eJournals lendemains 33/129

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Narr Verlag Tübingen
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2008
33129

Ungebärdiges Lesen

2008
Christoph König
ldm331290119
3: 28 119 Christoph König Ungebärdiges Lesen Laudatio für Jean Bollack 1 ‘Maîtriser la matière’ lautet ein Kennwort Jean Bollacks: ‘den Gegenstand bemeistern’, und es ist ein Wort, das in seiner Werkstatt der Sinnfindung einen eigenen Sinn erhält. Das Wort anerkennt den monarchischen Anspruch des großen Kunstwerks, von dem Paul Valéry spricht; 2 diesem Anspruch des Dichters, seine Welt zu beherrschen, gilt die Solidarität des Philologen Bollack, der das Wort ‘maîtriser’ sich aneignet, den Anspruch als Wissensanspruch anerkennt: Der artistische Wille sei der Maßstab für die Philologen, die in ihrem Metier, strikt außerhalb der Kunst, ihm gerecht werden mögen. Doch nur im ‘Interesse’, ein zweites Kernwort aus Bollacks Werkstatt, könne man jenen Anspruch erkennen und sich ihm hingeben. Wo findet man heute, lautet daher seine Frage, noch dieses Interesse - an der Universität, oder vielleicht doch eher im Theater, bei den Psychoanalytikern, und schließlich bei den Dichtern? Wie wäre dann zwischen Literatur und Philologie zu trennen und zu vermitteln? Auch meint ‘maîtriser’ die Arbeit, die ständige philologische Tätigkeit (‘Sitzfleisch’ sagt Jean Bollack gern und zitiert einen Satz seines Freundes Gershom Scholem, gemünzt auf Jacob Taubes: „Gescheit sind wir alle, Sitzleder muß man haben“), eine Tätigkeit, ohne die jeder Anspruch rhetorisch bleiben muß; die Aufgaben seien immens, man habe es mit einer der schwierigsten Wissenschaften überhaupt zu tun. Weiterhin gilt, daß der ganze Arbeitsaufwand nur dann an die große Dichtung als Gegenstand heranführe, wenn zuvor der Interpret von einer unkritischen Begeisterung für die Sache, einem spontanen, persönlichen ‘engagement’ (wieder leihe ich Bollack meine Stimme) hinweggetragen worden ist, dem er sich entgegenzustellen vermag, vertrauend auf das Werk, das in der Reflexion des ‘afflux’ (Bollack), der anfänglichen Spontaneität in der Sprache entsteht. Darauf kommt es Jean Bollack zuletzt und zuerst an: auf die dem Werk gemäße Subjektivität des Interpreten, die nichts mit dem Wort ‘subjektiv’, aber alles mit der Stellungnahme eines Subjekts zu tun hat, mit einem (bemeisternden) Eingriff, der der eigenen, ersten Lesepraxis gilt und in der Reflexion darauf zum wissenschaftlichen Resultat führt. Dieser Vorgang konnte in der Geschichte seiner Disziplin, der Klassischen Philologie, oft genug von außen gestört werden, weil die Gelehrten zwischen außen und innen, zwischen ihrer Institution und der Kultur, in der sie leben, nicht recht trennen wollten. Außen standen nicht nur die Politik und ihre normativen, lange Zeit nationalen Ansprüche, außen standen auch andere Fächer, die Philosophie etwa, die Soziologie, oder eine Ästhetik und Literaturtheorien, auf die philologisch zuzugreifen sei. Die wissenschaftshistorische Kritik gestörter Interpretationen, dient Jean Bollack, als eine Art ‘Hysteresis’, im Sinn der verzögerten Erkenntnis, seinen Resultaten. Der ‘Agon’, der wissenschaftliche Streit 120 prägt sein Leben. Wie könne man sich auf Interpretationen einigen, die nicht standhalten? Wie die Vorgänger im Fach wollen die Kollegen heute - aus korporativen Interessen oder um vertraute Traditionen zu verteidigen - sich in ihren Anschauungen von Werk und Dichter um keinen Preis beirren lassen. Insofern Bollack in diesem Agon ein gemeinsames intellektuelles Interesse voraussetzt, bleibt der Streit oft genug eine Fiktion, verläuft im Leeren, doch lasse er sich rekonstruieren und also ‘retten’. Und erklären: Darin liegt für Jean Bollack das ‘Potential’ einer an die Gegenwart angebundenen Wissenschaftsgeschichte. Heute trete an die Stelle des normativen, bestimmten Außenanspruchs die modische Meinung, der literarische Gegenstand sei eine Sache, die disponibel bleiben soll. Dem hält Bollack freilich entgegen: „Allein durch den Eingriff eines kritischen Subjekts wäre die Sache der Verfügbarkeit entzogen.