eJournals lendemains 34/133

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2009
34133

Zur Hybridität der Zeitschrift Lendemains

2009
Hans Manfred Bock
ldm341330023
23 Hans-Manfred Bock Zur Hybridität der Zeitschrift Lendemains Innovation, Integration, Praxisverpflichtung Die Printmedien, die im audio-visuellen Zeitalter zu überleben trachten, haben zwei Möglichkeiten: über sich selbst zu reden oder von sich reden zu machen. Dieser Marketingregel können sich nachgerade auch die wissenschaftlichen Zeitschriften nicht entziehen. Lendemains hat in seiner bald 35jährigen Existenz eindeutig mehr über sich reden gemacht (im konstruktiven, wie im destruktiven Sinne) als über sich selbst geredet. 1 Wenn nun der 70. Geburtstag des Zeitschriftengründers Michael Nerlich mit dem 35. Jahrgang des Periodikums nahezu koinzidiert, so ist das ein gegebener Anlaß, auch einmal die Zeitschrift selbst zu thematisieren aus der Sicht eines ihrer Mitherausgeber. Dies soll in den folgenden Anmerkungen geschehen. Und zwar ohne die Absicht, ein Programm nachzureichen bzw. neu zu verkünden, oder die Geschichte des Periodikums zu umreißen (was eine Aufgabe für Außenstehende wäre). Vielmehr sollen die unverändert aktuellen Wirkungsabsichten von Lendemains dargestellt und zur Diskussion gestellt werden. Der Begriff der Hybridität - so wie er gegenwärtig in positiver Semantisierung in den Kulturwissenschaften im Umlauf ist - vermag einige Eigenschaften der Zeitschrift zu bündeln, die mehr das Ergebnis lebendiger Entwicklung als das Resultat eines starren vorgefertigten Programms sind. Unter Hybridität soll in diesem Kontext verstanden werden die Verbindung von Eigenschaften einer Kulturobjektivation, die in der Regel gegensätzlichen, unterschiedlichen oder weit auseinander liegenden Systemen bzw. Spezies angehören, und die durch deren Verbindung eine neue Qualität erlangen. Da Zeitschriften als Reflexionsforen nationaler oder wissenschaftlicher Öffentlichkeit seit ihrer Entstehung in der uns heute geläufigen Form im ausgehenden 19. Jahrhundert 2 immer mindestens ebenso sehr Produkte der Zeitläufe sind, in denen sie erscheinen, wie Akteure, die auf diese Politik- und Gesellschaftskonstellation Einfluß zu nehmen versuchen, muß diese doppelte Frage nach der zeitgeschichtlichen Geprägtheit und Prägekraft von Lendemains zumindest angeschnitten werden. Die ersten Jahrgänge von Lendemains lassen keinen Zweifel daran, daß hier Personen und Themen zusammenkamen, die gesellschaftlich und fachlich etwas zum besseren hin bewegen wollten. Daß dies nicht nur ein naiver politischer Fortschrittsoptimismus war, sondern ein reflektierter (das heißt argumentativ begründeter) intellektueller Gestaltungswille, wird in der Genese der Namensgebung für die Zeitschrift erkennbar. 3 Die „lendemains“ waren nicht allein eine Hommage an alle Widerstandskämpfer gegen den Faschismus, sondern auch eine Reverenz an die republikanischen, aufklärerischen und älteren Vertreter der Idee, daß die Menschen imstande sind (bzw. sein sollen), ihre öffentlichen Angelegenheiten vernunftbegründet und gewaltvermeidend zu regeln. 24 Dieser Minimalkonsens, der für die Gründergruppe bei der älteren Generation der Intellektuellen die Sympathie z. Bsp. von Wilhelm Alf und Werner Krauss sicherte, wurde in der aufgewühlten geistigen Atmosphäre der nach-achtundsechziger Bundesrepublik und des Brandtschen „Radikalenerlasses“ (1972) im universitären Bereich als Provokation aufgefaßt. Zumal da die jungen Hochschullehrer, die sich an der Zeitschriftengründung beteiligten, aus ihren lebensgeschichtlichen Erfahrungen in Frankreich die Überzeugung mitbrachten, daß eine solche Wertorientierung politisch vertreten werden müsse. Der politische Resonanzboden der Zeitschrift war in den Anfängen, Mitte der siebziger Jahre, die sich fragmentierende Studentenbewegung, die sich teilweise in den K-Gruppen selbst marginalisierte, teilweise in die Neuen Sozialen Bewegungen einmündete und teilweise in der DKP ein politisches Gehäuse suchte. Das politisch-publizistische Refugium, zu dem Lendemains in der Gründungsphase Zuflucht nahm und bei dem es technischen Beistand fand, waren politisch-kulturelle Zeitschriften, die aus der älteren neutralistischen Tradition in der Bundesrepublik kamen (Deutsche Volkszeitung), in der Kampagne Kampf dem Atomtod (KdA) (Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaft) oder in der Studentenbewegung entstanden waren (die anfänglich linkssozialistische Sozialistische Politik (SoPo) am Berliner Otto-Suhr-Institut). Da einige dieser Periodika in den frühen siebziger Jahren in den organisatorischen Einflußbereich der DKP gerieten, stand die neue romanistische Zeitschrift bei ihren Gegnern von Anfang an in dem Verruf, ein unsicherer Kombattant im Kalten Krieg zu sein. Die ganze Wucht dieser Kritik, die mehr von der Ablehnung jeglicher „Politisierung“ der Romanistik bestimmt war als von Beweisen für mangelnde politische Korrektheit, traf Michael Nerlich in der Frontstadt Berlin. Andererseits war die Zustimmung zu seinem Projekt bei einer Reihe von gleichaltrigen Hochschulkollegen (von denen einige zu ständigen Mitarbeitern der Zeitschrift wurden) und die Abonnement-Bereitschaft der Studierenden (von denen einige zu unentbehrlichen redaktionellen Helfern wurden) in den siebziger Jahren so hoch wie später niemals mehr. Tatsächlich bedeutete die technische Zusammenarbeit mit z. Bsp. dem SoPo- und dem Pahl-Rugenstein-Verlag nicht im mindesten deren Einflußnahme auf die redaktionelle und inhaltliche Gestaltung der Zeitschrift. 