eJournals lendemains 33/129

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2008
33129

In memoriam Martin Hellweg (1908 – 2006)

2008
Martin Vialon
ldm331290061
61 Martin Vialon In memoriam Martin Hellweg (1908 - 2006) Philosophischer Romanist, Kritiker Martin Heideggers und Theoretiker des Sozialismus (Teil 2) IV. Der Briefwechsel Heidegger/ Marcuse und „Umfälschungen“ in den Vorlesungen „Einführung in die Metaphysik“ Die Beschwichtigungstaktik, die Heidegger im Humanismus-Brief anschlägt, erfährt eine weitere Rechtfertigung, die im Kontext des Briefwechsels mit seinem Schüler Herbert Marcuse zu situieren ist. 1 Zum gleichen Zeitpunkt, als Hellwegs Proletariatsschrift erschien, hatte Marcuse von seinem Freiburger Lehrer ein klärendes Wort gefordert. Nicht zufällig wurde der erste Brief am Tag von Goethes Geburtstag verfasst. Nachdrücklich verweist dieses Datum auf den Widerspruch zwischen dem humanistischen Geist der Weimarer Klassik und dessen Pervertierung. Die von Marcuse gelegten Erinnerungsspuren beziehen sich auf die massenhaften Morde und medizinischen Fleckfieberversuche, die im nahe gelegenen Konzentrationslager Buchenwald stattfanden; am 28. August 1947 heißt es: Lieber Herr Heidegger, Ich habe lange über das nachgedacht, was Sie mir bei meinem Besuch in Todtnauberg gesagt haben […]. Sie haben mir gesagt, dass Sie sich 1934 völlig vom Nazi Regime dissoziiert haben, daß Sie in ihren Vorlesungen außerordentlich kritische Bemerkungen gemacht haben, und dass Sie von der Gestapo überwacht wurden. […] Aber die Tatsache bleibt bestehen, dass Sie sich 1933-34 so stark mit dem Regime identifiziert haben, daß Sie heute noch in den Augen vieler als eine der unbedingtesten geistigen Stützen des Regimes gelten. […] Sie haben niemals öffentlich widerrufen - auch nicht nach 1945. […] Ich - und sehr viele andere - haben Sie als Philosophen verehrt und unendlich viel von Ihnen gelernt. […] Ein Philosoph kann sich im Politischen täuschen - dann wird er seinen Irrtum offen darlegen. Aber er kann sich nicht täuschen über ein Regime, dass Millionen von Juden umgebracht hat - bloß weil sie Juden waren, das den Terror zum Normalzustand gemacht hat und alles, was je wirklich mit dem Begriff Geist und Freiheit und Wahrheit verbunden war in sein blutiges Gegenteil verkehrt hat. […] Sie können die Identifizierung Ihrer Person und Ihres Werkes mit dem Nazismus (und damit die Auslöschung Ihrer Philosophie) nur dann bekämpfen (und wir können sie nur dann bekämpfen), wenn Sie ein öffentliches Bekenntnis Ihrer Wandlung und Verwandlung ablegen.2 Heidegger bejaht am 20. Januar 1948, dass er sich eine „geistige Erneuerung“ 3 vom Nationalsozialismus erhoffte, der ihm zugleich die „Rettung des abendländischen Denkens vor den Gefahren des Kommunismus“ 4 verkörperte. Er gibt seinen „politischen Irrtum“ 5 zu und erklärt „unter Protest gegenüber Staat und Partei“ 6 das Rektorat 1934 niedergelegt zu haben. Die Rektoratsrede bezeichnet Heidegger als 62 „Entgleisung“ 7 und fügt noch hinzu: „Ich habe in meinen Vorlesungen und Übungen von 1934/ 34 einen so eindeutigen Standpunkt eingenommen, dass von denen, die meine Schüler waren, keiner der Nazi-Ideologie verfiel.