“ 3 Die Zensur beginne heute, wo alles, jede Interpretation zugelassen ist. Die programmatische Offenheit, die von außen kommt, richtet sich gegen das sich selbst konstituierende Individuum, im aufgeklärten Sinn eben jenes Worts - ‘maîtriser’. Von dem Vorgang werden die Wörter selbst erfaßt, mit denen Bollack über sich spricht: maîtriser zuerst, afflux, engagement, Sitzfleisch, Interesse dann, auch Hysteresis, Agon, Zensur und Subjekt. Sie gehören zu seinem beweglichen Vokabular und erhalten ihren Sinn nach Maßgabe ihres jeweiligen reflexiven Gebrauchs. Selbst sie können ihn, weil ihnen das Begriffliche entzogen ist, nicht beherrschen. Von Meisterschaft zu sprechen steht einer Laudatio gut an, die indes der Gestalt, der Menschengestalt des Geehrten gilt und daher - umgekehrt - nicht der Hybris verfallen darf, ein Meisterlebenswerk vorzuführen. Einzelne Züge, die sich - wie der Charakter im Daimon - immer wieder bemerkbar machen, möchte ich zeigen und Erkenntnisstationen, durch die Jean Bollack, dank jener Züge, stets hindurchgegangen ist. ‘Durchgänge’ lautet der Titel seiner großartigen autobiographischen Erinnerung an die Zeit in Basel. 4 Doch was charakterisiert Jean Bollack? Einige Pinselstriche mögen vorerst genügen, ich nenne: Die Hingewandtheit zu Menschen, denen er in Freundschaft eine große Treue hält, wie auch zu Themen, die er erneut und erneut prüft; die unerhörte Arbeitskraft, von seiner unablässigen Kritik beflügelt; seine Begeisterungsfähigkeit, und die Kompromißlosigkeit, die ihm die Treue zu seinen Einsichten abverlangt. In den ‘Durchgängen’ schreibt er, als er sich im Jahr 1945 für Paris und das - im Vergleich zur Universität in Basel - andere, strengere und geschlossenere, französische Bildungssystem entschieden hat: „Ich half mir damit, daß ich mir meine nun schon alte [Basler] Erfahrung der Marginalität zunutze machte.“ 5 So hatte Bollack sich in Paris „etwas künstlich in persönlicher Kontinuität einen aufgeschlosseneren und freieren Raum der Wissenschaft eingerichtet, der sich über den institutionell festgelegten lagerte. Darin ließ sich leben, aus diesem konnte ich wieder hinauskommen.“ 6 Die ungebärdige ‘Subjektivität’ ist der Sinn dieser Beweglichkeit, die zu großen Resultaten und nicht zu einem System - weder im Leben, noch im Werk - geführt hat. Jean Bollack, geboren 1923 in einer jüdischen Familie im Elsaß, hat - während des Zweiten Weltkriegs - in Basel bei Peter Von der Mühll die große exklusive Tra- 121 dition der deutschen Klassischen Philologie, namentlich der Gräzistik kennengelernt. „Die Philologie, die klassische, war eine Welt für sich, sie war etwas Höheres, das Hingabe verlangte, wie im Georgekreis, mit dem er [Von der Mühll] nichts zu tun hatte, das Leben in der Kunst.