eJournals lendemains 34/133

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Narr Verlag Tübingen
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2009
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Kann und sollte „Nation“ heutzutage etwas Unreduzierbares enthalten?

2009
Hans Ulrich Gumbrecht
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75 Hans Ulrich Gumbrecht Kann und sollte „Nation“ heutzutage etwas Unreduzierbares enthalten? für Clara, geboren am 2. November 2008 [1] Wenn man sich selbst einmal aus kontemplativer Entfernung betrachtet, bemerkt man, dass die stärksten persönlichen Empfindungen sozialer Zugehörigkeit - strikt rational gesehen - als dysfunktional qualifiziert werden müssen: denn sie stellen Investitionen dar, die immer auf ein Verlustgeschäft hinaus laufen. Es gibt zum Beispiel weltweit in vielen Sportarten eine beachtliche Anzahl von Mannschaften, die dafür berühmt sind, nie eine Meisterschaft gewonnen zu haben, und dies obwohl sie herausragende Spieler aufbieten konnten, und häufig durchaus erfolgreiche Trainer hatten, und, auch falls notwendig bzw. nötig, über genug Geld verfügten, um im Fall des Falles die Schiedsrichter zu bestechen. Ich spiele hier auf die „Chicago Cubs“ und die „Hanshin Tigers“ an, zwei der international bekanntesten Franchiseunternehmen im Baseball: was sie wahrhaft außergewöhnlich macht [und sie zum Beispiel von Bayer Leverkusen, einem prominenten deutschen Beispiel aus der Fußballwelt mit einem ähnlichen Schicksal, aber ohne einen ernstzunehmenden Fankreis, unterscheidet], ist die Tatsache, dass die Cubs und die Tigers eine beeindruckende nationale und sogar internationale Anhängerschaft haben, welche nicht nur auf wundersame Weise Jahr für Jahr ihr unabdingbares Versagen in Kauf nimmt, sondern deren Zuneigung für ihre Mannschaften sogar an Intensität verlieren würde, sollte sich ihr herrlich ruhmloses negatives Geschick je zum Guten wenden. Ganz ernsthaft möchte ich hier die Frage stellen, ob nicht eine vergleichbare Ökonomie am Werk ist, wenn man sich heutzutage mit einer [oder sogar einer jeden] Nationalität identifiziert. Zum Beispiel kann man nicht Katalane oder Baske sein, ohne die spanische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Spanisch zu sein wiederum zieht auf einer höheren Abstraktionsebene zwangsläufig und in mehrfacher, meist rechtlich relevanter Hinsicht nach sich, dass man ein Bürger der Europäischen Union ist. Um Familie, Bildung und Beruf zu besitzen, um Kranken- und Rentenversicherung sowie rechtlichen Schutz zu haben, würde eine europäische oder spanische Staatsbürgerschaft genügen. Gleichzeitig sagt man mir, dass es sich im heutigen Spanien nachteilig auswirken kann, irgendein Interesse [geschweige denn sturen Enthusiasmus] für seine katalanische oder baskische Identität zu zeigen. Sollte man daraus also nicht den unverhohlen opportunistischen Schluss ziehen, dass es sowohl auf kollektiver als auch individueller Ebene besser 76 ist, seine katalanische Zugehörigkeit nicht nur aufzugeben oder zumindest auszublenden, sondern sich sogar um die Auflösung seiner spanischen Staatsbürgerschaft in die „größere“ Europäische zu bemühen? Solch eine Entwicklung würde Steuergelder sparen und zweifellos die dem einzelnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erweitern; dies wäre ein gigantischer Schritt in Richtung einer globalen Staatsbürgerschaft, in einem historischen Zeitalter und einer institutionellen Entwicklung, für die wir so gerne den Begriff der „Globalisierung“ verwenden. In diesem Sinne erscheint tatsächlich nichts vernünftiger, als von „Integration“ zu sprechen, und kein anderes Konzept ist denn auch bisher so nachdrücklich von sämtlichen nationalen Regierungen innerhalb der EU gefördert