eJournals lendemains 33/129

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Narr Verlag Tübingen
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2008
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„Je voulais être marin, missionnaire ou brigand“ (Abbé Pierre)

2008
Sabine Ruß
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150 Sabine Ruß „Je voulais être marin, missionnaire ou brigand“ (Abbé Pierre) 1 Abschied vom unorthodoxen Propheten der laizistischen Republik Frankreich, „älteste Tochter“ der katholischen Kirche, gehört heute zu den säkularisiertesten Ländern Europas. Und doch war es jahrzehntelang ein katholischer Priester, den die Franzosen am meisten verehrten: Abbé Pierre, mit bürgerlichem Namen Marie Joseph Henri Grouès, der im Januar 2007 mit 94 Jahren starb. Ihm wurde ein nationales Gedenken zuteil. Die Menschen applaudierten dem Trauerzug und im Trauergottesdienst in der Kathedrale Notre-Dame - was (auch) in Frankreich ungewöhnlich ist. Politiker des linken wie rechten Lagers erwiesen dem Pater ihre Reverenz. Laurent Fabius, ehemaliger Premierminister einer sozialistischen Regierung und streng laizistisch gesinnt, schlug gar vor, Grouès im Heiligsten der Republik zur Ruhe zu betten: im Panthéon. Ins kollektive Gedächtnis der Republik war der Abbé jedoch schon zu Lebzeiten längst aufgenommen. Eine erste Voraussetzung dafür bildete sein Verhalten während des Krieges: Zu „Abbé Pierre“ war Henri Grouès, der aus einer frommen katholischen Familie des wohlhabenden Lyoner Bürgertums stammte, nämlich während seiner Zeit in der Résistance geworden. Damals war er Vikar in Grenoble und musste unter dem Decknamen „Abbé Pierre“ in die Illegalität abtauchen, nachdem verraten worden war, dass er Juden und anderen Verfolgten der Nationalsozialisten half. 2 Nach dem Krieg ging er wie andere Widerständler zunächst in die Parteipolitik. Von 1947 bis 1950 war er Abgeordneter der christdemokratisch ausgerichteten MRP, aus der er jedoch aus Protest gegen Repressionsmaßnahmen der Regierung gegen in Brest demonstrierende Arbeiter austrat. Politik sollte er erst danach wirklich auf effiziente Weise machen - außerhalb der Parteien an der Seite von Protestbewegungen und als charismatischer Fürsprecher der Armen und Organisator von Vereinigungen des sozialen Sektors. Zur allseits bekannten Stimme des Gewissens der Franzosen wurde Abbé Pierre nach dem Krieg: Angesichts des Kältetodes von Obdachlosen im extrem harten Winter 1954 griff der Pater zum Mikrophon und richtete über Radio France und Radio Luxemburg einen dramatischen Solidaritätsappell an die Franzosen: „Freunde, zu Hilfe“ 3 - diese ersten Worte hallen noch heute im nationalen Gedächtnis nach und waren Auftakt zur ersten humanitären Medien-Kampagne. 4 Das Echo war überwältigend. Es kam zu Spenden in nie zuvor dagewesenem Umfang. Schulen, Rathäuser und Metrostationen wurden geöffnet. Regierungschef Pierre Mendes-France reagierte unmittelbar mit einer Verdoppelung der Mittel für den so- 151 zialen Wohnungsbau, in den Folgejahren wurden Gesetze erlassen, die Wohnungsräumungen in den Wintermonaten untersagten, Enteignungen zu Bauzwecken erleichterten und die unter dem Kürzel „ZUP“ bekannten städtebaulichen Großmaßnahmen einführten, mit denen insgesamt sechs Millionen Wohnungen geschaffen wurden. Schon 1957 hat Roland Barthes Abbé Pierre als „Ikone der Nächstenliebe“ analysiert. Das Erscheinungsbild des Paters ließ ihn als zeitgenössische Inkarnation des Heiligen Franz von Assisi wirken. Entscheidend freilich war, dass er in dieser Rolle Glaubwürdigkeit besaß, die er 1949 durch die Gründung der sogenannten Emmaüs-Gemeinschaften - heute gibt es davon 120 weltweit - erworben hatte, in der ehedem Wohnungslose als Selbsthilfe-Genossenschaft zusammenleben und als Lumpensammler mit Recycling ihren Lebensunterhalt verdienen. Im Rahmen der Hilfskampagne von 1954 organisierte er dann Freiwillige als „Compagnons d’Emmaüs“. Die begeisterte Bereitwilligkeit breiter Kreise, Abbé Pierre geradezu als modernen Medien-Heiligen zu kanonisieren, ließen bei Roland Barthes die Frage aufkommen, „ob das rührende Bild des Abbés nicht ein Alibi ist, die Zeichen der Nächstenliebe der Wirklichkeit der Gerechtigkeit vorzuziehen“. 