“ 7 Im Gymnasium (Peter Michael Landmann war sein Lehrer) und zuhause, wo Bollacks Mutter, die er bis heute hoch achtet, unter den vielen Gästen auch Dichter und die Lehrer ihres Sohns empfing, oder in der Stadt, wo er oft Edith Landmann traf, die Freundin Stefan Georges, war Bollack auf die Literatur, in der man leben konnte und wo die Ansprüche denen der Universität glichen, schon vorbereitet worden. Albert Béguin, der gleichfalls in Basel, auf einem Lehrstuhl für französische Literatur, lehrte und mit Schriftstellern der Résistance in enger Verbindung stand, akzentuierte Bollacks starkes Interesse an der modernen Literatur und auch an der deutschen, vor allem aber an deren kritischer rationaler Ausrichtung, die damals weniger beachtet wurde; durch George, der zur intellektuellen Umgebung zählte, ging Bollack wie durch Rilke, der zu ihm persönlich zu sprechen schien, hindurch, während Mallarmé bis heute zählt. Seither sucht er die philologische Praxis mit der Frage nach der Aktualität klassischer literarischer Werke zu verbinden. Dabei hielt Jean Bollack an der Einsicht fest, daß nur in der Wissenschaft der Forscher eine Freiheit gewinnen könne, die der des Autors gewachsen sei. „Die wirkliche Esoterik war doch etwas Individuelles, und so war das Verständnis der Werke doch nicht ohne Wissenschaft zu erreichen.“ 8 Nicht zuletzt Béguin, Linkskatholik und militant darin, wußte ihm zu bedeuten, daß die Brücke ethisch, genauer: von der Kreatur, und noch persönlicher: von der jüdischen Exklusion her allein möglich war. „Eines Tages, wohl 1944, kam Béguin auf mich zu und fragte mich, ob ich wüßte, daß Kafkas drei Schwestern in den Vernichtungslagern umgekommen seien. Meine Gesichtszüge erinnerten ihn an Photographien Kafkas; er wollte mir damit sagen, daß er in jener Stunde auch eine jüdische Solidarität hatte (oder daß ich meine nicht genügend äußerte? ).“ 9 1945 entschied Bollack sich für Paris als Lebensmittelpunkt, wo er unter der Leitung des Gräzisten und Linguisten Pierre Chantraine seine Habilitation über Empedokles in vier Bänden schrieb. 1953 organisierte der Leiter des deutsch-französischen Instituts in Ludwigsburg - über Vermittlung des FAZ-Korrespondenten Nikolas Benckieser in Paris - für Bollack eine Vortragstour durch Deutschland, er mußte über das französische Schulwesen sprechen und kam so auch nach Berlin, das ihm seither für Deutschland steht. 1955 bis 1958 lehrte er als Gastdozent an der Freien Universität und nochmals 1966 auf Einladung von Peter Szondi an dessen Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (über den Pindarismus in der europäischen Literatur). Nach Szondis Tod 1971 gab Bollack die Schriften und Vorlesungen des Freundes heraus. 10 Inzwischen war er in Lille, nicht in Paris, Professor geworden (und blieb das bis 1992), wo er mithilfe der Soziologie Pierre Bourdieus, des Weggefährten in Lille, die eigene Wissenschaftskritik schärfte. Die Frage galt der inneren, das heißt institutionellen Notwendigkeit der falschen Anschauungen. Streitbar begründete er das Centre de Recherche philologique, die Liller Schule, ein Zentrum, doch - gerade aufgrund der inzwischen me- 122 thodisch genutzten Streitbarkeit - am Rande. In den sechziger Jahren leitete Bollack, Berater im S. Fischer Verlag für die Geisteswissenschaften, die große Reihe ‘Fischer Weltgeschichte’, 1970/ 1 wurde er an das Institute for Advanced Study in Princeton, 1982/ 3 an das Wissenschaftskolleg zu Berlin berufen. Das alles wider die institutionelle Wahrscheinlichkeit. Nur von außen (mag es ein anderes Land, mag es das kulturell-intellektuell-literarische Leben, mag es ein Einzelner sein) konnte Unterstützung kommen für einen, der die Wissensansprüche der Universität (der alten deutschen, deren Ideal er in Basel entwerfen konnte) gegen ihre Insassen verteidigte; zuerst gegen die Traditionalisten unter den Professoren, dann 1968 auch gegen die Studenten, deren Kritik ihm nicht radikal genug schien, da sie die Universität