ein Seminar über französische Symbolisten von einem Funktionär des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes beim Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin denunziert. In einem persönlichen Brief an Minister Bernhard Rust verteidigte er sich vehement, 86 er habe keinesfalls „liebevoll über Dekadenz“ gesprochen, sondern nur die poetischen und sprachlichen Probleme angesprochen und auf die Verwandtschaft der Franzosen mit der deutschen Romantik (E. Th. A. Hoffmann) und der Musik Richard Wagners hingewiesen. 5 Derartige Vorbehalte fochten Schneider nicht an. Er war gegen die offizielle Nazi-Ideologie immun, derzufolge die französische Kultur endlich von der deutschen lernen sollte, nicht umgekehrt. Bereits in „Mein Kampf“ hatte Hitler gegen die „süßlichen Lobeshymnen“ mancher Deutscher auf die „große Kulturnation“ Frankreich gewettert und dem „erbärmlichen Französeln“ eine wütende Absage erteilt. 6 Noch schlimmer tobte sein Chefideologe Alfred Rosenberg gegen die französische Kultur, konzentrierte sich allerdings auf die impressionistische Malerei, der er ihre mangelnde Gegenständlichkeit ankreidete. Sie sei „ursprünglich von starken Malertalenten getragen“, dann aber zum Schlachtruf „des allzerstörenden Intellektualismus geworden“. Die atomistische Weltbetrachtung habe auch die Farbe atomisiert. 7 Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels, um eine dritte antifranzösische Stimme aus der NS-Führungsetage zu hören, war nach dem deutschen Sieg über Frankreich der Überzeugung, daß die „makabre genußsüchtige Nation“ der Franzosen „nichts mehr wert“ und „Nennenswertes an positiven Leistungen für den Neubau Europas“ von ihr kaum noch zu erwarten sei. Vor allem sei es notwendig, den Krieg gegen Frankreich zu einem geschichtlichen Ergebnis zu führen. „Wir müssen deshalb die militärische und politische Macht Frankreichs endgültig vom zukünftigen Kräftespiel ausschalten“. Und weiter: „Wenn die Franzosen wüßten, was der Führer einmal von ihnen verlangen wird, so würden ihnen wahrscheinlich die Augen übergehen. Es ist deshalb gut, daß man vorläufig mit diesen Dingen hinter dem Berge hält und aus dem Attentismus der Franzosen so viel herauszuholen versucht als überhaupt herausgeholt werden kann“. Das Gerede von Kollaboration sei nur für den Augenblick gedacht. 8 Schneider, zunächst Lehrer in seiner Heimatstadt Coburg, hatte 1925 mit dem Gedichtband Die Barke debütiert. Die Nazis verhängten 1933 ein Publikationsverbot gegen ihn, 9 doch wurde dieses eigenartigerweise nicht konsequent befolgt. Im Jahr 1937 konnte er deshalb eine mehr regionalistisch als völkisch angehauchte Anthologie Franken - Hochklang einer Landschaft herausbringen. 10 Gestützt auf Joseph Nadlers monumentale Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften wird der Begriff „Franken“ darin sehr weit gefaßt, so daß neben den eigentlichen Franken zahlreiche Autoren aufgenommen werden können, die man sonst eher als Alemannen, Rheinländer, Hessen oder Oberpfälzer einstufen würde. 11 Schneider war nicht entgangen, daß für Nadler die Franken zwar das „Volk der deutschen Dichtung“ schlechthin waren, aber Nadler sah auch eine deutsch-französische Gemeinsamkeit: „Sie sind die Pforte, durch die in spätern Jahrhunderten französisches und deutsches Wesen, sich durchdringend, läuternd oft und weniger selten in trüber Lösung, zusammenflutete“ (ebd., 7). So groß waren die Unterschiede zwischen den beiden Völkern also nicht! 