worden. Und doch ist uns allen bewusst, dass der Erfolg dieses Konzeptes bisher überraschend limitiert war. Je weiter Politiker sich mit rationalen und hastigen Schritten in Richtung Integration bewegt haben, desto öfter sind sie auf Barrieren nationaler Trägheit [nicht etwa auf den nationalen „Widerstand“] gestoßen, so auch unlängst und auf beeindruckende Weise in Frankreich und Irland. Die Reaktion einiger europäischer Regierungen infolge solcher Trägheitsmomente lässt mich an Berthold Brecht’s ironischen Kommentar angesichts der Maßnahmen seiner ostdeutschen Regierung auf den Volksaufstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht im Juni 1953 denken: „Die Regierung und die kommunistische Partei haben deklariert, das Volk habe sein Vertrauen in sie verloren und könne es nur durch harte Arbeit und besseres Verhalten wiedererlangen. Wäre es denn unter solchen Umständen nicht besser, wenn die Regierung das Volk auflöste und sich ein anderes wählte? “ In jedem Fall liefern uns einige dieser Episoden aus der jüngeren Geschichte der Europäischen Union eine erste Antwort auf die Frage, was am Begriff der eigenständigen „Nation“ heutzutage irreduzibel ist. Es ergibt sich die folgende Definition: „als irreduzibel nationale Einheit kann man heutzutage jeden kollektiven Verband bezeichnen, der dem Trend zur Globalisierung und seinem mächtigen Sog hin zu einer übergreifenden Rationalität und Ökonomisierung der Verwaltung widersteht.“ Daraus resultiert die Frage, ob sich das politische Endresultat einer solchen Bewegung, nämlich die aus dem Widerstand zur Integration geborene unabhängige Nation, auf irgendeine Weise rechtfertigen lässt. Die Antwort ist eng verwandt mit einer zweiten, sogar noch grundsätzlicheren Regel: „sobald die Mehrheit der Bürger eines Staates, die ein begrenztes und dem Staat gehörendes Gebiet bewohnen, ihre Unabhängigkeit vom Staat deklarieren, muss ein solcher Wille zur Unabhängigkeit, im Namen der Souveränität als dem grundlegenden und mächtigsten politischen Prinzip und darüber hinaus als unveräußerliches Recht, bedingungslos anerkannt werden.“ Natürlich kann es sehr vernünftig erscheinen dagegen zu argumentieren, solche Unabhängigkeitsbewegungen basierten kaum auf dem Souveränitätsprinzip und gegen sie sprächen viele rationale Gründe; es wäre vielleicht sogar legitim, ihre Dynamik durch die Errichtung gesetzlicher Hürden zu bremsen. Um als verbindlich zu gelten, ist der Wille der Mehrheit jedoch nicht von einer Konvergenz mit dem Anspruch auf Rationalität oder gar einer stär- 77 keren kulturellen Homogenität abhängig. Souveränität hat Vorrang vor allen anderen politischen Forderungen, und zwar unter fast allen Umständen. Offensichtlich bilden sich solche nationalen Unabhängigkeitsbewegungen vergleichsweise kleiner Gemeinschaften oft am Rande von hegemonialen Imperien und Staaten. Das deutlichste Beispiel dafür sind heute jene Staaten, die Russland westlich und südwestlich flankieren. In den letzten fünfzehn Jahren haben die drei baltischen Staaten, die alle zuvor als „Republiken“ in die Sowjetunion integriert gewesen waren, eine beeindruckende Erfolgsgeschichte geschrieben. Denn, obwohl sie ihre Existenz und ihre Stabilität zweifellos der fortwährenden, von Russland ausgehenden Vernichtungsgefahr verdanken, zeigt ihr neuester Werdegang, dass wirtschaftlicher und kultureller Fortschritt keineswegs von der Kleinheit eines Staates, der noch dazu unter starker Spannung von Außen steht, beeinträchtigt wird. Eine beeindruckende Ausnahme von dieser Regel des mächtigen Staates, der Bewegungen nationaler Unabhängigkeit an seiner Peripherie provoziert, sind die Vereinigten Staaten von Amerika, wie unpopulär diese Wahrheit [oder sollte ich höflicherweise „Meinung“ sagen? ] bei zeitgenössischen Intellektuellen, besonders in Europa und Südamerika, erscheinen mag. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Vereinigten Staaten seit der Zeit der ersten politischen Verbindungen zwischen den Ländern der ehemaligen britischen Kolonien, seit ihrer Gründung als die erste amerikanische Republik kontinuierlich (mit Ausnahme des Amerikanischen Bürgerkriegs) ein Streben nach Integration und sogar Absorption ihrer Randgebiete erzeugt haben - und nicht etwa eine zentrifugale Dynamik, die unter dem zentripetalen amerikanischen Druck kleine Nationen entstehen ließ. Sogar die Land-„käufe“, die zu neuen amerikanischen Staaten oder, wie im Fall der amerikanischen Virgin Islands, zu neuen Vereinigungen ohne komplette politische oder rechtliche Integration führten, scheinen recht reibungslos abgelaufen zu sein. Ich werde später auf diesen Punkt zurückkommen, in der Hoffnung, eine Erklärung für das scheinbar außergewöhnliche Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und den meisten der Gemeinschaften an ihrer Peripherie zu liefern. [2] Zuvor möchte ich mich jedoch im Hinblick auf das Problem der nationalen Identität auf eine kompliziertere und, um offen zu sein, persönlich quälendere [und in manchen Aspekten vielleicht sogar „tragische“] Ebene begeben. Um dies tun zu können, werde ich meine bisherige abstrakte Argumentationsweise durch eine persönliche Erzählung ersetzen. Diese Erzählung ist die Geschichte meines eigenen, lebenslangen Konfliktes zwischen dem nie ganz gelungenen Versuch, die ursprüngliche deutsche Nationalität „hinter sich zu lassen“, und dem Bestreben, „vollständig“ amerikanisch zu werden [und nicht nur im rechtlichen Sinne des Erwerbs der amerikanischen Staatsbürgerschaft]. Ich aktiviere diese Erinnerungen, weil ich glaube, sie können uns behilflich sein, zwei Aspekte nationaler Identität herauszuarbeiten, die grundsätzlich und paradigmatisch sind, obwohl sie kaum beachtet 78 werden. Es muss kaum betont werden, dass darüber hinaus nichts Interessantes [geschweige denn „Erbauliches“] an den persönlichen Elementen meiner Geschichte ist. Lassen Sie mich chronologisch vorgehen. Ich wurde am 15. Juni 1948 geboren, weniger als eine Woche vor der Einführung der „Deutschen Mark“, die in den westlichen Zonen des besetzten Deutschland die alte Währung der „Reichsmark“ ablöste. In jener Woche begann auch die Berliner Luftbrücke, die bewusst das Risiko eines dritten Weltkrieges zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion einging, letztendlich aber verhinderte, dass die [damals: ehemalige] deutsche Hauptstadt nach Stalins strategischem Plan komplett in die sowjetisch besetzte Zone integriert wurde. So wurden die Spannungen verstärkt, welche bald den Kalten Krieg auszeichnen sollten. Mein Geburtsort ist die sehr traditionelle und sehr katholische Universitätsstadt Würzburg, im nördlichen Teil des damals amerikanisch besetzten Bayern, welches durch einen einzigen Bombenangriff der Alliierten am 16. März 1945 weitgehend zerstört wurde [Würzburg ging Jahre später eine Städtepartnerschaft mit der japanischen Stadt Nagasaki ein, denn wie Nagasaki in Japan war Würzburg in Deutschland nach Dresden die am meisten zerstörte Stadt]. Beide Eltern, geboren in den zwanziger Jahren, arbeiteten als Ärzte im Universitätskrankenhaus, und während es mir in meinen bisherigen sechzig Lebensjahren nicht gelungen ist, irgendein zuverlässiges Wissen in dieser Frage zu erlangen, glaube ich, dass ihre Involvierung im Nazismus „eben durchschnittlich“ war [was natürlich schlimm genug gewesen sein muss! ]. Nun, wenn wir zeitgenössischen Berichten wie den Kolumnen des schwedischen Journalisten Stig Dagerman über den „Herbst 1946 in Deutschland“ trauen können, die als seltene historische Dokumente der deutschen