leichtfertig zur Gesellschaft hin öffneten. Bollack forderte sie auf, nach den gesellschaftlichen Ursachen zu suchen, warum die Universität sich von innen längst schon aufgegeben habe. Im Zeichen des ‘Interesses’, das er bei den Fachkollegen nicht mehr fand, wandte er sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren zusehends dem Theater zu (Ariane Mnouchkine griff auf seine Übersetzungen zurück, ebenso wie zuletzt Marcel Bozonnet an der Comédie française für die ‘Bakchen’ des Euripides), er diskutierte mit den Psychoanalytikern über die antiken Tragödien (damit der Sinn und so auch dessen Verbergen ins Spiel kamen), er arbeitete in der - oft genug persönlichen - Nähe zu Schriftstellern (neben Paul Celan waren es Dichter wie André Frénaud oder André du Bouchet). Mit anderen Worten: Jean Bollack erneuerte und nobiliterte die in Deutschland weitgehend geschwächte Philologie zu einer intellektuellen Instanz, die keine Gegenliebe mehr fand, als sie an den Ort ihrer Herkunft zurückkehren wollte, nach Deutschland. Verändert Bollack doch auf allen seinen Gebieten die Forschung, sei es die griechische Literatur und die griechische Philosophie, oder die Hermeneutik, die Wissenschaftsgeschichte und schließlich die moderne (deutsche und französische) Literatur. Dieses Paradox im Wissenschaftstransfer führt unmittelbar an unseren Anlaß heran: Eine Ehrenpromotion ehrt die Universität, die sie vergibt, und die Universität versichert damit dem Geehrten ihre Solidarität. Diese Solidarität soll Bollack gegenüber darin bestehen, die Voraussetzungen, die verloren gegangen sind, unter dem „Akut des Heutigen“ (Celan in seiner ‘Meridian’-Rede 1960) 11 zu erneuern, damit seine philologische Praxis auch hierzulande umfassender verstanden werde. Meine Damen und Herren: Sprach ich von einer ungebärdigen ‘Subjektivität’, die den Sinn von Bollacks Beweglichkeit, besser: Bewegungen ausmacht, so zeigt dieser erste Durchgang durch seine intellektuelle Biographie nun deutlicher, daß Bollacks Ungebärdigkeit sich als Treue zu einer Entscheidung für das Partikulare erweist, die den Lektüren vorangeht und die Freundschaften prägt. Bollack achtet die Freiheit des Autors, sich von seiner Tradition abzusetzen, und interpretiert die Eigenart von Werken, die in diesem Sinn entstanden sind. Jener Freiheit entspreche die Freiheit des gegenwärtigen Interpreten, der in eine neue Distanz treten und sich seinerseits von der Tradition des Verständnisses, in der er steht, lösen muß, um den idiomatischen Gebrauch der Sprache (und nicht nur derer) erkennen zu können. Im Sinn einer Desakralisierung des Philologen als Person. 123 Ein großes Beispiel für diese Treue gibt die Freundschaft zwischen Celan, Szondi und Bollack seit 1959. Lange nach Celans Tod im Jahr 1970 griff Bollack die Experimente in Szondis ‘Celan-Studien’ (1972 von ihm postum herausgegeben) 12 auf und trieb sie entschieden und auch prinzipiell voran. Zwei große Monographien hat er ihm jüngst gewidmet (die in deutschen Übersetzungen vorliegen: ‘Poetik der Fremdheit’ 2000, 13 ‘Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur’ 2006). 14 Im Rückblick erläutert Bollack 2003 den zeitlichen Aufschub, wieder eine Art Hysteresis: „Damals wäre ich nicht fähig gewesen zu verstehen, was Celan mir zu lesen gab. Es war nötig, daß eine gewisse Zeit verging. Was passierte, war ein Aufschub, etwas Nachträgliches. Für mich selbst habe ich es als eine Verpflichtung empfunden, das Nicht-Stattgefundene doch noch einzulösen.