4 Die Unbefangenheit der Gründerriege von Lendemains im Umgang mit den Parteien der Linken, die sie im Frankreich der Union de la gauche erworben hatte und in Deutschland zu praktizieren suchte, brachte ihr in ihrem ersten Jahrzehnt relativ hohe Abonnentenzahlen in der akademischen Öffentlichkeit ein und zugleich das Verdikt der Botmäßigkeit gegenüber der DKP/ SEW durch ihre politischen Gegner. Im Laufe der achtziger Jahre zerbrach der gesellschaftliche Resonanzboden der Anfangsjahre der Zeitschrift in dem Maße, wie sich die Reformimpulse in den Neuen Sozialen Bewegungen eine Bahn schufen, in denen lebensweltliche Probleme (Ökologie, Friedenssicherung, Frauenemanzipation) höhere Priorität erhielten als intellektuelle und akademische Fragen. Lendemains verstärkte ab Mitte der achtziger Jahre hingegen diejenige Funktion der Zeitschrift, die auch vorher schon zu 25 ihren erklärten Zielen gehört hatte. Nämlich ein Forum für den intellektuellen und wissenschaftlichen Transfer zwischen beiden Ländern zu sein und die deutsche Frankreichforschung zu fördern. Möglicherweise trug zu dieser Umakzentuierung auch die Tatsache bei, daß mit dem Ende der Union de la gauche ab Mitte der achtziger Jahre der Glanz des politischen Exempels in der Ära Mitterrand zu verblassen begann. Redaktionspolitisch blieb für das Periodikum ein Konsens unverändert, den Michael Nerlich rückblickend so formuliert hat: „Introduire l’esprit républicain francophile, représenté par des grands Allemands de Heinrich Heine à Heinrich Mann, dans la recherche allemande sur la France et avec cela dans la romanistique par le biais du choix des méthodes et des sujets, tout en laissant une liberté totale aux collaborateurs à condition de ne pas afficher des idées d’extrême droite, xénophobes, racistes, antifrançaises ou antiféministes.“ 5 Daß dieser Konsens von niemandem dekretiert werden mußte, jedoch die Herausgeber und Mitarbeiter vereinte, kann ich aufgrund der zwölfjährigen Zusammenarbeit mit Michael Nerlich und Evelyne Sinnassamy bei der Edition von Lendemains und in Erinnerung an viele freundschaftliche Berliner Redaktionssitzungen nur bestätigen. Freundlicher Widerspruch indes sei angemeldet, wenn der Gründer der Zeitschrift gelegentlich formuliert, sie sei in den neunziger Jahren zu einer „revue scientifique ‘normale’“ geworden. 6 Die fortgesetzte Originalität des Periodikums besteht (nach meinem Urteil) in seiner Hybridität und ist nachweisbar an drei Kennworten. 1. Innovation Der intellektuelle Gestaltungswille, aus dem die Zeitschrift hervorging, war republikanisch-politisch und kritisch-fachpolitisch zugleich. Er zielte auf die wissenschaftstheoretische und -organisatorische Struktur der Romanistik, die dem prüfend selbstkritischen Blick ausgesetzt werden sollte. Nerlich formulierte diesen Anspruch 1977 so: „[...] unser Verhältnis zu Frankreich bleibt unaufhörliche Aufgabe für uns: es wird erst vorurteilsfrei sein, wissenschaftlich und völkerverbindend, wenn die demokratischen Traditionen der französischen Vergangenheit in einer gemeinsamen demokratischen Gegenwart aufgehoben werden.“ 7 Dieser innovatorische Anspruch wurde in dem Band Kritik der Frankreichforschung, der im Argument- Verlag erschien, erstmals in größerem Umfang einzulösen versucht durch eine Sammlung historischer Studien zur Frankreichdarstellung in den Geschichts-, Literatur- und Sprachwissenschaften sowie im Französisch-Unterricht. Auch die in den ersten Jahrgängen von Lendemains erscheinenden entsprechenden Beiträge hatten einen vorwiegend fachhistorischen und in geringerem Maße epistemologischen Zuschnitt. Der Gründer der Zeitschrift war schon 1972 mit einem fachkritischen Aufsatz im Argument hervorgetreten, der die historische Rolle von Ernst Robert Curtius in den deutsch-französischen Beziehungen und dessen Rolle als geistige Integrationsgestalt der westdeutschen Nachkriegs-Romanistik mit polemischer Verve thematisierte. 8 Dieser ikonoklastische Aufsatz bot viele Ansatzpunkte der historischen Kritik, 9 war jedoch ein nachhaltiger Stimulus für die selbstkritische Befassung der Romanistik mit ihrer eigenen Fachgeschichte. 26 Diese begann in den siebziger Jahren auf breiter Front in den verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften und war auch in der Romanistik überfällig. Die durch diese breite Front hindurchreichende Fragestellung war: Aus welchen Antrieben, mit welchen Konzepten und welchen Folgen die Nationalphilologien in der Zwischen- und Nachkriegszeit eine offene oder uneingestandene politische Legitimationsfunktion ausgeübt hatten. In Lendemains wurde in der Folgezeit dieser Fragenkomplex in zahlreichen monographischen und dokumentarischen Beiträgen aufgegriffen und die fachgeschichtliche Selbstbefragung macht bis heute einen Teil der Originalität der Zeitschrift aus. Und zwar gerade dadurch, daß in der Romanistik beide Grundformen (und mögliche Mischformen) der politischen Legitimationsfunktion, die der primär eigennationalen oder die der wesentlich übernationalen Identitätsstiftung, zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden. Nerlichs stark dichotomische Anfangshypothese, daß es die uneingestandene politische Hauptaufgabe der Dietzschen Romanistik-Konzeption seit dem frühen 19. Jahrhundert gewesen sei, als „Kriegsmaschine“ gegen die französische Nationalkultur und zur Absicherung bzw. Selbstbehauptung deutscher Kollektividentität zu dienen, 10 hat sich teils bestätigt, teils als fragwürdig erwiesen und auf jeden Fall differenziert. Die komplementäre fachgeschichtliche Arbeitshypothese, daß die Kritiker der primären Arbeit an der eigennationalen Identitätsbildung zu jeder Zeit in der Romanistik-Geschichte in der Minderheit gewesen seien, hat sich durch neuere einschlägige Forschungen eindeutiger bestätigt. 