“ 8 Heidegger reagiert jedoch ambivalent, indem er die an ihn gerichtete Frage, die sich auf die Verführbarkeit des Philosophen zur Macht bezieht, mit dem Hinweis auf seine Schüler abschmettert und die öffentlich geforderte Selbstkritik ignoriert. Dass diese Zurückhaltung, wie Rüdiger Safranski darlegt, aus „Selbstachtung“ 9 vor der unterstellten Komplizenschaft mit den NS-Verbrechen an den Juden geschieht, mag als psychologische Erklärung gelten, aber letztlich schließt sie die Wechselwirkung zwischen Heideggers politischer Praxis und seiner Philosophie aus. Safranskis Auffassung steht derjenigen von Paul Hühnerfeld entgegen, der erläutert, dass Heideggers Philosophie nicht aus einem „metaphysisch sterilisierten Raum“ 10 zu betrachten sei. Die Hinwendung zum Nationalsozialismus wird nicht als bloßer „Tagesirrtum“ 11 abgetan, sondern aus Heideggers Neigung zum Provinzialismus und dessen Feindschaft gegen alles Urbane erklärt. 12 Beide Fermente berühren sich mit dem kleinbürgerlichen Lebensbezug nationalsozialistischer Ideologie und können ideengeschichtlich auf die Mystik des Meisters Eckehart und die Rassetheorien von Arthur de Gobineau, Houston Stewart Chamberlain und Alfred Rosenberg zurückgeführt werden. 13 Safranskis psychologistische Begründung bleibt unzweifelhaft fraglich, wenn man sie mit Heideggers brieflichen Aussagen gegenüber Marcuse und den im Sommersemester 1935 in Freiburg gehaltenen Vorlesungen zur „Einführung in die Metaphysik“ konfrontiert. Umgekehrt kann dadurch Hellwegs in der Rousseau-Dissertation und Proletariatsschrift dargelegte Kritik an Schärfe gewinnen. Besonders im ersten Teil widmet sich Heidegger kulturellen Fragestellungen und bezieht sie auf die Forderung des damaligen NS-Kulturbetriebes, in dem sich die Philosophie in Gestalt der Metaphysik magdfähig zu machen und praktischen Zielen unterzuordnen habe. 14 Er widerspricht zwar den offiziellen Vorgaben, denn die Aufgabe der Philosophie bestünde im fragenden „Wissen-wollen“, wodurch sich die Entschlossenheit des Subjekts als „in der Wahrheit stehen können“ 15 zeitige. Aber die kulturpolitische Wahrheitsfrage zeige sich dergestalt, dass Deutschland zwischen Amerika und Russland in die „Zange“ 16 genommen werde, wobei die Kultur beider Großmächte durch „trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen“ 17 zu bestimmen sei. Ungeachtet der historischen Entstehungsvoraussetzungen beider Nationen und ihrer Wissenschaftssysteme, charakterisiert Heidegger deren Erscheinungsform als Uniformität. Als allgemeines Kulturphänomen stehen die amerikanischen und russischen Standardisierungstendenzen dem metaphysischen Volk der Deutschen und Europäer entgegen. 18 Bis zu diesem Punkt der Argumentation, die weitgehend auf Nietzsches Kulturkritik aufbaut (Heideggers Worte „die Lage Europas ist umso verhängnisvoller, als die Entmachtung des Geistes aus ihm selbst herkommt“ 19 erinnern daran), könnte man der Analyse vorurteilsfrei folgen. Wenn jedoch die Rede auf die „Mißdeutung des Geistes“ gelangt, verschlägt es einem die Sprache. In den 63 genannten Nationen walte angeblich das „Literaten- und Ästhetentum“ 20 und die „Vorherrschaft eines Durchschnitts“; 21 offenbar hatte Heidegger weltbekannte russische und amerikanische Schriftsteller wie Wladimir Majakowski, Marina Iwanowna Zwetajewa, Michael Bulgakow oder John Dos Passos, William Faulkner und Gertrude Stein im Blick, deren literarischer Avantgardismus disqualifiziert wird; im sich direkt anschließenden Passus heißt es weiter: Der so zur Intelligenz umgefälschte Geist fällt damit herab in die Rolle eines Werkzeugs im Dienste von anderem, dessen Handhabung lehr- und lernbar wird. Ob dieser Dienst der Intelligenz sich nun auf die Regelung und Beherrschung der materiellen Produktionsverhältnisse (wie im Marxismus) oder überhaupt auf die verständige Ordnung und Erklärung alles jeweils Vor-liegenden und schon Gesetzten (wie im Positivismus) bezieht oder ob er sich in