“ 15 Der Ton, den er Celan, dem Freund, gegenüber anschlug, war von vornherein anders als der schmerzlich artistische zwischen Celan und Szondi, die sich über hundert Briefe schrieben: Bollack sprach direkter, einfacher, unverstellter mit ihm. 16 Auch wenn er sich nur mit Verzug den Gedichten zuwandte, so wirkte sich aus, was seine gleichzeitige Beschäftigung mit der großen griechischen Literatur und Philosophie methodisch bestimmte: Bollack suchte weniger ein literarisches Verhältnis zu seinen Gegenständen zu gewinnen und erhob auch nicht den Anspruch auf ein privilegiertes, zugespitztes Verhältnis, das zwischen seiner Person und der Dichtung hermeneutisch vermitteln könnte. Statt dessen konstruierte er die innere Logik der Werke. Zunächst galt die Analyse allein der Person Celans und ihrer ‘Kohärenz’. Er und seine Frau Mayotte hatten Celan oft zu Besuch in der Rue de Bourgogne, und zuletzt, als Celan immer wieder hospitalisiert wurde, war er regelmäßig ihr Gast, in engem Ratschlag mit Gisèle Celan-Lestrange. Bollacks Bericht an Szondi vom 7. Januar 1961 ist ein Muster der „reinen Vernunft“, die Bollack Celans Klagen entgegenhielt: Man habe Wichtigeres zu tun; den Hintergrund bilden Szondis Kampf gegen die ungerechtfertigten Plagiatsvorwürfe, die Claire Goll Celan gegenüber erhoben hatte, und die Verteidigungsschritte seitens Walter Jens’: [...] Ich habe Paul versprochen, niemals auf das Gerede über ihn zu hören, das seinen ‘Fall’ durch eine mit diversen Namen belegte Gestörtheit erklärt. / Es ist aber nicht weniger richtig, daß er von seinen Freunden erwartet, daß sie für ihn handeln und für ihn zeugen, und fast nur dieses eine. Sogar die Urteile, die er über die Werke fällt, erklären sich aus dieser Haltung ... Mayotte erzählte mir gestern, daß der kleine Eric in der Schule sich davor hütet, die Klassenkameraden, die er als seine Feinde betrachtet, zu attackieren, und sich in seine „Vorsicht“ hüllt (wie er das nennt und wie es ihm vorgesagt wird); hingegen erwarte er, daß seine Freunde das für ihn besorgen. / Nein, ich werde niemals von Paul sagen, daß er „gestört“ sei - auch wenn ich gezwungen wäre, so zu denken -, aber gehetzt, das ist er gewiß, und wacht eifersüchtig über sein Verfolgtsein, und er bezieht aus einer belagerten Verschanzung - die in Wahrheit sorgfältig gehütet und bewußt abgegrenzt ist - die Ansprüche einer richterlichen Hoheit.17 Eine Analyse in mehreren Schritten: Der realen Verteidigung durch Walter Jens begegne Celan mit Argwohn; aber Bollack lehnt es ab, von einer „Gestörtheit“ zu 124 sprechen; die er dann doch wieder integriert, um ihr in seinem Argument einen Stellenwert zu geben: Denn sie diene dem Argwohn und dieser der Kreativität. Celan „wache eifersüchtig über sein Verfolgtsein“, und daraus ergebe sich schließlich aus seiner Sicht eine einzige Form, die seine Freunde (und Interpreten) ihm gegenüber wählen könnten: „daß sie für ihn handeln und für ihn zeugen“. Die Treue gilt einer zur Form gewordenen Entscheidung, die vom Interpreten verlangt, von den Vorurteilen, die zu Lebzeiten des Dichters und in der Forschungsgeschichte nach ihm kursieren, Abstand zu nehmen. Man folge nur der Reflexion des Dichters. Noch einmal: Celan benutze seine ‘Gestörtheit’, und diese blieb verbunden mit der Bewegung, seiner Arbeit am Sinn. Den Sinn, der seine Gedichte prägt, gelte es zu rekonstruieren. Das läßt allgemeine Schlüsse für die philologische Praxis Bollacks zu. Vom Nichtverstehen, das sich ergibt, wenn der Dichter vom gemeinhin verständlichen ‘Gestörtsein’ (als Vorurteil) sich fortbewegt, um die Störung auf die Reflexion zu übertragen und so zu radikalisieren, sei auszugehen, und die Arbeit des Interpreten bestehe darin, über die vom Dichter so geschaffene Schwierigkeit Klarheit zu gewinnen. Sie zu verteidigen. Nicht der Vereinfachung redet Bollack das Wort, wenn er von Klarheit spricht. Folgt die Entzifferung dem dichterischen Prozeß, steigt der Schwierigkeitsgrad, doch der Interpret redet nur dem Schein nach dunkel. „Die Änigmatisierung schafft selbst die Klarheit; im Vorgang der Entzifferung [der zur Änigmatisierung führt, und den das Werk vollzieht] gibt sich die Reflexion als solche zu erkennen.