87 Aus eben dieser Zeit stammt vermutlich auch der bereits erwähnte Plan Schneiders zu einer Anthologie von Lyrikübertragungen aus dem Französischen, von denen die eigenen erst nach dem Krieg in stark reduzierter Form erschienen sind. 12 Schneider hatte zuvor einige seiner Übersetzungen französischer Lyrik in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht, 13 anderes Freunden und Interessenten handschriftlich zur Beurteilung zukommen lassen. 14 Diese lobten seine Arbeit und ermunterten ihn zum Weitermachen. Bemerkenswert ist das Urteil des Verlaine- Spezialisten Gerhart Haug, 15 der, wie viele seiner Generation, gegen Rilkes Dichten, vor allem das der letzten Lebensjahre, einen gewissen Widerwillen verspürte und Schneider darum positiv bewertete. Haug war jedoch nicht kritiklos: „Selbstverständlich mischt sich auch bei Ihnen vieles Persönliches mit in die Nachdichtung. Die Strenge des französischen Ausdruckes, die Gesammeltheit, wird von Ihnen umempfunden und vielleicht etwas prächtiger wiedergegeben als sie im Original ist. Aber das macht nichts, sondern es ist eben Ihre Art, die auf Valéry so anspricht“ (21. November 1945). 16 Im Kontakt mit den Dichter-Freunden erweiterte Schneider sein Projekt, so daß die Anthologie nicht nur eigene Übertragungen enthalten sollte, sondern auch solche ihm bekannter Dichterfreunde wie Helmut Bartuschek, Gerhart Haug, Wolf von Niebelschütz, Kurt Reidemeister, Franz von Rexroth und anderer. Auch sie waren damals in Frankreich stationiert. Als Schneider sie brieflich über seine Pläne informierte, erfuhr er zu seiner Überraschung, daß sie, unabhängig voneinander, an eigenen französischen Übersetzungsanthologien arbeiteten. Die offizielle NS-Propaganda, die, wie wir sahen, die französische Kultur als minderwertig und verbraucht denunzierte, hatte bei diesen jungen Dichtern nicht verfangen. Da sie den Krieg aus schmerzlichem Erleben kannten, waren sie es leid, ihn und seine Führer zu verherrlichen. Sie suchten statt dessen ihre Vorbilder in der französischen Literatur. Keiner von ihnen hatte sich folglich an der „Tornisterschrift des Oberkommandos der Wehrmacht. (Abteilung Inland.) Zum Geburtstag des Führers 1941“ mit dem Untertitel Worte Deutscher Dichter beteiligt. 17 Darin hatten über sechzig dem Regime zumeist nahestehende Dichter, von denen viele noch heute bekannt und anerkannt sind, Hitler gefeiert. Agnes Miegel erfüllte „übermächtig demütiger Dank, daß ich dieses erlebe, Dir noch dienen kann, dienend den Deutschen mit der Gabe, die Gott mir verlieh“. 18 Josef Weinheber schwärmte von „Deutschlands Genius, Deutschlands Herz und Haupt“, 19 Heinrich Zillich pries Hitler als „Den Deutschen von Gott gesandt, lange verkannter einsamer Mann“. 20 Aber vielleicht war auch keiner von Schneiders Freunden - zu seinem Glück - gefragt und dadurch in Versuchung geführt worden, mitzudichten. Schneider war besonders von Paul Valérys Lyrik fasziniert, die dem deutschsprachigen Publikum bis dahin vornehmlich in der Übersetzung Rainer Maria Rilkes zugänglich war, der sich aber im wesentlich auf die Sammlung Charmes beschränkt hatte. 21 Valéry sah übrigens in Rilke den Nur-Übersetzer, nicht den eigenständigen Dichter, dessen Werke ihm mangels deutscher Sprachkenntnisse verschlossen blieben. Dennoch wäre es Schneider nicht in den Sinn gekommen, 88 mit Rilke zu rivalisieren. Seine eigenen Gedichte über die Natur im Wechsel der Jahreszeiten oder die verschiedenen Phasen des menschlichen Lebens wirken mehr durch ihre feierliche Sprache als ihre gedankliche Originalität. Valéry stammte aus Sète an der Mittelmeerküste zwischen Montpellier und Béziers. Der vom Pétain-Régime Geächtete und als Leiter der internationalen Begegnungsstätte „Centre méditerranéen“ in Nizza Abgesetzte wohnte zwar in Paris, machte aber immer wieder Abstecher ans heimatliche Mittelmeer. Schneider hat ihn entweder dort oder in Paris aufgesucht, Genaueres ließ sich nicht feststellen. Leider ist auch der Briefwechsel zwischen beiden bis auf einen Brief verloren. 