Nachkriegssituation schon längst zu Klassikern geworden sind, oder zum Beispiel dem oft aufgeführten Drama „Draußen vor der Tür“ von 1947 von Rudolf Borchert, der gerade aus einem Kriegsgefangenenlager zurückgekehrt war und einen Tag vor der Premiere seines Stückes starb, einem stark autobiographischen Theaterstück über einen deutschen Soldaten, der spät in seine Heimatstadt zurückkehrt und alle Türen verschlossen findet - wenn wir also den Beschreibungen dieser und einiger anderer Texte mit ähnlichem Tonfall trauen können, dann wurde ich in eine Situation hineingeboren, in der die deutschen Überlebenden, die jeden nur erdenklichen Grund dafür gehabt hätten, sich [zumindest teilweise] für die unaussprechlichen und beispiellosen Verbrechen der nationalsozialistischen Regierung verantwortlich zu fühlen, bereits die erstaunliche Leistung vollbrachten, alle Schuldzuweisungen zurückzuweisen. Um eine offensichtlich viel komplexere Situation in eine kompakte [und irgendwie freudianische] Formel zu fassen: Im Sommer 1948 war Deutschland zu einem Ort geworden, an dem die individuelle und kollektive Verantwortung für die beispiellosen, zwischen Januar 1933 und Mai 1945 begangenen Verbrechen in eine Art „freischwebende“ Verantwortung umgewandelt wurde, welche vorhanden war und sich bemerkbar machte, ohne von der überwältigenden Mehrheit derjenigen Deutschen angenommen zu werden, die während des Dritten Reichs mehr oder weniger glücklich in ihrem Land gelebt hatten. Ich 79 glaube mich daran zu erinnern, dass die Welt für ein in dieser seltsamen Atmosphäre heranwachsendes Kind scheinbar geordnet, stabil und vielleicht sogar still war: „still“ im Gegensatz zu „normal“, wahrgenommen aus der vorbewussten Intuition, dass gleichzeitig etwas Unbekanntes und sogar Unaussprechliches unter Verschluss gehalten wurde. 1 Nun hatte ich meine Kindheit im materiellen Umfeld einer Heimatstadt gelebt und genossen, die ein Monument des vergangenen Todes war [in den Gebäuderuinen von 1945 spielten wir gerne „Ritter in glänzender Rüstung“], und war zehn Jahre alt, als ich dem Tod zum ersten Mal leibhaftig begegnete. Der Mensch, den ich am meisten liebte, mein sanfter, [wegen eines Herzleidens] schwer atmender, schüchterner, sehr großzügiger und immer verständnisvoller Großvater mütterlicherseits verstarb. Mein Großvater, auf den ich so stolz war, verschwand, und ich vermisste ihn schmerzlich. Aber nur drei oder vier Jahre später, in den pubertären Momenten, in denen sich unser Gemüt zu seinen ersten unabhängigen Abenteuern aufmacht, erfuhr ich, dass dieser geliebte Großvater während der Erstarkung der Hitlerbewegung Millionär geworden war, indem er sein ehemals proletarisches Leben [er war ursprünglich Bergarbeiter gewesen] nach einem „Bekehrungserlebnis“ von der kommunistischen Partei weg und zur nationalsozialistischen Arbeiterpartei hin orientiert hatte. Diese Einsicht produzierte, zusammen mit den Überresten der Liebe, die ich für meinen Großvater empfand, eine Spannung zwischen Liebe und Hass, ein Vermissen meines sanften Opas und das gleichzeitige Gefühl, von ihm tödlich verraten worden zu sein; eine Spannung, die für immer eine Narbe in meiner Seele hinterließ. Zweifellos war dies die Art von Schmerz, der viele Deutsche in meinem Alter betraf, und die uns mit einer geteilten Narbe versah, die ein Emblem werden sollte, welches zum Schandflecken auf der Stirn der 68er Generation wurde, einer Generation, welche viele Deutsche, die viel früher geboren wurden [ca. 1930] und auch viel später [nach 1960], immer noch als eine Generation von Schwachheit und Versagen ansehen. Der wahre Grund für diese harte Kritik war, dass viele von uns in eine existentielle Situation hineinwuchsen, auf die wir mit einer bewussten Entscheidung reagieren