11 Aber auch hier hat die Diskussion über die nicht nur politischen, sondern auch methodologischen Anschlußmöglichkeiten an die kritische Minderheitstradition in der romanistischen Fachgeschichte noch kaum begonnen. Die Zweckbestimmung der fachgeschichtlichen Forschungen in Lendemains (im Verhältnis zu denen die wissenschaftstheoretische Reflexion defizitär geblieben ist) war jederzeit darauf gerichtet, zur zeitgemäßen Erneuerung der Wissenschaftsdisziplin beizutragen und diese zu fördern. Angesichts der beschleunigten Veränderung der nationalstaatlichen Verfaßtheit der Gesellschaften im Zeichen der Europäisierung und Globalisierung ist es absurd und letztlich selbstmörderisch für eine Hochschul-Disziplin, diesen neuen Gegebenheiten nicht Rechnung zu tragen. Ihre politische Legitimationsquelle kann nicht länger vorrangig die Vollendung der nationalen Eigenkultur sein, sondern muß die Weiterformung derselben durch die Öffnung zu denjenigen nationalen Fremdkulturen werden, mit denen die historischen Verknüpfungen und der sozio-ökonomische Verkehr dies nahelegen. Es gibt in der minoritären Wissenschaftstradition der Romanistik Forscher, die die „naiven Gewißheiten“ (Victor Klemperer) der Existenz unveränderlicher Nationalcharaktere in Frage gestellt haben und denen Lendemains viel Aufmerksamkeit gewidmet hat. 12 Diese Forschungen müssen fortgesetzt werden, und die Entwürfe übernationaler Zusammenarbeit und wechselseitiger Verflechtung zwischen Deutschland und Frankreich sowie anderen Nationen sind kritisch zu befragen auf ihre Übertragbarkeit auf die Gegenwart. 27 Deutsche Romanisten und französische Germanisten sind im 19. und 20. Jahrhundert immer zugleich (und selten ausschließlich) Konstrukteure und Kritiker nationaler Identität gewesen. Da sich diese tragende Legitimationsgrundlage im Übergang zum 21. Jahrhundert als immer brüchiger erweist, ist es nicht verwunderlich, sondern erfreulich, daß die Aufgabe der Erforschung dieser Doppelfunktion, die von den Vertretern der Nationalphilologien ausgeübt wurde, in den letzten zehn Jahren in beiden Ländern insbesondere auch von jüngeren Wissenschaftlern aufgenommen wurde. 13 Die bahnbrechenden fachgeschichtlichen Studien von Frank-Rutger Hausmann zur deutschen Romanistik haben hier wohl bereits anregend gewirkt. Ihre engere fachöffentliche Diskussion in der (Franko-)Romanistik ist hingegen bislang schwächer als ihre Kenntnisnahme in der breiteren Medien-Öffentlichkeit. Ohne diese fachinterne Debatte über epistemologische Verirrungen und politische Irrtümer, aber auch über die methodologischen und quellenbezogenen Probleme dieser Forschungen besteht die Gefahr, daß ihre Ergebnisse ungewollt zum Alibi geraten und die Reformeffekte, die von ihnen ausgehen könnten, ausbleiben. Die selbstkritische Fachgeschichte wird in den anderen Geistes- und Sozialwissenschaften, in den Geschichtswissenschaften und der Germanistik, in den Politikwissenschaften und der Soziologie z.B., inzwischen eingehender betrieben und lebhafter diskutiert als in der Romanistik. So ganz abwegig kann die beharrliche Aufforderung zur Aufarbeitung der Fach- und Wissenschaftsgeschichte, die in Lendemains vertreten wird, also nicht gewesen sein. Auch das Argument, daß die Heftigkeit der Nerlichschen historischen Fachkritik eine systematische Bearbeitung dieses Sujets eher behindert als gefördert habe, kann nach den mittlerweile von verschiedenen Autoren vorgelegten Studien nicht mehr überzeugen. Als Vehikel romanistischer Reform gab Lendemains in den siebziger Jahren der Konferenz der Romanischen Seminare der Bundesrepublik Deutschland und Westberlins viel Raum. Diese hochschulpolitische Vereinigung nahm dezidiert kritisch öffentlich Stellung zu den Fällen, in denen Romanisten aufgrund des „Radikalenerlasses“ disziplinarrechtlich belangt wurden. Sie leistete aber auch Reformarbeit im Detail, indem sie in vielen Kommissionen technisch elaborierte Vorschläge zur Neugestaltung von Studium und Lehre der Romanistik vorlegte. Während diese hochschulpolitischen Aktivitäten in den achtziger Jahren zum Erliegen kamen, traten die Umrisse einer wissenschaftspolitischen Reform-Allianz in der Zeitschrift mit größerer Beständigkeit hervor. Michael Nerlich hat sie rückblickend charakterisiert als Verbindung mit „bereits bestehenden, bislang aber eher marginalisierten Potentialen“ 14 der Franko-Romanistik, die durch die Reformbewegung möglich geworden sei. Diese wissenschaftspolitischen Potentiale macht er aus in der „Konstanzer Schule um Hans Robert Jauß mit seiner hermeneutisch-geschichtlichen Rezeptionsästhetik“ und in der „Freiburger Schule um den Krauss- Schüler Erich Köhler mit ihrem sozialgeschichtlich-soziologischen Forschungsanspruch“. 15 Es stellte sich namentlich mit den Literaturwissenschaftlern beider „Schulen“, die in den siebziger Jahren Professuren erhielten, ein Diskussions- und punktueller Arbeitszusammenhang her, der für die literaturwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Studien in Lendemains Maßstäbe setzte. 28 Zu den bleibenden Hybriditätsmerkmalen der Zeitschrift wurde es auch, daß in ihren Rubriken neben den (in der Regel) solide recherchierten und belegten Abhandlungen andere Textsorten Aufnahme fanden. Und zwar fachliche und aktualitätsbezogene Diskussionen und Berichte ebenso wie die (lange Zeit von Alain Lance und Evelyne Sinnassamy höchst kompetent betreute) Rubrik der französischen Erstveröffentlichung von belletristischen Kurztexten. Wurden anfangs noch die wissenschaftlichen Texte der Zeitschrift vom Französischen ins Deutsche übersetzt, so wurde es bald schon zur Regel, dem Prinzip der Zweisprachigkeit zu folgen. Dies trug wahrscheinlich zum Verlust von Abonnenten in den achtziger Jahren bei, war aber für die Anwerbung frankophoner Autoren förderlich. Auf diese Weise konnte in Lendemains ein kleines Stück weit grenzüberschreitende wissenschaftliche Öffentlichkeit hergestellt werden. Auch die Textvariante des Essays, eine literarische Darbietungsform der klassischen Kulturzeitschrift, findet in Lendemains ihren Platz. Insofern mischen sich auch typische Komponenten der Wissenschafts- und der Kulturzeitschrift in dem unkonventionellen Periodikum, das weit mehr ein Spiegel wissenschaftlicher und intellektueller Kontroversen als nur eine Chronik des franko-romanistischen Fachbetriebs geworden ist. Die wissenschaftlichen Innovationsanläufe und Reformbestrebungen, die den Weg der Zeitschrift abstecken, sind gegenwärtig keineswegs obsolet, obwohl die Auswirkungen des Bologna-Prozesses auf die Franko-Romanistik den gegenteiligen Eindruck vermitteln können. Dessen „effets pervers“ bewirken dort zur Zeit die Untergangsperspektive einer Entkernung, Wegrationalisierung und Parzellierung der Hochschul-Disziplin. 