der organisatorischen Lenkung der Lebensmasse und Rasse eines Volkes vollzieht, gleichviel, der Geist wird als Intelligenz der machtlose Überbau zu etwas Anderem, dem, weil geist-los oder gar geist-widrig, für das eigentlich Wirkliche gilt. Versteht man, wie es der Marxismus in der extremsten Form getan hat, den Geist als Intelligenz, dann ist es, in der Gegenwehr zu ihm, völlig richtig zu sagen, dass der Geist, d. h. die Intelligenz, in der Ordnung der wirkenden Kräfte des menschlichen Daseins stets der gesunden leiblichen Tüchtigkeit und dem Charakter nachgeordnet werden muß. Diese Ordnung wird aber unwahr, sobald man das Wesen des Geistes in seiner Wahrheit begreift. Denn alle wahre Kraft und Schönheit des Leibes, alle Sicherheit und Kühnheit des Schwertes, aber auch alle Echtheit und Findigkeit des Verstandes gründen im Geist und finden Erhöhung und Verfall nur in der jeweiligen Macht und Ohnmacht des Geistes.22 Heideggers Angriffe richten sich gegen den Positivismus und Marxismus, wobei die Verflechtung theoretischer Arbeit in den Lebensprozess der Gesellschaft und die Brauchbarkeit positivistischer Resultate fragwürdig erscheinen. Bemerkenswert ist, dass Heidegger vermutlich im Jahr 1935 die Marxschen Frühschriften bekannt gewesen sein dürften. Aber eine philosophische Begriffsbildung folgt daraus nicht. Nur eine denunzierende Redeform bleibt unterm Strich übrig, denn es geht ihm nicht darum, die philosophischen Explikationen anzuerkennen, die Marx und Engels hinsichtlich der Überwindung des Hegelschen und Feuerbachschen Idealismus entwickelt hatten. Sie bestand darin, dass der Widerspruch zwischen der Vergegenständlichung und der sinnlich-tätigen Gegenständlichkeit im Medium des Bewusstseins durch die Vernunft versöhnt wird. Marx hatte verschiedentlich Hegel vorgeworfen, dass ihm die menschliche Arbeit und daraus entstehende Entfremdung nur als positives Substrat erscheint. 23 Hegel hatte den Gegensatz zwischen abstraktem Denken und sinnlicher Entäußerung zum Gegenstand des abstrakten Gedankens erhoben und dadurch die Gegenständlichkeit des Arbeitsprozesses ins Bewusstsein zurückgespiegelt: noch bevor die Wirklichkeit bei Hegel als vernünftig zu bejahen ist, ist sie im Bewusstsein schon affirmativ als solche vorhanden. 24 Marx geht es darum, die entfremdete Form der gegenständlichen Wirklichkeit aufzuheben und die dem Menschen angemessene Weise seiner Vergegenständlichung freizusetzen. Bei dieser Freisetzung kommt es auf die Neuorganisation der Arbeit an. Die Vernunft und das Bewusstsein haben sich selbst durchsichtig zu 64 werden, indem der Mensch nicht mehr als Glied eines vernunftlosen Organismus handelt, sondern sich zugleich bewusst als Subjekt und Objekt seiner Tätigkeit erlebt. Die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Mehrwerts soll nicht mehr auf die Ansprüche von wenigen Einzelnen beschränkt bleiben, sondern der Allgemeinheit zu gute kommen. Nicht mehr die Aufrechterhaltung der Privilegien, die auf den Schultern der materiell Ausgebeuteten beruht, sei das Lebensprinzip, sondern die Assoziation freier Menschen, bei der jedes Individuum die gleiche Möglichkeit habe, sich frei zu entfalten. 