wollten, d.h. mit der Entscheidung, die Schuld und die Verantwortung für Verbrechen auf uns zu nehmen, die niemals unsere hatten sein können. Ich werde nie genau wissen, ob wir uns damit eine unmögliche Aufgabe gestellt haben. Unsere Generation mag wohl Anspruch darauf erheben, den positiven Ruf maßgeblich beeinflusst zu haben, den Deutschland heute genießt, als die einzige Nation in der Welt, die sich ernsthaft mit dem dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, und die einzige Nation, die inmitten ihrer Hauptstadt ein Monument im Gedenken an die Millionen der von ihr verschuldeten Opfer errichtet hat. Dennoch hat unsere Generation für diesen Verdienst nie viel kollektive Anerkennung erhalten. Im Gegenteil [und hier beziehe ich mich wieder auf einen einzigen, jedoch paradigmatischen, Vorfall aus meinem persönlichen Leben]: als zum ersten Mal bekannt wurde, dass mein ehemaliger Doktorvater [die Bezeichnung „Doktor- Väter“ kommt in Deutschland nicht von ungefähr], ein allseits geachteter Humanist, 80 der 1921 geboren wurde und uns immer erzählt hatte wie er das Dritte Reich in einer Art sozialistischem Widerstand durchlebt hatte, als es also bekannt wurde, dass dieser scheinbar so ehrwürdiger Akademiker ein hochrangiger SS-Offizier gewesen war, der womöglich sogar jener Elite des Bösen angehörte, die Adolf Hitler an den letzten Tagen des April 1945 in seinem Bunker in Berlin begleitet hatte - als all dies bekannt wurde und ich mir vornahm, nie wieder mit meinem Doktorvater zu sprechen [dies war meine einzige Reaktion, denn ich war der öffentlichen Bekenntnisse und Anschuldigungen müde geworden], konfrontierten mich viele meiner älteren deutschen Kollegen mit der Frage, ob ich denn sicher sein könne, dass mein eigenes Verhalten, hätte ich in den 30er Jahren in Deutschland gelebt, besser gewesen wäre als das meines Doktorvaters. Gleichzeitig empfanden es die meisten Kollegen aus der Generation meiner Studenten als eine Grausamkeit, einen Mann, der so alt geworden war, zu strafen, als sein makelloser Ruf zusammenbrach. Was sie nicht verstanden - und das fühlte ich mit einiger Wut - war die Faktizität und Objektivität des Verbrechens als eine existentielle Dimension, eine Faktizität, die in mir eine körperliche Abscheu hervorrief, ohne dass diese Reaktion irgendetwas zu tun gehabt hätte mit einer arroganten Gewissheit meiner eigenen moralischen Überlegenheit. Fünfzehn Jahre später, als mein immer gutaussehender, talentierter, schwacher, unverlässlicher und lieber Vater, ein pensionierter Chirurg, starb, erfuhr ich unter grotesken Umständen, das er nicht etwa, wie er mir immer gesagt hatte, an der Universität in unserer Heimatstadt Medizin studiert hatte, sondern an der von den Nationalsozialisten geleiteten National-Akademie für Medizin. Für mich war dies nicht mehr als eine fast ironisch anmutende Erinnerung an jenes Schandmal, welches wir noch immer auf unserer Stirn trugen. Es brachte mich nicht einmal dazu, mir besonders schreckliche Taten, die mein Vater wahrscheinlich ausgeführt hatte, vorzustellen, aber es geschah im selben Jahr, in dem der berühmte Schriftsteller Günter Grass - der jahrzehntelang keiner einzigen konservativ eingestellten Persönlichkeit die Verdächtigung des Nazismus erspart hatte - entschied, dass es an der Zeit war, uns darüber zu informieren, dass auch er ein Mitglied der Waffen-SS gewesen war. Ich werde mich immer leicht schuldig fühlen für den etwas grausamen Gedanken, der mir wie ein heller Blitz durch den Kopf ging, als, an einem seltsam frostigen und typisch windig-nassen Septembertag, der Sarg mit dem Leichnam meines Vaters in das Grab gesenkt wurde: „Es ist höchste Zeit, dass ihr alle von der Erde verschwindet.