16 „Daß gerade ein Fach wie die Romanistik mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses besondere Probleme hat, entbehrt nicht der Ironie. Denn paradoxerweise ist es die europäisch-romanische Orientierung, die beim Bologna-Prozeß auf der Strecke bleiben könnte, da er den bisherigen Fachstrukturen den Boden zu entziehen droht.“ 17 Nachdem viele Jahre lang in der Romanistik mit dem Argument der drohenden „Entphilologisierung“ der Disziplin deren Reformen teilweise abgeblockt wurden, zeichnet sich nun die noch größere Gefahr ihrer „Entromanisierung“ ab. Das ist kein gutes Klima für eine Erneuerung. Aber durch die ungewollten Effekte einer administrativ durchgedrückten Reform vor die Existenzfrage gestellt, wird die wissenschaftspolitische Diskussion weitergehen müssen. 2. Integration Neben der zeitgemäßen Innovation des historischen Bauplans der Romanistik unter Berufung auf republikanische Werte richtete sich der intellektuelle Gestaltungswille, der in Lendemains von Anfang an zum Ausdruck kam, auf ein zweites Reformprojekt, das nicht ohne inneren Zusammenhang war mit den vorfindlichen Strukturen der Hochschuldisziplin. Es ging um die Neufundierung und Integration eines Lehr- und Forschungssegments, das in der Geschichte der Franko-Romanistik unter den Schlagwörtern der „Realienkunde“ und der „Kulturkunde“ immer schon eine Rolle gespielt hatte und das (mit vollem Recht) in Verruf geraten war 29 nach den politisch kompromittierlichen Erfahrungen, die Vertreter des Faches mit dieser Komponente ihrer Disziplin gemacht hatten. 18 Ernst Robert Curtius gehörte zu diesen Fachvertretern und er hatte nach 1945 die Parole ausgegeben, die Finger von dieser heiklen Aufgabe zu lassen und zur reinen modernisierten Philologie zurückzukehren. 19 Der Mindestkonsens zwischen den Gründern von Lendemains und denen, die sich ihrem Projekt anschlossen, war, daß der Versuch, gemeinsame französische und deutsche republikanische Traditionen zu aktualisieren und zur inneren Festigung der deutsch-französischen Beziehungen zu nutzen, auf diesen Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis und Lehre nicht verzichten konnte. Er sollte nicht länger an (mehr oder minder gut vorbereitete) Französisch-Lektoren delegiert, sondern reflektiert erneuert und in den Fachkanon integriert werden. Dieser Teil des Erneuerungsprogramms von Lendemains setzte auf die - wie auch immer geartete - Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften, die in den siebziger Jahren ihre entscheidende Institutionalisierungs- und Professionalisierungsperiode in der Bundesrepublik durchliefen. Die prinzipielle (wenngleich noch nicht sehr zielgerichtete) Bedarfsanmeldung an kompetenter Forschung und Unterrichtung über die Geschichte, Politik und Gesellschaft des Nachbarlandes Frankreich findet sich explizit in den zahlreichen Resolutionen der Konferenz der Romanischen Seminare der siebziger und frühen achtziger Jahre. Begünstigt und gefördert wurden diese Forderungen durch den nach 1963 erfolgenden institutionellen Ausbau der bilateralen Kulturbeziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland. 20 Während in den ersten zehn Jahren die auf diesen Arbeitsbereich bezogenen Beiträge in Lendemains oft mehr von politischem Enthusiasmus und Identifikationswillen mit den aktuellen Vorgängen in Frankreich bestimmt waren als von sozialwissenschaftlicher Kompetenz, profilierte sich zur selben Zeit ab den siebziger Jahren ein auf das Nachbarland bezogenes professionelles Forschungsinteresse an zwei Stellen der wissenschaftlichen Landschaft der Bundesrepublik. Zum einen war das die historisch-sozialwissenschaftliche Forschungstätigkeit, die Gilbert Ziebura zuerst am Berliner Otto-Suhr-Institut und dann an anderen Orten seiner akademischen peregrinatio mit seinen Mitarbeitern entfaltete. 21 Zum anderen nahm das Deutsch-Französische Institut (DFI) in Ludwigsburg nach der Übernahme seiner Leitung durch Robert Picht (1972) eine neue Gestalt an als Treffpunkt sozialwissenschaftlicher Frankreichforschung. 22 Lendemains stand mit beiden Initiativgruppen sozialwissenschaftlicher Frankreichforschung in Verbindung. Und zwar (anfangs) durch die Mitarbeit von Heinz Gerhard Haupt und (auf Dauer) durch Roland Höhne, beide Ziebura-Schüler und Frankreichexperten. Auch zum Ludwigsburger DFI gab es, vermittelt über meine Mitarbeit an beiden Orten, punktuelle Verbindungen, die aber aufgrund politischer Unverträglichkeiten keine dauerhafte institutionelle Form annahmen. Nach meiner Übernahme der Herausgeber-Verantwortung für den historisch-sozialwissenschaftlichen Teil der Zeitschrift (1988) und meinem Einstieg in die Herausgeber-Equipe des Ludwigsburger Frankreich-Jahrbuchs kam dann aber doch qua Personalunion ein auf Dauer (bis 2000) gestelltes Verhältnis wechselseitiger Respektierung und 30 Kenntnisnahme zustande. Es gehört zu den irrationalen (und damit letztlich rätselhaften) Verweigerungen im Reformprozeß der Franko-Romanistik, daß von ihr das Angebot des DFI-Direktors zur produktiven Zusammenarbeit abgelehnt wurde, 23 das von Seiten von Lendemains wenn schon nicht institutionell, so doch zumindest faktisch umgesetzt wurde. Als Dokument der versuchten Gemeinsamkeit zwischen Lendemains und DFI mit dem Ziel der sozialwissenschaftlichen Fundamentierung der „Landeswissenschaften“, wie dessen Befürworter das Zielobjekt zu benennen begannen, mag der Beitrag Michael Nerlichs zur ersten großen programmatischen Buchveröffentlichung des DFI gelten, die 1974 erschien und die unmittelbar durch Robert Pichts und mein Auftreten vor dem Plenum des Romanistentages in Heidelberg (1973) angeregt worden war. Sie trug den bezeichnend hoffnungsvollen Untertitel „Ansätze zu einer interdisziplinär orientierten Romanistik“. 