“ 18 Diese Praxis, die in der Entzifferung ihre ganze Denkkraft aufbietet, ist die Voraussetzung für die Resultate, die in ihrer schlichten Erratik die Forschung buchstäblich vor den Kopf stoßen. Mehr als alles andere beeindruckt die Entzifferungs-, die Lesefähigkeit Jean Bollacks. Szondi schrieb ihm: „J’ai été ravi à la lecture de tes notes: tu es un ange et un lecteur admirable à la fois.“ 19 Die Entzifferung ist ein spontanes, aber kein naturhaftes Vermögen, wenn sie auch Begeisterung auslöst. Das Vermögen hat nichts mit einem romantischen Mysterium des Augenblicks zu tun, noch preßt Bollack die neuen Einsichten aus scholastischen, szientifischen Begriffen. Auch die Ethik allein genügt nicht. Läßt sich dann solche Kreativität, die eine Nähe zum Fernen schafft, überhaupt kalkulieren? Und wie sind ihre Einsichten wissenschaftlich zu begründen? Die Einfälle, so scheint mir, verdanken sich der permanenten Reflexion auf Lektüren, die Bollack, im Ärger oder im Enthusiasmus, mitreißen. In einer Art objektivem Tagebuch entstehen täglich knappe, aphoristische Betrachtungen (sie sind durchnumeriert und tragen den Namen ‘X’, der sich aus dem Aufbau von Bollacks wissenschaftlichem Archiv ergibt); die Aufzeichnungen gelten anderen Forschern und ihren Aufsätzen, Buchbesprechungen in der täglich analysierten ‘Frankfurter Allgemeinen Zeitung’, auch den Leserbriefen dort, Gesprächen mit Gästen; sie gelten ebenso den Gedanken ‘ad se ipsum’: die Versuche, sich selbst zu verstehen, werden ihrerseits zum Material der philologischen Praxis. Bollacks Archiv in seinem Landhaus im Süden Frankreichs (er hat es für Forscher geöffnet, die mit Bett und Schreibtisch zwischen den Regalen rechnen dürfen) birgt un- 125 zählige Mappen mit ‘notes’ in thematischer Ordnung; und die Reflexion schlägt sich in Briefen nieder, denen die Anrede oft fehlt und die als Briefe allein durch ein nachgeführtes ‘J.’ (für Jean) erkennbar sind. Ständiges Inventarisieren und Ordnen, unablässiges Bedenken von Aufgaben und Projekten gehören gleichfalls hierher. Bollack bereitet also seine Praxis durch eine Reflexionskultur des Außen, des Fremden vor: Der glückliche Einfall beim Interpretieren setzt handwerkliches Können voraus, und gleichfalls die perennierende Kritik an jenen Vorurteilen, auch den eigenen über sich selbst, die die Freiheit gefährden, von der man ausgeht. Und wie - nochmals gefragt - gewinnen die Lektüren wissenschaftliche Dignität? Bollack vertritt eine diskursive Auffassung von Wahrheit: Es gilt, was sich im Gespräch, in der Auseinandersetzung, im Vergleichen durchsetzt, und nur solange, als es sich durchsetzt. ‘Lecture à plusieurs’, Lesen, besser: Auseinandersetzung zu mehrt, heißt eines seiner Bücher. 20 Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir schließlich von den Resultaten, so umstößlich sie in Bollacks Augen auch sein mögen, drei Exempel zu geben. Das erste Beispiel gilt der philologischen Rekonstruktion einer Philosophie. Als es Bollack nicht gelingt, das Weltsystem Heraklits aus den überlieferten (sogenannten) Fragmenten zu rekonstruieren, zieht er - in seinem Buch ‘Héraclite ou la séparation’ (1972), 21 das er mit Heinz Wismann schrieb - den Schluß, es gebe diese Kosmologie gar nicht, auch wenn sie das Bild Heraklits bis hin zu Heidegger bestimmt hat. „Die Reflexivität hatte keine Chance, wahrgenommen zu werden. Die Positivität zählte.