“ [3] Zu dieser Zeit lebte ich schon seit fünfzehn Jahren in den Vereinigten Staaten und ich hatte fünf Jahre zuvor meine amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten und dafür mit großer Erwartung meine deutsche Staatsbürgerschaft aufgegeben, obwohl ich dabei nie die kleinste Illusion hegte, meiner deutschen Staatsangehörigkeit entkommen zu können. Ich bin immer noch so sehr deutsch, weil ich die Spra- 81 che meines Landes mit deutschem Akzent spreche - die Sprache eines Landes, das ich für mich und meine Familie als Lebensort gewählt habe, anstatt einfach dort geboren zu sein; ich bin so sehr deutsch, weil meine Bewunderung für die Philosophie Martin Heideggers nicht zu trennen ist von meiner tiefen Verachtung für seine Biografie; weil ich bei aller Liebe zu Hölderlins Hymnen die Frage nicht loswerde, ob sie in ihrer Kadenz Hitlers Redestil ähneln. Ich bin nicht nach Amerika gekommen, um dem Deutschen in mir zu entkommen [ich wünschte, ich könnte es, aber ich weiß, das ich es nicht schaffen werde], sondern um die Gegenwart derer zu vermeiden, die solch eingehendes Verständnis für Menschen wie meinen Doktorvater gezeigt hatten, und vor allem wollte ich, dass meine Kinder in einiger Entfernung zu der Vergangenheit lebten, die ich unweigerlich an sie weitergeben würde. Das Verlassen meiner deutschen Heimat spielte sich in den undefinierten Umrissen meiner akuten Sehnsucht nach Erlösung ab, ein Erlösungstraum, in dem ich in Ermangelung einer besseren Alternative bereit war, die Rolle des Sündenbocks zu spielen und so meinen Kindern eine Zukunft inmitten der Erlösten zu sichern. Der Plan war außerordentlich erfolgreich, erfolgreich in der Tat bis zur Ironie und das auf ironische Weise. Denn mein ältester Sohn, der neben seiner von mir geerbten deutschen Seite die spanische Nationalität von seiner Mutter hat, zog von den USA zurück nach Deutschland und wurde Hauptmann in der deutschen Luftwaffe. Am 2. November, ein paar Tage bevor ich diesen Text zu schreiben begann, wurde seine Tochter und mein erstes Enkelkind, Clara, als Kind einer holländisch-deutschen Mutter und meines sehr patriotischen deutschen Sohnes, geboren. Und meine drei jüngeren Kinder, die in Spanien und den Vereinigten Staaten leben, bewundern Deutschland und ihr eigenes Deutschsein, und finden meine Probleme mit dem Land [an guten Tagen] größtenteils übertrieben und - ich zitiere - ‘ hysterisch ’ bzw. histrionisch [an schlechten Tagen]. Die Vorstellung, dass Clara mit einem kritischen Blick auf die deutsche Vergangenheit aufwachsen wird, aber ohne die Versuchung, selbst irgendeine Verantwortung auf sich zu nehmen, wird mir an jedem der verbleibenden Tage meines Lebens gut tun, und wird mir in den ganz und gar nicht seltenen Momenten der Selbstgefälligkeit wie eine vollbrachte Leistung vorkommen. Ich selbst werde bei der Landung meines Flugzeugs auf deutschem Boden nie das Gefühl los, dass dieser Ort noch immer belastet ist - und für mich wird es wohl immer so bleiben. Ich finde die Art von Stolz, den viele Deutschen für ihr Land [vor allem seit der Fußballweltmeisterschaft 2006] empfinden, besorgniserregend in seiner Selbstgefälligkeit, und ihre Bedenken über die demokratischen Maßstäbe in meinem Land erscheinen mir scheinheilig bis zur Lächerlichkeit - obwohl nichts davon in irgendeiner Weise „unberechtigt“ oder „gefährlich“ ist. Trotz allem muss ich schon seit langem mit Enttäuschung, Schmerz und manchmal sogar Wut einsehen, dass ich nie so instinktiv amerikanisch sein werde, wie ich es mir immer erträumt hatte. Die Sprache, die mir inzwischen unentbehrlich geworden ist, um Liebe und Zuneigung auszudrücken, spreche ich mit einem ausländischen Akzent. Ich werde es nie auch für einen Moment nachempfinden kön- 82 nen, wie es sich anfühlen muss, an einer High School zum „homecoming king“ gewählt zu werden; ich kann recht passable Artikel über American Football schreiben, aber mir fehlt unwiederbringlich die prägende Kindheitserfahrung, einen Football zum ersten Mal so zu werfen, dass er in seiner Drehung mühelos durch die Luft segelt. Manchmal sogar gelingt es mir nicht, Leute effizient zu beleidigen, wenn ich auf Amerikanisch fluchen will, weil ich das nie richtig gelernt habe. Und trotz allem liebe ich Amerika mit einer Intensität, die vielleicht einfach ein Privileg für jemanden ist, der „sein“ Land erst spät im Leben gewählt hat. Seine dritt-weltlerische Seiten und seine Geschmacklosigkeiten, oder zum Beispiel die typisch amerikanischen, formlos gewordenen Körper, das alles ist mir peinlich - und doch liebe ich Amerika mit aufrichtiger Leidenschaft. Amerika zu lieben heißt jedoch nicht anzunehmen, dass das Land unfehlbar ist. Vielmehr ist es die vielschichtige Aufgabe einer jeden Generation, das Möglichste zu tun, in seinem Namen begangene Verbrechen gar nicht erst zuzulassen und dafür zu sorgen, dass die Erinnerung und die Verantwortlichkeit für die Verbrechen, die geschehen sind, nicht unterdrückt werden oder ohne Zuordnung bleiben. Die Fälle Guantánamo und Abu Ghraib sind nicht mit der Wahl Barack Obamas zum amerikanischen Präsidenten abgeschlossen, im Gegenteil. [4] Insgesamt erlebe ich meine amerikanische Nationalität als einen vorwärtsgerichteten Bestandteil meines Lebens. Ich hoffe, und vielleicht bin ich dabei manchmal zu optimistisch, dass ich mit meiner Lehre und meinem Schreiben zumindest ein wenig zu einer mit lebenswerten Situationen gefüllten Welt beitragen kann. Persönlich glaube ich nicht, dass ich dieses Ziel damit erreichen kann, alles was ich als Literaturprofessor vermitteln muss, zu „politisieren“. Der Schwerpunkt liegt darin, meinen Studenten dazu zu verhelfen, viele der Möglichkeiten und Realitäten ihrer Existenz zu schätzen und sogar lieb zu gewinnen. All dies ist sehr verschieden und sogar abgekoppelt von meiner deutschen Nationalität, die sich, wie ich zu beschreiben versucht habe, bei vielen Deutschen aus meiner Generation regelrecht darin verzehrt hat, aus dem Blickpunkt einer historischen Wiedergutmachung die Verantwortung für Taten zu übernehmen, die wir nicht begangen haben. Für die meisten Menschen sind diese zwei Seiten einer Nationalität natürlich Teil eines einzigen Bildfeldes der Erinnerung und Verantwortung. Und die einzige Rechtfertigung dafür, dass ich so viel von meinem eigenen Leben erzähle, liegt darin, dass es sich anbietet, um zu zeigen, wie asymmetrisch diese beiden Seiten von Nationalität manchmal sein können. Ich schulde dem Leser noch eine Bemerkung im Hinblick auf das, was an den Vereinigten Staaten als Rahmen für eine funktionierende nationale Identität vielleicht einzigartig ist. Warum rief dieses Land bis heute nicht mehr paradoxe Reaktionen hervor im Namen der Staaten, oder historisch gesehen, der verschiedenen ehemaligen Kolonien und all der verschiedenen ethnischen Gruppen, welche die 83 amerikanische Bevölkerung ausmachen? Sollte eine solche qualitative Unterschiedlichkeit zwischen den Vereinigten Staaten und anderen hegemonialen Mächten tatsächlich bestehen, so glaube ich, dass dies etwas mit der Tatsache zu tun hat, dass die Art von nationaler Einheit, welche die Vereinigten Staaten auszeichnet, eher konstitutionell bzw. eher eine rechtliche Realität ist, als eine Angelegenheit ethnischer und historischer Zugehörigkeit. Um diese Beobachtung in Worte des Alltags zu fassen: Die amerikanische Nationalität ist eher mit einer Mitgliedschaft in einem Verein [mit seinen speziellen Pflichten und Privilegien] als mit der Zugehörigkeit zu einer Familie [mit ihrem speziellen Stammbaum] vergleichbar. Daraus ergeben sich zwei spezifische