24 Nerlich plädierte dort „Gegen die ‘ Landeskunde’ - für die Vernunft“ und meinte damit die diskreditierte Kulturkunde- Tradition der deutschen Romanistik und deren Ersetzung durch die „wesentlichen Bestandteile des Französischstudiums“, als die ihm „Ökonomie, Politik (Geschichte), Kultur (speziell Literatur und Medien) und Sprachunterricht (sowie Sprachwissenschaft)“ galten. 25 Er pointierte den Handlungsbedarf in dieser Frage der Fach-Erneuerung durch Integration neuer Erkenntnisbereiche, indem er in Aussicht stellte, was die voraussehbaren Folgen des Scheiterns dieser Aufgabe wären: „Dann ist die Frist bereits jetzt abgelaufen zugunsten der pragmatischen Nutzeffekterhöhung der Ausbildung zur Französisch sprechenden Produktivkraft.“ 26 Die in den folgenden Jahrzehnten nie ganz verstummende Debatte über diese Art der Hybridisierung der Romanistik zum Zwecke ihrer besseren Überlebensmöglichkeiten führte niemals zu einem Einvernehmen aller Beteiligten. Sie lief sich vor allem fest in der umstrittenen Frage der Überbzw. Unterordnung der an diesem neu zu bauenden Disziplinen-Gefüge beteiligten Fachanteile. Vor allem von den romanistischen Literaturwissenschaftlern und -historikern, die zur gleichen Zeit den Siegeszug der Didaktik als universitäre Komponente der Romanistik zu verkraften hatten, kam die Einwendung, das bedeute eine verdeckte „Entphilologisierung“ ihrer Disziplin. Die konstruktivste Einlassung auf die in der „Landeswissenschaften“-Diskussion verhandelten Fragen kam aus den Reihen der Hochschul- und Schuldidaktiker, deren Argumente in den siebziger und achtziger Jahren schwer wogen, da zu der Zeit noch die gesellschaftliche Hauptaufgabe der Franko-Romanistik in der Ausbildung von Französischlehrern bestand. In der Zusammenarbeit von Didaktikern und DFI-Sozialwissenschaftlern wurden z.B. die „Stuttgarter Thesen zur Landeskunde im Französischunterricht“ formuliert, 27 die zumindest in die Französischlehrer-Ausbildung hinein Auswirkungen hatten. 28 Die Landeswissenschaften-Debatte wurde jederzeit in Lendemains nicht nur registriert, sondern auch aktiv geführt, fand aber auch im Frankreich-Jahrbuch eine Plattform. Die institutionelle Verankerung der Landeswissenschaften bzw. der Kulturwissenschaften durch die Einrichtung von entsprechenden Romanistik-Professuren begann in den achtziger Jahren in begrenztem Umfang und auf durchaus unter- 31 schiedlichen konzeptionellen Grundlagen. 29 Sie muß auf diesem erhöhten institutionellen Sockel auch theoretisch und methodologisch fortgeführt werden im Dialog mit den Literatur- und Sprachwissenschaften sowie der Sprachlehrforschung. Auch in diesem Bereich lebendiger Wissenschaftsentwicklung hat Lendemains Anstöße gegeben, ohne die in dieser Zeitschrift bevorzugte sozialwissenschaftliche Begründungsvariante der Landeswissenschaften auf breiter Front durchsetzen zu können. Dies ist umso weniger schwerwiegend, weil das Periodikum seit den späten 1980er Jahren zu einem publizistischen Gravitationszentrum historisch-soziologischer Erforschung der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen für das 20. Jahrhundert geworden ist. In diesem Forschungsansatz sind die sozial- und kulturwissenschaftlichen Konzepte keine Gegensätze, sondern komplementäre Erkenntniskategorien. Es bleibt allerdings auf allen Ebenen (auf dem wissenschaftstheoretischen, methodologischen und konzeptuellen Niveau) ein beträchtlicher Klärungsbedarf mit Bezug auf die Anschluß- und Verbindungsmöglichkeiten zu den traditionellen Subdisziplinen (Literatur- und Sprachwissenschaft) und der Sprachlehrforschung. Die bisherigen hochschulpraktischen Erfahrungen im Umgang mit dieser Herausforderung zeigen sinnvolle Möglichkeiten auf niedrigerem Niveau (thematische Komplementarität) oder auf höherer Stufe (methodische Verschränkung). 30 Auch hier muß konstatiert werden, daß eine solche Zusammenführung in Zeiten der wissenschaftlichen Grundlagenkrise nicht leichter wird, da die einzelnen Disziplinen unter diesen Umständen eine Tendenz entwickeln, sich im Kampf um die Ressourcen gegeneinander abzuschließen und sich in ihrem Themenkanon und etablierten Kategoriesystem einzuigeln. 31 3. Praxisverpflichtung Der dritte Hybriditätsaspekt von Lendemains besteht darin, daß die Zeitschrift mit ihrer praktischen Wirkungsabsicht auf die soziokulturellen Akteure der deutschfranzösischen Verständigung und Kooperation verwiesen ist. Diese Akteure sind die Französischlehrer, denen immer schon die Aufmerksamkeit der Hochschul-Romanistik galt. Neu ist aber in den bilateralen Beziehungen des 20. Jahrhunderts, daß eine stetig wachsende Zahl von zivilgesellschaftlichen Akteuren dort tätig werden, die weder Instrumente der offiziellen Kulturpolitik zwischen beiden Nationen, noch isolierte Privatleute sind. Sie konstituierten sich in organisatorischer Gestalt während der hoffnungsträchtigen Locarno-Ära der späten 1920er Jahre, wurden von den Nationalsozialisten von 1935 bis 1945 für die Zwecke der kulturellen Unterwanderung genutzt und entfalteten sich auf neuer Grundlage vor allem in den Nachkriegsjahrzehnten. 32 In diesen Organisationen ist das Informations- und Interpretationsbedürfnis über das andere Land konzentriert und die dort aktiven Mitglieder sind potentielle Multiplikatoren im zwischenstaatlichen Kommunikationsraum. Die von Michael Nerlich vertretene Vorstellung von der deutsch-französischen Gemeinsamkeit im Geiste der Republik hatte z.B. Vorläufer in der Zwischenkriegszeit, die (in Frankreich und Deutschland) in der Ligue des droits de l’homme / Bund 32 Neues Vaterland, dann Deutsche Liga für Menschenrechte oder (in Frankreich) in der Union pour la vérité sich zusammenschlossen. 