22 Darin geht es um Schneiders Plan, Valérys berühmtestes und bis dahin noch nicht ins Deutsche übersetztes Gedicht La jeune Parque zu übertragen, das später (1960) in Paul Celan einen kongenialen Übersetzer fand. Inzwischen liegt auch die Übersetzung des Schweizer Cellisten und Übersetzers Rolf Looser vor, die man der Celans getrost an die Seite stellen kann. 23 Valéry schrieb an Schneider: „En ce qui concerne la Jeune Parque et l’Abeille, 24 je serai heureux de vous les voir traduire en allemand. Ce sont des textes difficiles, la Jeune Parque en particulier, dont on 25 a dit que c’était le poème le plus obscur de la langue française. Si vous aviez besoin de quelque éclaircissement, vous n’aurez qu’à me les demander par lettre. Je vous autorise donc bien volontiers à faire ce travail et vous serai obligé quand il paraîtra en librairie, de vouloir bien m’adresser deux exemplaires“. Über den Sinn von Die junge Parze ist bereits mehrfach diskutiert worden. 26 Das lyrische Subjekt ist ein junges Mädchen, welches sich durch den Biß einer Schlange seiner Weiblichkeit und zugleich seiner Sterblichkeit bewußt wird. Dies waren sicherlich keine Themen, die zu dem damaligen deutschen Zeitgeist paßten. Umso höher ist Schneiders Absicht zu bewerten, Valérys Ruhm in Deutschland weiter zu verbreiten. Er machte sich sofort an die Arbeit. „Es ist die Dunkelheit, die leuchtende Schwere des schwarzen Diamanten, die Dunkelheit der schöpferischen Nacht, die Sternennacht des menschlichen Geistes. Einzig hier strahlt der Geist beirrend und rein“ (KfA, 21). Schneider versuchte, die von Valéry benutzten Metaphern, den Klang der Wörter, ihren Sinn und ihre Gestalt, in die eigene Sprache herüberzuholen. „Die Verse sollten sichtbar werden oder einprägsam dem Ohr wie das Rauschen und der Gesang der Quellen zur Nacht, wenn es dem Auge verwehrt ist, Stein und Baum und Gehöft zu erschauen. Das Gedicht musste auch in der deutschen Sprache Gedicht sein“ (ebd.). Er kam jedoch nur langsam voran. Schneiders Wertschätzung Valérys ist erklärungsbedürftig. Schneider hatte kürzere Gedichte Valérys übertragen, die Rilke, mit dem er sich offenbar nicht messen wollte, nicht übersetzt hatte. 27 Bei seiner Arbeit hatte er versucht, „etwas von dieser quellenhaften Dunkelheit [...] in die eigene Sprache“ mit herüberzunehmen, wie er, von sich selber in der dritten Person sprechend, präzisiert: „Das Bild, die Metapher, der Klang, der Sinn, die Gestalt waren ihm heilig, und heilig war ihm das dichterische Wort, das in seinem tiefsten Geheimnis nichts mit philologischer Treue gemein hat“ (KfA, 21). Diese Übersetzungen hatte er dem des Deutschen unkundi- 89 gen Valéry bei einem weiteren Besuch 28 vorgelesen. Der Meister habe, so Schneider, ihren Klang und ihren Rhythmus gebilligt. Das ist viel bei einem Autor wie Valéry, bei dem Wörter gleichermaßen durch ihren Klang wie durch ihre Bedeutung wirken und zu Worten werden. Der Vermittler zwischen Valéry und Schneider scheint der zu Unrecht vergessene rumänisch-französische Dichterphilosoph Pius Servien (eigentlich: Pius Servieia Coculescu; 1902-1953) gewesen zu sein, Verfasser einer Abhandlung Les rythmes comme introduction physique à l’esthétique, der Valéry seinen kritischen Essay Le cas Servien widmete. 