“ 22 Damit war der Weg frei für die Entdeckung, daß Heraklit keines der ‘Urworte’, für die man ihn verehrte, aus sich selbst heraus gesagt hatte, sondern nur das - in seiner Sprache - durchleuchtete, was die Zeitgenossen formulierten. Eklektisch dokumentierte Heraklit Meinungen der Zeit. Man hat es nicht mit Fragmenten zu tun, sondern mit Aphorismen: mit geschlossenen Einheiten, die einzelne Wissensformen ihrerseits kritisch analysieren und die nun jeweils für sich zu interpretieren seien. Das zweite Beispiel zeigt den Grundstein einer materialen Hermeneutik. Angelpunkt von Bollacks Lektüren ist die Vorstellung, daß „die Dichtung - auf einer breiten Grundlage von Spontaneität - sich ihrer eigenen Vorgehensweise bewußt ist.“ 23 Einer Spontaneität, die nicht minder konstruiert sei: Sakrale Ansprüche an die Literatur finden hier keinerlei Gehör und fallen in sich zusammen. Die Auslegung im Werk selbst wird zur Bedingung der Interpretation und zu ihrem Leitfaden. ‘Textus interpres sui’: Der Text ist sein eigener Interpret, lautet das Losungswort. Damit sind die Gedanken gemeint, mit deren Hilfe das Werk seine Voraussetzungen: die Spontaneität, sein Wissen und den eigenen Kanon meistert. Die Interpretation folgt dem, was das Werk über sich denkt und äußert, und ist nur insofern möglich. Im dritten Beispiel wird deutlich, wie ein Werk selbst seinen Zugriff, sei es auf die Sprache, sei es auf das Biographische, regelt. Die Syntax fixiert frei einen Sinn über die allgemeine Struktur der Sprache hinaus, sie legt fest, wer Subjekt und Objekt ist, und sie regiert, in einem weiteren Sinn, die Abfolge der Gedanken in den 126 Texten. „Man entgeht der Syntax nicht.“ 24 Sie schafft den (autointerpretativen) Sinn, auf den die Interpretation zielt. Mithilfe seiner Syntax reflektiert Paul Celan; er ‘liest’, wie die Gedichte mit ihrer Spontaneität umgehen. Das gehört zu den aufregendsten Einsichten Bollacks: Durch das Verhältnis von Ich und Du in den Gedichten stellt Celan diesen Prozeß ausdrücklich dar. Ein künstlich konstruiertes Subjekt (‘Ich’: es gibt sich als das ‘natürliche’, das historische Individuum, ähnlich der Position des Erzählers im Werk von Marcel Proust), das außerhalb der Sprache stehe, bedient sich eines ‘Du’, das sich hingibt und schreibt und sich dabei vom ‘Ich’ beobachtet weiß. „Der Autor liest, indem er schreibt, oder er schreibt das, was er liest. Das ist der höchste Grad an Genauigkeit.“ 25 Diese Philologie entzieht jeder philosophischen Hermeneutik (Hans-Georg Gadamers etwa) den Boden, die den Dichter zum Sprachrohr des ‘Menschlichen’ oder eines Diskurses macht und damit übergeht, daß der Dichter genau mittels der konkreten Schriftlichkeit schon gegen diese Mißachtung protestiert hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Würdigung von Jean Bollack hat sich selbst einem kleinen Experiment unterzogen. Nichts legt einen Geehrten mehr fest als Begriffe, die ihm seine Besonderheit nehmen und damit den Anlaß selbst in Frage stellen können. Wozu ausgerechnet ihn? Also gehe ich nochmals meine Rede durch und stelle fest, daß man ohne Begriffe auskommt, will man über Bollack sprechen. Allein für seine Gegner mußte man von ‘Diskurs’, ‘Philosophischer Hermeneutik’, ‘System’ sprechen; ihm selbst genügen jene Wörter, von denen ich ausging, und in deren Gebrauch selbst die Begriffe sich dem Individuellen, dem Subjekt, das seine Traditionen meistert, anbequemen. Eine andere Wendung, die Bollack gern benutzt, stehe daher am Schluß: ‘Je m’amuse’ meint er gelegentlich, wenn die Ansprüche seiner Wissenschaft unerträglich werden, die Ansprüche einer ‘Zwangswissenschaft’, wie er auch sagt. 26 Das Lächeln angesichts des nicht zu Leistenden gibt die Leichtigkeit, Ansprüche zu erfüllen. 