33 Die praxisverpflichteten Merkmale von Lendemains traten - auch in der Folge des cultural turn in den Geschichts- und Sozialwissenschaften seit den 1980er Jahren - vor allem in zwei Forschungsfeldern hervor, die teilweise erst definiert werden mußten. Nämlich in der Intellektuellenforschung und in der Forschung zu den zivilgesellschaftlichen Akteuren zwischen beiden Nationen. Die Intellektuellen-Thematik war seit dem ersten Heft von Lendemains gegenwärtig in der Zeitschrift, da diese (in Frankreich traditionell anders als in Deutschland bewertete) Sozialfigur gleichsam die modale Persönlichkeit der „republikanischen Synthese“ im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts darstellte. 34 Nicht nur die dominant positive Konnotation des Intellektuellen-Begriffs war in Frankreich weiterentwickelt, sondern auch die geschichts- und sozialwissenschaftliche Bearbeitung des Themas war in den achtziger Jahren dort weiter fortgeschritten. Es galt, die Erträge dieser Forschungen (für die Jean-François Sirinelli und Pierre Bourdieu die sichtbarsten Schrittmacher waren) zur Kenntnis zu nehmen, weiterzudenken und auf das Beispiel anderer Länder anzuwenden. Durch die enge und freundschaftliche Zusammenarbeit mit dem Groupe de recherches sur les intellectuels und insbesondere mit Michel Trebitsch und Nicole Racine 35 konnte Lendemains in diesem Forschungsfeld eine gewisse Pionierfunktion übernehmen. Die wichtigsten ersten Schritte waren hier, den in Deutschland vorwiegend als Invektive gebrauchten Begriff von seiner polemischen Semantisierung zu befreien und den harten konzeptuellen Kern freizulegen. Das heißt, den Intellektuellen als historische und gegenwärtige Sozialfigur beschreibbar und interpretierbar zu machen. Das heißt auch, den Begriff und seinen Gegenstand aus dem emphatischen Sprachgebrauch herauszuheben und die Bedingungen der Entstehung, Wirkungsweise und Wirkungswege der Sozialfigur des Intellektuellen zu untersuchen. Der Intellektuelle, der seine Deutungsmacht, sein Organisationstalent und seine Überzeugungskraft für die Intensivierung der deutsch-französischen Beziehungen einsetzt, wird ein „Mittler“ genannt. 36 In dieser besonderen Variante des intellektuellen Mittlers, die zahlreiche Verbindungen zur Sozialgeschichte der deutschen Romanisten und französischen Germanisten einschließt, wurde das Thema in Lendemains besonders eingehend erforscht. Die kollektive, gruppenförmige Entsprechung zur individuellen Mittlerfunktion der Intellektuellen findet man in der Tätigkeit der zivilgesellschaftlichen Akteure, die zwischen beiden Ländern aktiv sind. Auch in diesem praxisbezogenen Forschungsfeld war erst einmal konzeptuelle Klärung zu schaffen. Den Weg dazu wies der seit den achtziger Jahren zirkulierende Allerweltsbegriff der Zivilgesellschaft. Da dies Konzept primär auf innenpolitische Willensbildungsprozesse bezogen war, mußte seine Brauchbarkeit für das Verstehen außenpolitischer Willensbildung und Entscheidungsfindung überprüft werden. Dies geschah anhand historischer und aktueller Fallbeispiele aus den deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen und in Übereinstimmung mit der Öffnung des Forschungs- 33 Designs der Internationalen Beziehungen für die Rolle nicht-gouvernementaler Handlungs- und gesellschaftlicher Normensysteme. Die auf diesem Feld in Lendemains unternommenen Studien richteten sich sowohl auf die offiziellen Akteure ministerieller Auswärtiger Kulturpolitik, als auch auf die zivilgesellschaftlichen Organisationen und die Bedeutung transnationaler privater Gesellschafts- und Kulturkontakte zwischen Deutschland und Frankreich. 37 Sie entstanden in Zusammenarbeit mit vielen Examinanden, Doktoranden und Habilitanden, die größtenteils in den deutsch-französischen Beziehungen tätig waren, und legten ein ganzes Archipel vergessener Organisationen, Institutionen und Gruppen frei. Lendemains bot für diese Forschungen ein publizistisches Forum und trug damit zur kontinuierlichen Arbeit an der Sozialgeschichte der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen bei, die heute ein multidisziplinäres fruchtbares Forschungsfeld ist. Diese Studien, die teilweise in Zusammenarbeit mit Vertretern kultureller Auslandsarbeit und zivilgesellschaftlicher Verständigungsorganisationen durchgeführt wurden, hatten und haben gleich mehrere Praxisaspekte. Sie ermöglichen den untersuchten Institutionen und Organisationen, ein historisches bzw. funktionales Selbstbewußtsein und damit eine höhere Selbstbestimmung im Umgang mit der politischen Administration und den Ansprechpartnern im Aufnahmeland zu entwickeln. Sie erlauben internes Lernen durch den Vergleich neuer mit alten Programmen bzw. Maßnahmen der Institutionen und Organisationen. Und besonders die historischen Aspekte dieser Studien sind unabdingbare Voraussetzungen für die adressatengerechte Gestaltung interkultureller Begegnungsprogramme. Dieser Bereich der Erforschung und Evaluierung bilateraler Kultur-Institutionen und -Organisationen war in Lendemains anfangs weniger zentral als seit den neunziger Jahren. Dafür war ausschlaggebend, daß die organisierten deutschfranzösischen Begegnungsaktivitäten in der Bundesrepublik sehr stark verwurzelt waren im christdemokratischen Milieu, 38 zu dem es vom linksrepublikanischen Selbstverständnis von Lendemains aus keine spontane Verbindung gab. Daß diese politischen Vorbehalte auf Gegenseitigkeit beruhten, wird deutlich an einer Episode, die Michael Nerlich gelegentlich berichtet. Diesem Bericht zufolge ließ ihn Joseph Rovan (1918-2004) in den frühen neunziger Jahren bei einem Berlin-Besuch wissen, daß für ihn die in der Zeitschrift während der ersten fünfzehn Jahre vertretenen Positionen im Gegensatz standen zu allem, wofür er in seinem Leben gestritten habe. Ein hartes Urteil des damals einflußreichen politischen Beraters von Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand, der zugleich eine richtungsweisende Rolle in den zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem DFJW und (seit 1945) im Bureau International de Liaison et de Documentation (BILD) ausübte. Ein ungerechtes Urteil auch, weil es der konstruktiven Reformorientierung und der intellektuellen Mehrschichtigkeit von Lendemains nicht gerecht wurde und aus dem Freund-Feind-Denken des Kalten Krieges entsprungen war. Es sollte übrigens nicht Rovans abschließendes Urteil über die romanistische Reformzeitschrift sein. Da ich während einer Gastprofessur am Institut d’Allemand d’Asnières ein Jahr lang das Dienstzimmer mit ihm teilte, hatte ich Gelegenheit, ihn näher kennenzu- 34 lernen und seine Mittler- und Intellektuellen-Qualitäten besser einzuschätzen. 