29 Servien versuchte in seinem Buch, die lyrische Sprache phonetisch zu beschreiben und eine Verbindung zwischen Klang und Bedeutung nachzuweisen, was den Mathematiker Valéry nicht überzeugte. Schneider hat auch drei Gedichte Serviens übersetzt, darunter „Sibylle“ (KfA, 16-17). Der Dichter machte ihm ein schönes Kompliment: „J’ai vu ces vers vivre ainsi d’une vie nouvelle, comme une œuvre nouvelle, comme une œuvre écrite directement dans votre belle langue. Tel vers, qui est plutôt vôtre que le mien, et qui est pourtant essentiel a cette vie nouvelle: - Gehen durch die Wohnungen der Götter deine Schritte [Original: Parcourant les demeures / Tes pas pèsent la terre et se sont mesurés, FRH] - me fait songer à la gravité limpide de la gœthéenne Iphigénie“ (KfA, 21). Schneider leitete hieraus eine eindringliche Übersetzungspoetik ab: „Jede wahre Übertragung ist eine vita nuova, oder sie ist unwirklich wie ein welkes Blatt und existiert nicht. Andere Maße und Gewichte gibt es für den Übersetzer nicht“ (KfA, 22-23). Man kann die Probe aufs Exempel machen und die wenigen von ihm übersetzten Gedichte aus dem Album des vers anciens in verschiedenen deutschen Übersetzungen miteinander vergleichen, 30 und man wird ohne längere Analysen feststellen, daß Schneider eine adäquate Übertragung in einer leicht archaisierenden, feierlichen Sprache gelungen ist, die nah am Text übersetzt und dem Original durchaus angemessen klingt. Nehmen wir den Anfang von „Baignée“ (KfA, 12), der bei ihm „Die Frucht aus Fleisch taucht in den jungen Bronnen“, und bei Peter Schwanz (15) „Im frischen Becken badet eine Frucht aus Fleisch (es flimmert)“ lautet. Oder die erste Zeile von „Orphée“, die Schwanz mit „... Unter Myrten bild ich in Gedanken mir den Ohnegleichen, / Orpheus“ überträgt, wohingegen Schneider, eleganter, „Orpheus, Bewundernswürdiger ... dich formt mein Geist / im Myrthenhain“ (KfA, 13) setzt. Dennoch bleiben diese und die anderen Gedichte, die Schneider von Victor Hugo, Stéphane Mallarmé, Alfred de Musset, José-Maria Heredia, Tristan Corbière, Paul Verlaine, Arthur Rimbaud, Paul-Jean Toulet, Charles Maurras, Paul Fort und Jean Cocteau (zusätzlich zu Valéry und Servien) auswählt, nur Solitäre, weil der Verleger angeblich keinen größeren Umfang konzedierte. „Zwei Hände griffen in die dunkle Urne und zogen die Lose wie Blätter aus einem grossen, dunklen Buche“ (KfA, 22). Ob dies der wahre Grund ist, warum Schneider nach dem Tod Valérys am 20. Juli 1945 seine hochfahrenden Pläne begrub und sich mit der Veröffentlichung von nur fünf Gedichten des Meisters innerhalb einer 1948 im Hamburger Verlag Heinrich Ellermann erschienenen 90 Kleinen französischen Anthologie („Helena“, „Die Badende“, „Gesicht“, „Ein deutliches Feuer“, „Orpheus“) begnügte, wissen wir nicht. 31 Vielleicht handelte es sich um diejenigen Sonette, welche er Valéry vorgelesen und zu denen er seine Zustimmung erfahren hatte. Die Wirren des endenden Kriegs waren einer kontinuierlichen geistigen Arbeit nicht günstig, ein Kontakt mit Valéry war nicht mehr möglich, wichtige Verlagshäuser zerstört. Zwar vereinbarte Schneider mit dem 1945 in seiner Heimatstadt Coburg gegründeten Winkler-Verlag, der später mit dem Zürcher Artemis-Verlag fusionierte, eine Ausgabe seiner übersetzten Valéry-Gedichte unter dem Titel „Rein steigt der Geist“, doch ist diese niemals erschienen. 