5 Wie berechtigt diese Überlegung war, zeigen die Reaktionen auf eine Kampagne des Paters in den achtziger Jahren, in der er angesichts der „Neuen Armut“ in Frankreich nicht nur die ersten Lebensmittelbanken ins Leben rief, sondern dies zum Anlass nahm, zu einem völligen Überdenken der Lebensweise aufzurufen. Angesichts der großen Spendenmengen rief er: „Merci pour l’argent. Tout reste à faire“. Dass damit nicht karitative Hilfe, sondern die gesellschaftliche Umkehr gemeint war, wurde, wie Umfragen zeigen, vom öffentlichen Bewusstsein kaum registriert. 6 Die Öffentlichkeit nahm ihn als warmherzigen Bruder der Armen wahr, doch er war ebenso der zornige Prophet, der der (Welt)gesellschaft die Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich, zwischen armen und reichen Ländern vorhielt. Abbé Pierre selbst waren die Tücken und Vorteile seines Berühmtseins bewusst. Er wollte seine Prominenz als „Waffe“ im Dienste der Armen ohne politische Stimme nutzen. Mit seiner demonstrativen Weigerung, die ihm 1992 angetragene Ehre eines Großoffiziers der Ehrenlegion anzunehmen, engagierte er sich für die Beschlagnahmung ungenutzten Wohnraums und setzte letztlich die von ihm geforderte Einrichtung eines unabhängigen nationalen Rates zur Wohnversorgung von Benachteiligten durch. 2004 schließlich erhielt er als „Stimme der Menschen ohne Stimme“ (Präsident Jacques Chirac) den höchsten Orden Frankreichs, das Große Kreuz. Sein Gespür für symbolische Politik und öffentliche Auftritte war außergewöhnlich. Im Zusammenhang mit seiner Gründung von Lebensmittelbanken für Bedürftige tat er sich mit dem Kabarettisten Coluche zusammen, der 1980/ 1 mit seiner anarchistischen Kandidatur „für alle Außenseiter“ bei den Präsidentschaftswahlen für viele junge Leute zu einem Idol geworden war und mit den von ihm 1985 gegründeten „Restos du cœur“ konkrete Hilfe leisten wollte. Dieses merkwürdige Ge- 152 spann aus einem charismatischen Pater und einem oft provozierend vulgären Medienclown brachte 1992 die zu diesem Zeitpunkt modernste Form der Philanthropie in Frankreich zuwege: Die in diesem Jahr gegründete Stiftung Abbé Pierre gehört zu den wenigen wirklich privat finanzierten Stiftungen in Frankreich. Doch Abbé Pierre nutzte die „Waffe“ seiner Popularität nicht nur zugunsten der von ihm (mit)gegründeten oder geleiteten Initiativen, sondern unterstützte unzählige soziale Protestaktionen 7 - im letzten Winter noch die Zeltstadt der „Kinder Don Quijottes“ am Pariser Canal Saint Martin - nicht nur durch Solidaritätsadressen, sondern durch seine Vermittlung und Präsenz. Auch DAL, die neosyndikalische Initiative für Wohnungslose, die die medienwirksamsten Kampagnen und Mobilisierungen gegen Wohnungsnot in den Neunziger Jahren zustande brachte, 8 hatte ihn als Verbündeten und nennt ihn als geistigen Vater. Illegale Aktionen befürwortete Abbé Pierre ohne weiteres im Sinne des zivilen Widerstands. Landesweite Aufmerksamkeit erzielte seine Anwesenheit bei vielen Hausbesetzungen in Paris, bei denen der Abbé mit seiner körperlichen Zerbrechlichkeit - schon von Jugend an war er immer wieder krank und hatte Lungenprobleme - vor den Fernsehkameras zum medienwirksamen Symbol der (Ohn)macht wurde. Als eine der landesweit aufsehenerregendsten Hausbesetzungen - 1994 wurde ein Haus in der Rue de Dragon mitten im reichen Saint-Germain des Près besetzt - mit einer Räumung zu enden drohte, wurde Abbé Pierre von Unterstützern per Hubschrauber nach Paris eingeflogen und schließlich vom Premierminister Balladur persönlich empfangen, der Schutz gegen Räumung versprach. Der frühere Wohnungsbauminister Besson erinnert sich daran, wie Abbé Pierre als Lobbyist der Armen im Rollstuhl in die Nationalversammlung kam, um - erfolgreich - die Streichung des Gesetzartikels, der Kommunen zu 20 Prozent sozialem Wohnungsbau verpflichtet, zu verhindern. 