Aspekte der nationalen Einheit. Als konstitutioneller Rahmen verstanden, wird diese von den ethnischen und kulturellen Bevölkerungsgruppen, aus denen die Nation sich zusammensetzt, kaum als eine Bedrohung der eigenen Identität wahrgenommen werden. Und obwohl diese Möglichkeit nicht immer auf effiziente Weise genutzt wird, sollte eine konstitutionelle Nationalität die zutreffenden prozessualen [d.h. rechtlichen] Werkzeuge zur Verfügung stellen, um diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die Verbrechen im Namen der Nation begangen haben. Doch wurde die Europäische Union nicht auf eben diesem Grundsatz errichtet, und löste sie damit nicht mehr Widerstand gegen ihre Integrationspolitik aus, als es die Vereinigten Staaten von Amerika [zumindest in ihren ersten einhundertfünfzig Jahren] jemals getan haben? Es gibt mehrere, zumeist graduelle Unterschiede, welche die disparaten Reaktionen erklären, welche die USA und die Europäische Union in ihrem geographischen und politischen Umfeld provoziert haben. Erstens war der Vorgang der europäischen Integration nicht, wie etwa die Formung der Vereinigten Staaten, frei von einem gewissen Identitätskonzept, das den strukturellen Ort von Selbstreferenz besetzt; zweitens übertrifft das Volumen der von der Europäischen Union in nur wenigen Jahrzehnten produzierten allgemeinen Gesetzgebung bei weitem das Volumen der bundesstaatlichen Gesetze in den Vereinigten Staaten; vor allem muss aber die europäische Integration in ihrer Geschwindigkeit als ein unnötig hastiger und sogar forcierter Prozess gesehen worden sein, wogegen die amerikanische Union hauptsächlich von plötzlich aufkommenden Gelegenheiten abhing. Lassen Sie mich abschließend betonen, dass das Recht, die nationale Eigenständigkeit zu verteidigen oder sogar zu begründen, durch das Prinzip der Souveränität gesichert ist. Daneben habe ich in diesem Text nationale Einheit als eine Gemeinschaft mit einer sowohl rückblickenden als auch vorausschauenden Verantwortlichkeit beschrieben. In diesem Sinne bin ich der Überzeugung, dass nationale Identität selbst im Zeitalter der „Globalisierung“ eine irreduzible Wirklichkeit bleiben sollte. Sicher, die „Nation“ als eine Gemeinschaft zu verstehen, welche Verantwortlichkeiten zuschreibt und damit sichert, scheint heutzutage nicht das vorherrschende Verständnis des Konzeptes der „Nation“ zu sein. Umso öfter wird die „Nationalitätskarte“ gespielt, um auf vergangene Situationen kollektiver Opferstigmatisierung anzuspielen, für die nun gegenwärtige und zukünftige Kompensation verlangt wird. In vielen Fällen - man denke nur an das Verhältnis zwischen 84 Israel und Deutschland als Nationen - sind solche Forderungen jenseits jedes geschichtlichen und ethischen Zweifels berechtigt. Andererseits kann es auch keinen Zweifel darüber geben, dass solche Forderungen Gemeinschaften des Ressentiments erzeugen oder kultivieren. Dies ist ein weiterer Grund, der mich glauben lässt, dass Nation, sofern wir heute dafür überhaupt einen Nutzen haben, in erster Linie als verfassungsmäßige Gemeinschaft mit interner Verantwortlichkeit verstanden werden sollte. Wenn mein Land sich mit Guantánamo und Abu Graib befasst hat, wird es sich überzeugender gegen internationalen Anti-Amerikanismus zur Wehr setzen können. (aus dem Englischen übersetzt von Suzanne S. Zuber) 1 Natürlich verwende ich diese Worte und Metaphern erst heute im Rückblick, um die Gefühle zu beschreiben, die in meiner Kindheit vorherrschten - Worte und Metaphern, die mir in meinen frühen Lebensjahren nicht zur Verfügung standen. Ich arbeite zur Zeit an einer Monographie über die „Stimmung“ in dem Jahrzehnt nach 1945, in der ich versuchen werde, die Perspektive eines Geschichtsforschers mit persönlichen Erinnerungen zusammenzuführen.