32 Auch andere Verlage hatten ihm offenbar Angebote gemacht, diese jedoch nicht eingehalten. Nach dem Krieg verlagerte sich Schneiders Interesse zudem vom Übersetzen hin zur Verlagstätigkeit und zur Politik. 33 Dennoch sind seine Übertragungen und seine Übertragungspläne Lichtpunkte in einer Zeit der Dunkelheit, die in Nazi- Deutschland von Verachtung gegen den „westlichen Geist“ und nationalistischer Selbstüberschätzung geprägt waren. Schneider und seine Dichterfreunde zeigen, daß nicht alle Deutschen borniert und gleichgeschaltet waren und Kenner sich durchaus der qualitativen Mängel einer lobhudelnden Parteidichtung oder schwülstiger Blut-und-Boden-Ergüsse bewußt waren. 34 1 Paul Valéry à André Gide, dédicace de La jeune Parque. 2 Ingeborg Schuldt-Britting, Sankt-Anna-Platz 10: Erinnerungen an Georg Britting und seinen Münchner Freundeskreis, München: Buchendorfer, 1999, 214-222 (ein Photo Schneiders befindet sich auf S. 220). Vgl. auch unten Anm. 31. 3 Eine Kurzversion dieses Artikels ist am 13. August 2008 auf S. 41 des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) unter dem Titel „Einzig hier strahlt der Geist. Besatzungssoldat und Bewunderer der Symbolisten: Georg Schneider nahm sich als Übersetzer von Paul Valéry vor, was Rilke ausgelassen hatte. Auch der dunkelste französische Text schreckte ihn nicht“, erschienen. 4 Vgl. Kosch, DLL 15 ( 3 1993), 562-563; Die Literatur im 20. Jahrhundert / ausgew. u. eingl. von Karl Pörnbacher, München: Süddeutscher Verlag, 1981 (Bayerische Bibliothek, 5), 1011-1014; 1076. 5 Frank-Rutger Hausmann, „Aus dem Reich der seelischen Hungersnot“. Briefe und Dokumente zur Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich, Würzburg: Königshausen und Neumann, 1993, 156f. 6 Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, München: Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher, 795.-799. Aufl., 1943, 58: „Was mir weiter auf die Nerven ging, war der doch widerliche Kult, den die große Presse schon damals mit Frankreich trieb. Man mußte sich geradezu schämen, Deutscher zu sein, wenn man diese süßlichen Lobeshymnen auf die ‘große Kulturnation’ zu Gesicht bekam. Dieses erbärmliche Französeln ließ mich öfter als einmal eine dieser ‘Weltzeitungen’ aus der Hand legen“. 7 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München: Hoheneichen-Verlag, 125.-128. Aufl., 1938, 300. 91 8 Zit. nach Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer deutschen ‘Monroe Doktrin’, Stuttgart: DVA 1962 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4), 198. 9 In: Schriftsteller-Verzeichnis. Hg. von der Reichsschrifttumskammer, Leipzig: Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, 1942, ist Schneider folgerichtig nicht verzeichnet. Sein Name fehlt auch in Kürschners Deutscher Literaturkalender 1943. Hg. von Gerhard Lüdtke u. Friedrich Richter, 50. Jg., Berlin: de Gruyter, 1943. In der ersten Nachkriegsausgabe 1948 ist er jedoch auf col. 556-557 als Lyriker und Übersetzer sowie als Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung Bayern verzeichnet. 10 Würzburg: Triltsch, 1937. 11 Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. I. Band: Die Altstämme (800-1600), Regensburg: J. Habbel, 1912, 5-9; 79 u.ö. 12 Kleine französische Anthologie, Hamburg: Ellermann, 1947 (Das Gedicht, 1947 [13]). Das Bändchen umfaßt nur 24 S. (hinfort abgekürzt als KfA). 