9 Tatsächlich werden ihm zahlreiche seit Ende der achtziger Jahre zur Bewältigung der Wohnungskrise verabschiedeten Maßnahmen als Verdienst angerechnet, auch wenn Abbé Pierre selbst explizit auf die kollektiven Bemühungen, die dahinter steckten, verwiesen hat. Die Vorschläge kamen aus dem Vereinssektor, er jedoch verlieh der Kritik und den Ideen Stimme und Gesicht. Und so wird das 2007 im Gesetz verankerte einklagbare Recht auf Unterkunft ‘Lex Abbé Pierre’ genannt werden. Praktizierende Katholiken verehrten ihn als jemanden, der die Botschaft des Evangeliums mit Leidenschaft lebte. Alle anderen schätzten sein Engagement für menschenwürdige und gerechte Verhältnisse. Dass Abbé Pierre in Fragen der Sexualmoral (Benutzung von Präservativen, homosexuelle Partner- und Elternschaft), des Zölibats oder der Ordination von Frauen nicht auf der Linie des Vatikans lag, dürfte ihn in kirchenfernen Kreisen noch sympathischer gemacht haben. 10 In seinen späten Jahren allerdings legte sich ein Schatten auf dieses strahlende Vorbild, als Abbé Pierre 1996 das Buch „Gründungsmythen der israelischen Politik“ seines Freund Roger Garaudy, eines zum Islam konvertierten ehemaligen Kommunisten, verteidigte. In diesem Buch vertrat dieser revisionistische Thesen und bezweifelte den von der Geschichtswissenschaft angenommenen Umfang des 153 Holocausts, der von der israelischen Regierung aus politischen Gründen übertrieben werde. Erst auf Drängen unter anderem des Kardinals Jean-Marie Lustiger fand sich Abbé Pierre zu einer Entschuldigung bereit und stellte fest, er habe den Freund und nicht das Buch verteidigen wollen, niemand könne die Realität der Shoah in Abrede stellen. Da war er bereits aus der Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus ausgeschlossen worden. 11 Abbé Pierre soll unter den Auseinandersetzungen um diese Äußerungen bis zuletzt gelitten haben. Seinem Ansehen aber haben sie, wenn man Umfragen glauben darf, in der breiten Öffentlichkeit nicht geschadet. Diese wird die „Stimme der Menschen ohne Stimme“ in Erinnerung behalten. 1 Zitat Abbé Pierre und Buchtitel: Abbé Pierre: Je voulais être marin, missionnaire ou brigand. Carnets intimes inédits, Paris, Le Cherche-Midi, 2002. 2 Näheres zum biographischen Hintergrund bei Oschwald, Hanspeter: Abbé Pierre, Freiburg, Herder, 1995. 3 Der komplette Wortlaut der Erklärung findet sich auf der website der Compagnons d’Emmaüs unter http: / / www.emmaus-france.org. 4 Dass dies inzwischen sozusagen legendär geworden ist, zeigt auch die Tatsache, dass die Hilfskampagne 1989 als Vorlage zu einem Spielfilm „Hiver 1954“ von Denis Amar diente, in dem Claudia Cardinale und Lambert Wilson mitspielen. 5 Barthes, Roland: „L’Iconographie de l’Abbé Pierre“, in: Ders.: Mythologies, Paris, Seuil, 1957, 54-56. 6 Gaullaud, Patrice/ INED, zit. nach Lunel, Pierre: L’abbé Pierre. L’insurgé de Dieu, Paris, Edition n°1, 1989, 443. 7 Darunter finden sich auch so umstrittene Aktionen wie sein Einsatz für die nach Frankreich geflüchteten Mitglieder der italienischen Roten Brigaden Anfang der Achtziger Jahre. 8 Ausführlich zum Kampf gegen Armut und Wohnungslosigkeit in Frankreich und seinen Trägern siehe Ruß, Sabine: Interessenvertretung als Problemkonstruktion. Schwache Interessen im politischen Kräftefeld moderner Demokratie am Beispiel Wohnungsloser in Frankreich und den USA, Baden-Baden, Nomos, 2005, 204-232, 291-334. 9 Libération vom 23.1.2007, 2. 10 In seinem letzten, 2005 erschienen Buch Mon Dieu - Pourquoi? Paris, Plon (mit Frédéric Lenoir) sprach sich Abbé Pierre für eine Freiwilligkeit des Zölibats aus und gab zu, er habe die sexuelle Enthaltsamkeit selbst nicht immer einhalten können. 11 Einige seiner Äußerungen sind jedenfalls ambivalent. In einem Gespräch mit Bernard Kouchner äußerte er etwa, das gelobte Land sei von den Juden zum Preis des Völkermords der dort bereits ansässigen Völker erlangt worden. Diese Passage wurde - angeblich - aus dem 1993 bei Robert Laffont erschienenen Interview-Buch Dieu et les hommes gestrichen und dann zitiert in: Burnier, Michel-Antoine; Romane, Cécile: Le secret de l’Abbé Pierre; Paris, éd. Mille et une nuits, 1996,11. Einige Kommentatoren - etwa der Nouvel Observateur - interpretierten diese Äußerung als Nachhall der im sozialen Katholizismus vorzufindenden antijudaistischen Elemente und der in der katholischen Kirche der Vorkonzilszeit vorhandenen Vorstellung eines „Kainsmals“ des jüdischen Volkes, das seine Diaspora selbst verschuldet habe.