1 Anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück am 7. Juni 2007. 2 Vgl. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis, in: ders., Schriften, hg. von Jean Bollack u.a., Frankfurt/ Main, 1978, Bd. 1, 263-286, hier 275. 3 Jean Bollack: Sinn wider Sinn. Wie liest man? , Gespräche mit Patrick Llored, aus dem Französischen von Renate Schlesier, Göttingen, 2003. 4 Jean Bollack: Durchgänge, in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hg. von W. Barner und C. König, Frankfurt/ Main, 1996, 387-403. 5 Ebd., 402. 6 Ebd., 403. 7 Ebd., 394. 8 Ebd., 399. 9 Ebd., 397. 10 Peter Szondi: Studienausgabe der Vorlesungen, hg. von Jean Bollack, Bd. I: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert: der Kaufmann, der Hausvater und der 127 Hofmeister, Bd. II: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit, Hegels Lehre von der Dichtung, Bd. III: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, Schellings Gattungspoetik, Bd. IV: Das lyrische Drama des Fin de siècle, Bd. V: Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/ Main, 1975. Peter Szondi: Schriften, Bd. I: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Bd. II: Satz und Gegensatz, Lektüren und Lektionen, Celan-Studien, Anhang: frühe Aufsätze, Frankfurt/ Main, 1978. Peter Szondi: Celan-Studien, hg. von Jean Bollack, Frankfurt/ Main, 1980. Peter Szondi: Über eine „Freie (d. h. freie) Universität“. Stellungnahmen eines Philologen, hg. von Jean Bollack, Frankfurt/ Main, 1973. 11 Paul Celan: Der Meridian. Endfassung - Entwürfe - Materialien, hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop, Frankfurt/ Main, 1999 (Werke. Tübinger Ausgabe). 12 Siehe Anm. 9. 13 Jean Bollack: Paul Celan. Poetik der Fremdheit, aus dem Französischen von Werner Wögerbauer, Wien, 2000. 14 Jean Bollack: Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur, aus dem Französischen von Werner Wögerbauer unter Mitwirkung von Barbara Heber-Schärer, Christoph König und Tim Trzaskalik, hg. von Werner Wögerbauer, Göttingen 2006. 15 ‘Sinn wider Sinn’ (siehe Anm. 3), 177. 16 Vgl. Paul Celan, Peter Szondi, Briefwechsel. Mit Briefen von Gisèle Celan-Lestrange an Peter Szondi und Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Peter Szondi und Jean und Mayotte Bollack, hg. von Christoph König, Frankfurt/ Main, 2005. 17 Ebd., 171f. 18 Jean Bollack: Die Dichtung und die Religion. Zu Mallarmés Toast funèbre, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Januar 2006, Heft 51/ 1, 103-114, hier 104. 19 Peter Szondi: Briefe, hg. von Christoph König und Thomas Sparr, zweite Auflage, Frankfurt/ Main, 1994, 335. 20 Jean Bollack, Jean-Marie Winkler und Werner Wögerbauer: Sur quatre poèmes de Paul Celan: une lecture à plusieurs, in: Revue des sciences humaines, 223, 1991. 21 Jean Bollack und Heinz Wisman: Héraclite ou la séparation, zweite Auflage mit neuem Vorwort, Paris, 1995. 22 Jean Bollack in einem Brief an den Verfasser. 23 ‘Sinn wider Sinn’ (siehe Anm. 3), 23 . 24 ‘Sinn wider Sinn’ (siehe Anm. 3), 70. 25 ‘Sinn wider Sinn’ (siehe Anm. 3), 97. 26 Vgl. Jean Bollack: Juden in der Klassischen Philologie vor 1933, in: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933, hg. von Wilfried Barner und Christoph König, Göttingen, 2001, 165-185, hier 181.