13 Vgl. die Nachweise bei Hans Fromm, Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen: 1700-1948, Baden-Baden: Verl. für Kunst und Wissen, 1950-1957, 7 Bde., hier die Nrn. 5435, 5803, 5805, 9637, 12360, 15990, 17096, 18822, 22038, 24330, 25081, 25646, 25962, 25968, 25976, 26354, 28706 [die Nrn. der Valéry-Übertragungen wurden von mir gesperrt]. 14 Vgl. die Briefe, die Eberhard Köstler, Antiquar in Tutzing, im Jahr 2004 zum Verkauf angeboten und höchst sachkundig in einem Online-Katalog beschrieben hat, vgl. www.autographs.de/ pdf/ Schneider_Korr1.pdf (Autographen. Die Sammlung des Dichters Georg Schneider). Vgl. weiterhin den Nachlaß Schneiders in der Sammlung Monacensia Bibliothek und Literaturarchiv der Münchner Stadtbibliothek im Hildebrandhaus. 15 Gerhart Haug, Verlaine: die Geschichte des Armen Lelian; Leben, Dichtung, Bekenntnisse, Briefe, Basel: Schwabe, 1944 [nach Auskunft des Schwabe-Verlags sind im Verlagsarchiv keine Unterlagen zu diesem Buch mehr erhalten]. Vgl. den Brief, den Haug (München, 29.12.1945) an Schneider schrieb: „Ich komme soeben vom Besuch meiner Mutter in Blaubeuren bei Ulm zurück und finde Ihren Brief vom 23.12. mit Beilagen vor [...]. Vor allem vielen Dank für Ihre wirklich wundervollen, beneidenswert schönen Valéry- Übersetzungen. Ich bin hier tatsächlich ganz Leser und warte schon auf den Augenblick, wo ich Ihre Nachdichtungen schön gedruckt und würdig ausgestattet vor mir liegen habe. [...] Sie haben verschiedene Anträge wegen Ihres Valéry erhalten. Der Verlag, der unsere Serie bringen will - ich darf ihn, weil es sich um interne Pläne handelt, leider nicht nennen - liegt in der russischen Zone. Ich glaube, dass es noch sehr lange dauern wird, bis hier eine Entscheidung getroffen werden kann und weiss nicht, ob ich Sie überhaupt in diesem Falle zurückhalten soll, den Valéry nicht dem Insel-Verlag zu überlassen. Die Verlage suchen heute überall krampfhaft nach Manuskripten und ich möchte nicht, dass Sie wegen der doch noch sehr vagen Aussicht, die ich Ihnen machen kann, ein gutes Angebot versäumten. Sie haben also volle Handlungsfreiheit“ (Original Privatbesitz FRH). 16 Original Privatbesitz FRH. 17 August Friedrich Velmede (ed.), Dem Führer. Worte deutscher Dichter, o.O., o.V., 1941 (Tornisterschrift des Oberkommandos der Wehrmacht, Abt. Inland, Zum Geburtstag des Führers; Heft 37). Das Vorwort stammt von Reichsmarschall Hermann Göring. 18 Agnes Miegel, „Nicht mit der Jugend überschäumendem Jubel“, ebd., 15 (Gedicht ohne Titel). 19 Josef Weinheber, „Dem Führer“, ebd., 5. 20 Heinrich Zillich, „Den Deutschen von Gott gesandt ...“, ebd., 24. 21 Paul Valéry, Gedichte. Französisch und deutsch. Übertragen von Rainer Maria Rilke. Mit einem Nachwort von Karl Krolow, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1988; Karin Wais, 92 Studien zu Rilkes Valéry-Übertragungen, Tübingen: Max Niemeyer, 1967 (enthält alles Wissenswerte zum Thema und rekonstruiert auch den Briefwechsel zwischen den beiden Dichtern); Renée Lang, Rilke, Gide e Valéry nel carteggio inedito, Firenze: Sansoni, 1960 (Biblioteca degli eruditi e dei bibliofili, 40). 22 Dieser Brief Valérys vom 2.4.1944 wurde von Antiquar Köstler an das Pariser Antiquariat Thierry Bodin verkauft, das den Brief am 11. Juli 2007 versteigert hat. Auf meine Frage nach seinem Verbleib erhielt ich leider keine Antwort. 