39 Man wird in der Geschichte von Lendemains - wie generell in der Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik - die übermächtige Polarisierungswirkung des Kalten Krieges gar nicht hoch genug veranschlagen können, da sie auf der einen wie auf der anderen Seite das politische Urteil formte und deformierte gemäß der Logik des „Entweder-Oder“, die eine Argumentation des „Teils-Teils“ oder des „Sowohl-Als auch“ sehr schwierig machte. Michael Nerlichs Verhältnis zu den bilateralen zivilgesellschaftlichen Organisationen blieb unter den skizzierten Umständen eher distanziert. Er investierte in diesem Bereich aus überwiegend privater Initiative (und mit buchstäblich körperlichem Einsatz) seinen Verständigungswillen in den Aufbau des Museums in Charroux, dem französischen Ferienwohnsitz seiner Familie, der seit 2000 zum Hauptwohnsitz wurde. Er hat als Intellektueller, den nach Habermas ein geschärfter „Spürsinn für Relevanzen“ charakterisiert, 40 mit seinen Denk- und Handlungsanstößen viel veranlaßt und bewirkt in den deutschfranzösischen Beziehungen. Und er wird es weiterhin tun, solange es dort noch einen öffentlichen Raum zwischen Politik und Wissenschaft gibt. 1 Als Ausnahme cf. Lendemains, 2000, Heft 100, das Dossier über Deutsch-französische Zeitschriften; cf. besonders Michael Nerlich: lendemains, ou un mot d’adieu, und Evelyne Sinnassamy: lendemains, d’hier à aujourd’hui, de la machine à boule à internet. 2 Cf. dazu instruktiv: Michel Leymarie, Jacqueline Pluet-Despatin, Jean-Yves Mollier (dir.): La Belle Epoque des revues 1880-1914, Caen 2002; cf. auch Hans Manfred Bock, Michel Grunewald: Zeitschriften als Spiegel intellektueller Milieus, in dies. (eds.): Le milieu intellectuel de gauche en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890-1960). Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern 2002, 21-32. 3 Dazu Evelyne Sinnassamy, loc.cit., 43 sq. und Michael Nerlich, loc.cit., 29 sq. 4 Cf. ib., 45. Als ständiger Mitarbeiter ab der ersten Stunde an der Zeitschrift vermag ich dies zu bestätigen. 5 Michael Nerlich: lendemains, ou un mot d’adieu, loc.cit., 28. 6 Ib., 34. Er schreibt dort: „[…] en 1994, enfin, difficilement et suite à des prises de position publiques et engagées de Frank Benseler, Hans Robert Jauß, Ingo Kolboom, Jean Mondot et Charles Porset, une subvention régulière de la Deutsche Forschungsgemeinschaft, transformant Lendemains dans ce sens en une revue scientifique ‘normale’ et reconnue.“ 7 M. Nerlich: Statt einer Einleitung, in: ders. (ed.): Kritik der Frankreichforschung 1871- 1975, Berlin 1977, Argument-Sonderband, 9. 8 M. Nerlich: Romanistik und Antikommunismus, in: Das Argument, 1972, H. 7/ 8, 276-313. 9 Sie wurde fortgesetzt von Peter Jehn: Die Ermächtigung der Gegenrevolution. Zur Entwicklung der kulturideologischen Frankreich-Konzeption bei Ernst Robert Curtius, in: M. Nerlich (ed.): Kritik der Frankreichforschung, op.cit., 110-133 und bei H. M. Bock: Die Politik des ‘Unpolitischen’. Zu Ernst Robert Curtius’ Ort im politisch-intellektuellen Leben der Weimarer Republik, in: Lendemains, 1990, H. 59, 16-62 und wuchs sich Anfang der 1990er Jahre zur Diskussion in der größeren Öffentlichkeit aus. 10 M. Nerlich: Romanistik: von der wissenschaftlichen Kriegsmaschine gegen Frankreich zur komparatistischen Frankreichforschung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 1996, H. 3/ 4, 296-436. Von den zahlreichen Monographien Frank-Rutger Hausmanns cf. vor allem: „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“. Deutsche Roma- 35 nistik im „Dritten Reich“, Frankfurt 2000; „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945), Dresden 1998. Andere Ansätze zur personenbezogenen Geschichte der Frankreichforschung cf. u.a. Hans Ulrich Gumbrecht: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten, München 2002 und H. M. Bock: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich, Tübingen 2005. 11 Cf. z.B. Ottmar Ette u.a. (eds.): Werner Krauss. Wege, Werke, Wirkungen, Berlin 1999; Hermann Hofer (ed.): Werner Krauss. Literatur, Geschichte, Schreiben, Tübingen 2003; Klaus Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris: Bernard Groethuysen (1880-1946), Tübingen 2002; Claudine Delphis: Wilhelm Friedmann (1884-1942). Le destin d’un francophile, Leipzig 1999. 12 So vor allem die Dossier-Nummern zu Werner Krauss, Victor Klemperer und Hans Robert Jauß. 13 Cf. dazu z.B. Anne Kwaschik: Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder, Göttingen 2008; Katja Marmetschke: Feindbeobachtung und Verständigung. Der Germanist Edmond Vermeil (1878-1964) in den deutsch-französischen Beziehungen, Köln 2008; Stefanie Müller: Ernst Robert Curtius als journalistischer Autor (1918-1932). Auffassungen über Deutschland und Frankreich im Spiegel seiner publizistischen Tätigkeit, Bern 2008; Susanne Dahlstein-Paff: Eduard Wechssler (1869-1949). Romaniste au service de la nation allemande, Thèse Metz 2006. 14 M. Nerlich: Zu den Defiziten in der (romanistischen) Frankreichforschung, in: Monika Sommer-Hasenstein (ed.): Eine Vernunftehe. Der Fall der Mauer in Berlin und die deutsch-französischen Beziehungen, St. Ingbert 2001, 138. 