23 Rolf Looser, „Zwei unveröffentlichte Übersetzungen. ‘Die junge Parze spricht’ und ‘Grabstätten am Meer’“, in: Karl Alfred Blüher/ Jürgen Schmidt-Radefeld (eds.), Forschungen zu Paul Valéry - Recherches Valéryennes 15, Kiel: Forschungs- und Dokumentationszentrum Paul Valéry am Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität Kiel, 2002, 149-173. Diesen Hinweis verdanke ich dem Kollegen Schmidt-Radefeld, dem ich mich seit vielen Jahren verbunden weiß. 24 „Die Biene“. Übers. von Georg Schneider, in: Das XX. Jahrhundert 6, 1944, 171. Wieder abgedruckt in: Die goldene Brücke. Nachdichtungen ausländischer Lyrik, Hannover: Adolf Sponholtz Verlag, 1947 (Das Forum. Eine Schriftenreihe zu Fragen der Zeit. Hg. Dr. Friedrich Rasche, 4), 36. Auf S. 37 findet sich eine sonst im Druck nicht nachweisbare Übersetzung Schneiders von „Les Grenades“. Es ist das einzige Valéry-Gedicht, das sowohl Rilke als auch Schneider übertragen haben. Valéry parallelisiert in diesem Sonett das Aufplatzen einer reifen Granatapfelfrucht mit der Freisetzung der Gedanken durch überlegene Geister. Durch das Bild der von rotem Saft umgebenen Kerne erschließt sich ihm gleichzeitig eine geheimnisvolle Architektur. Diese Vorstellung einer analogia entis ist besonders wichtig, doch Rilke ersetzt die „secrète architecture“ durch ein blasses „geheime Gestalt“. Sein letztes Terzett „so rührt sich in mir vor dem Spalt [= la rupture] / eine meinige Seele der Dinge / und ihrer geheimen Gestalt“ ist daher weniger präzise als Schneiders „Dann erträumt eine Seele in mir - / Vor dem leuchtenden Bruch - aller Dinge / Geheime Architektur“. Ansonsten geht der Vergleich zwischen beiden „unentschieden“ aus. Das Wortspiel „Grenade“ = Granatapfel und Granate wird von keinem der beiden umgesetzt. Rilke hält sich an Valérys Reimschema, wohingegen Schneider in den beiden Terzetten statt eef / gfg das Schema efg / efg wählt. Beide Übersetzer benutzen schwerfällige Partizipial- und Attributivkonstruktionen, z.B. bei Strophe I (Dures grenades entr’ouvertes / Cédant à l’excès de vos grains, / Je crois voir des fronts souverains / Eclatés de leurs découvertes! ). Hier übers. Rilke: „Halboffne Granaten, beengte, / die fast schon die Körner verlieren, / ihr seid mir wie Stirnen, von ihren / Gedanken gewaltig gesprengte! “, und Schneider: „Harte Granaten, zersplissen, / Dem Druck der Körner weichend, / Ich seh euch - Stirnen gleichend - / Von Entdeckungen gerissen! “ 25 Valéry zitiert hier Albert Thibaudet, „Poésie de Paul Valéry“, in: Revue de Paris, livraison du 15 juin 1923: „La Jeune Parque passe pour le poème le plus obscur de la poésie française, beaucoup plus obscur que l’Aprés-midi d’un Faune“. 26 Sylvie Ballestra-Puech, Lecture de La jeune Parque, Paris: Klincksieck, 1993. 27 In KfA finden wir „Helena“ („Hélène“), „Die Badende“ („Baignée“), „Gesicht“ („Vue“), „Ein deutliches Feuer“ („Un feu distinct ...“), „Orpheus“ („Orphée“) aus dem Album des vers anciens, die sprachlich einfacher sind als die von Rilke übertragenen Charmes-Gedichte. Hinzu kommt die von Rilke ausgelassene „Die Biene“ („L’Abeille“) aus der Sammlung Charmes; „Die Granaten“ („Les Grenades), aus der gleichen Sammlung, vgl. Friedrich Rasche (ed.), Die goldene Brücke. Nachdichtungen ausländischer Lyrik, Hannover: Adolf Sponholtz, 1947 (Das Forum. Eine Schriftenreihe zu Fragen der Zeit), s. Anm. 24. 28 Um den Ort festzulegen, müßte man wissen, wo Schneider stationiert war. Seine Post wurde ihm an das Lagerpostamt (Lgpa) Paris gesandt. Zu Valérys Aufenthaltsorten wäh- 93 rend der Zeit der deutschen Besetzung vgl. die „Introduction biographique“ in: Œuvres I. Edition établie et annotée par Jean Hytier, Paris: Gallimard, 1957, 11-71, hier 67. 29 Pius Servien, Les rythmes comme introduction physique à l’esthétique. Avec une remarque de Paul Valéry, Paris: Boivin, 1930. 