15 Ib., 138 sq. 16 Cf. dazu Wolfgang Asholt: Internationalisierung, Ökonomisierung und disziplinkulturelle Vielfalt aus der Perspektive eines (einst) großen Faches, in: Georg Bollenbeck, Waltraud Wara Wende (eds.): Der Bologna-Prozeß und die Veränderung der Hochschullandschaft, Heidelberg 2007, 123-131. 17 Ib., 125. 18 Cf. dazu u.a. Gerhard Bott: Deutsche Frankreichkunde 1900-1933. Das Selbstverständnis der Romanistik und ihr bildungspolitischer Auftrag, Rheinfelden 1982. 19 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen 1993, 386 und 21 sq. 20 Cf. dazu die Überblicke in Corine Defrance, Ulrich Pfeil (eds.): Der Elysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 - 1963 - 2003, München 2005. 21 Dazu Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura: seine Bedeutung für die deutsche sozialwissenschaftliche Frankreichforschung und seine Rolle in den zivilgesellschaftlichen deutschfranzösischen Beziehungen, in François Beilecke, Katja Marmetschke (eds.): Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock, Kassel 2005, 461-480. 22 Cf. die Darstellung und Dokumentation bei H. M. Bock (ed.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998. 23 Als Stellungnahme cf. Robert Picht: Frankreichkunde an der Humboldt-Universität oder die Selbstisolierung der Romanistik, in: Dokumente, 1993, H. 4, 305-309. 24 Robert Picht (ed.): Perspektiven der Frankreichkunde. Ansätze zu einer interdisziplinär orientierten Romanistik, Tübingen 1974; die programmatischen Leitbeiträge dort stammten von Alfred Grosser, Hans Manfred Bock, Michael Nerlich sowie Gerhard Blitz und Hans Ulrich Gumbrecht. 25 M. Nerlich: Gegen „Landeskunde“ - für die Vernunft, in: Ib., 23-40, Zitat 38. 26 Ib., 39. 27 Abgedruckt in: Robert Bosch Stiftung, Deutsch-Französisches Institut: Fremdsprachenunterricht und internationale Beziehungen. Stuttgarter Thesen zur Landeskunde im Französischunterricht, Gerlingen 1982. 36 28 Cf. Wilma Melde: Zur Integration von Landeskunde und Kommunikation im Fremdsprachenunterricht, Tübingen 1987. 29 Zur Chronik dieser Institutionalisierungsansätze cf. neben dem Beitrag von Roland Höhne im vorliegenden Heft die sehr kompetenten Studien Roland Höhne: Die romanistischen Landeswissenschaften. Das ungeliebte Kind der deutschen Romanistik, in: Stefan Fisch, Florence Gauzy (eds.): Lernen und Lehren in Deutschland und Frankreich. Apprendre et enseigner en Allemagne et en France, Stuttgart 2007, 223-235; Roland Höhne, Ingo Kolboom: „Die gestiegene Nachfrage nach Fernkompetenz“. Entwicklung und Methoden der romanistischen Landes- und Kulturwissenschaften am Beispiel der Französistik, in: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi, Edward Reichel (eds.): Handbuch Französisch. Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft, Berlin 2008, 387-416. 30 Cf. dazu den Beitrag von Roland Höhne zum vorliegenden Heft. 31 Cf. zu dieser Thematik Dorothee Röseberg, Heinz Thoma (eds.): Interkulturalität und wissenschaftliche Kanonbildung. Frankreich als Forschungsgegenstand einer interkulturellen Kulturwissenschaft, Berlin 2009. 32 Cf. dazu die Studien in Corine Defrance, Michael Kissener (eds.): Zivilgesellschaftliche Annäherungen. Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945, Tübingen 2009. Cf. auch den thematischen Überblick in H. M. Bock: Das Deutsch- Französische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austausches zwischen Deutschland und Frankreich, in: ders.: Projekt deutsch-französische Verständigung, op.cit., 11-120. 33 Dazu erschienen in Lendemains Themenhefte in Nr. 89 und 78/ 79. 34 Cf. dazu als Problemskizze bilateral vergleichender Intellektuellenforschung meinen Essay: Intellektuelle, in: Robert Picht, Vincent Hoffmann-Martinot (eds.): Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert, München 1997, 72-78. 35 Zu deren Arbeit und Entwicklung cf. Nicole Racine: Michel Trebitsch historien, in: Laurent Martin, Sylvain Venaye (eds.): L’histoire culturelle du contemporain, Cerisy 2005, 221- 234; Marie-Christine Granjon: Une enquête collective sur l’histoire comparée des intellectuels. Synthèse et perspectives, in: Michel Trebitsch, Marie-Christine Granjon (eds.): Pour une histoire comparée des intellectuels, Bruxelles 1998, 19-38. 36 Cf. dazu H. M. Bock: Créateurs, organisateurs et vulgarisateurs. Biographies de médiateurs socio-culturels entre la France et l’Allemagne au 20 e siècle, in: Revue d’Allemagne, 2001, H. 4, 101-115. 37 Als konzeptuellen Aufriß dieses Arbeitsbereiches cf. meinen Beitrag zu Ulrich Pfeil (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert, München 2007, 9-29: Transnationale Kulturbeziehungen und Auswärtige Kulturpolitik. Die deutsch-französischen Institutionen als Beispiel. 38 Cf. dazu z.B. Jacqueline Plum: Französische Kulturpolitik in Deutschland 1945-1955. Jugendpolitik und internationale Begegnungen als Impulse für Demokratisierung und Verständigung, Wiesbaden 2007; Ansbert Baumann: Begegnung der Völker? Der Elysée- Vertrag und die Bundesrepublik Deutschland. Deutsch-französische Kulturpolitik von 1963 bis 1969, Frankfurt/ M. 2003; Margarete Mehdorn: Gouvernementale Kulturmission und zivilgesellschaftliche Initiativen. Französische Kulturpolitik und Deutsch-Französische Gesellschaften in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970, Diss. phil. Mainz 2008. 39 Cf. zu seiner Biographie Hansgerd Schulte: Joseph Rovan (1918-2004), in: François Beilecke, Katja Marmetschke (eds.): Der Intellektuelle und der Mandarin, op.cit., 453-459; Gilbert Krebs (ed.): Sept décennies de relations franco-allemandes 1918-1988. Hommages à Joseph Rovan, Asnières 1989. 40 Jürgen Habermas: Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Was den Intellektuellen auszeichnet, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2006, H. 6, 551-557.