30 Karl Alfred Blüher/ Jürgen Schmidt-Radefeldt (eds.), Paul Valéry 1 - Dichtung und Prosa, Frankfurt a.M.: Insel, 1992 (Paul Valéry Werke. Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, Bd. 1), hier in der Übers von Peter Schwanz 31 In einem nicht abgedruckten Leserbrief (14.8.2008) an die FAZ schreibt Frau Schuldt- Britting u.a.: „Wir ‘Leopoldler’ haben Georg Schneider zwar auch als Übersetzer kennengelernt, vor allem aber als Lyriker und Prosaist, auch als Herausgeber eines Bandes über Südtirol. Und natürlich besprach Schneider die neu erschienenen Bände seiner ‘Freunde’ wie Georg von der Vring, Schnack, Britting stets in den entsprechenden Zeitungen. Leider hat der sonst so überaus Offenherzige uns über seine Zeit als Kriegsgefangener und über seine engeren literarischen Beziehungen zu Valéry kaum etwas berichtet. Das wundert mich nachträglich etwas, da ja Britting in den ersten Nachkriegsjahren zusammen mit Curt Hohoff, Voßler u.a. seine Anthologie ‘Lyrik des Abendlandes’ [München: Hanser, 1948] herausgab, die es auf über 100.000 Auflage brachte. Dort stehen die Übersetzungen Valérys von Rilke. - Allerdings lernten wir Schneider erst ein paar Jahre nach der 1. Ausgabe der ‘LdA’ [= Lyrik des Abendlandes] kennen. Man hat am Stammtisch natürlich auch Gespräche über Lyrik, Übersetzungen usw. häufig geführt. Ich habe in meinen Notizbuch-Aufzeichnungen der Jahre von 1951-1964 - die Leopoldbesucher betreffend - eine Unmenge bekannter Namen nicht aufgeführt, was mir im nachhinein etwas leid tut. Übrigens ist der in Coburg gegründete Winkler Verlag einige Jahre lang ein selbständiger und für seine vorzüglichen Ausgaben bekannter Verlag gewesen, dank Otto Dickschat, bevor er mit Artemis fusionierte“. (Ich danke Frau Schuldt-Britting für die Abdruckgenehmigung). 32 Hinweis auf der letzten Seite der KfA. Laut Auskunft von Frau Gabriele Kalmbach vom Patmos-Verlag, dem gegenwärtigen Eigentümer des Verlags Artemis Winkler, konnte im Verlagsarchiv keine diesbezügliche Korrespondenz gefunden werden. Die gleiche Auskunft erhielt ich von Frau Erika Grimme vom Verlag Heinrich Ellermann in Hamburg. 33 Dazu schreibt mir Ingeborg Schuldt-Britting (26.9.2008): „Von seinem erzwungenen Frankreichaufenthalt während des Krieges erzählte er natürlich, auch vom Besuch beim verehrten Dichter Valéry (er war ja überhaupt sehr gesprächig), aber nichts davon, daß es Korrespondenz und Gedichtübertragungen gab. Vielleicht haben wir ihn dafür zu spät kennengelernt, erst 6 Jahre nach Kriegsende, und inzwischen waren von ihm selbst Gedichtbände erschienen, und der Winkler-Verlag und Langen-Müller waren ihm wichtiger geworden als seine Übersetzertätigkeit, d.h.: aufgegeben hat er sie nie, sich sogar bis ins Chinesisch vorgewagt“. 34 Eine repräsentative Auswahl derartiger Dichtungen bietet z.B. Lebende Dichter um den Oberrhein. Lyrik und Erzählung. Im Auftrag des Deutschen Scheffel-Bundes im Reichswerk Buch und Volk hg. von Reinhold Siegrist, Karlsruhe, im Frühjahr 1942. In dem Bd. sind auch mehrere deutsch dichtende Elsässer vertreten, z.B. Leonhard Riedweg. In seinem Gedicht „Deutschland“ heißt es auf 395: „Herrliches Vaterland! Genius des Volkes, / ob du steigst oder fällst, immerzu tränkest / mit deinem Samen du, Deutschland, / freudig die müde Erde“. Oder auf 405 Ludwig Spielmann, „Sundgauvolk“: „Manchmal riß dich ein Taumel mit in tödliche Glut. / Schaudernd trank diese Erde eigener Söhne Blut. / Hunger und Bruderfehden, sie fraßen an deinem Saft, / geißelnd heischte Gott für Vermessenheit Rechenschaft“.