25 Das Hauptziel ist und bleibt die Konstituierung eines bewussten und sich selbst bestimmenden Subjekts. Dagegen steht Heideggers Disqualifizierung des Geistes zu einem reinen Anhängsel des Leibes. Die Unterordnung unter die Leiblichkeit deutet darauf hin, dass Heidegger bewusst ist, dass die Geschichte des Menschen ein Teilmoment der Naturgeschichte repräsentiert, worin sich der Mensch als leidenschaftliches Wesen entfaltet. Hierin besteht ein Widerspruch seines Denkens, denn die Korrelation zwischen geistiger und körperlicher Arbeit kommt bei Marx in der Vorstellung zum Ausdruck, dass sich der Mensch allseitig und unter Zuhilfenahme ihm aller zur Verfügung stehenden menschlichen Potenziale zu verwirklichen strebt. Geistige und körperliche Arbeit werden als gleichberechtigte Glieder der Selbstverwirklichung verstanden und das Postulat von der allseitigen und totalen Aneignung der Welt beinhaltet, 26 dass bei jedem Arbeitsprozess beide Elemente gefordert sind und sich als solche zusammenfügen. Dennoch bleibt die Entfremdung des menschlichen Wesens als Entfremdung des Selbstbewusstseins bestehen. Das heißt, dass die antike Vorstellung von der Leib-Geist-Einheit, auf die sich Heidegger bezieht, schon bei Schiller, später von Hegel und Marx, aufgebrochen wurde. Schiller hatte im „sechsten Brief“ auf vormaterialistische Weise dargelegt, dass der menschlichen Kulturentwicklung eine „Wunde“ 27 zugefügt wurde. Sie besteht darin, dass die „alles vereinende Natur“ 28 der Griechen in der Neuzeit durch neue Formen der Fragmentarisierung zerriss und sich durch das „eintönige Geräusch des Rades“ 29 kennzeichnen lasse. Bei Heidegger wird jedoch nicht wie im Christentum die Körperlichkeit („das Geräusch des Rades“) erniedrigt, um die Arbeit zu preisen, sondern das Fleisch soll zum Zweck der physischen Abrichtung aufgewertet werden. Die Metapher von der „Kühnheit des Schwertes“ bezieht sich daher zurück auf den Geist des Griechentums, wo der trainierte Körper des Fechters als Bedingung der Aufrechterhaltung einer aristokratischen Gesellschaftsordnung diente. Aber Heideggers Schwertmetapher ließe sich auch im Sinne einer materialistischen Handlungstheorie verstehen, denn die Entwicklung des Denkens verläuft über den Gebrauch der Hand und des Leibes als Werkzeuge zu höheren Formen operationaler Tätigkeit. 30 Heideggers Wissenschaftskonzeption korrespondiert mit der Erziehungsprogrammatik des kalós kai agathós (dem griechischen Gymnasium), welches den Zweck, wie Adorno und Horkheimer ideologiekritisch sagen, „zur realen Aufrechterhaltung der eigenen Macht, wenigstens als Training zu herrschaftlicher Haltung“ 31 verfolgte. Der nicht-christliche Gebrauch der Schwertmetapher 32 wird an dieser 65 Stelle aufgenommen, indem die Frankfurter Philosophen anmerken: „Die Menschheit lässt sich anstatt durch das Schwert durch die gigantische Apparatur versklaven, die am Ende freilich wieder das Schwert schmiedet.“ 33 Bezieht man diese Kritik auf Heidegger, so erscheint seine Philosophie als in die Moderne transformiertes Ideal, dessen angestrebte körperliche, ethische und geistige Vollkommenheit jedoch in der Praxis durch die Handhabung der Mordwerkzeuge zur Anwendung gelangte: Leiblichkeit ist in den Konzentrationslagern nur noch als zwangsweise ausgebeuteter Körper oder aufgestapelter Leichenhaufen erkennbar. Dass sich Heidegger hinter feststehenden Begriffen verschanzt und diese nach Gutdünken umformt, zeichnet seine Technik des Umgangs mit der philosophischen Überlieferung aus. Diese Art Verfälschung geht aus einer weiteren Explikation hervor, die zwar im abschließenden Teil der Vorlesung eingebaut ist, aber in Verbindung mit der Schwertmetapher zu betrachten ist. Vorgeblich bezieht sie sich auf die ontologische Differenz zwischen Sein und Sollen, worin der an Kants Ethik orientierte Wertbegriff (siehe Teil 1, Abschnitt II.) entkräftet wird, weil Heidegger den kategorischen Imperativ an die herrschenden Bedingungen des gesellschaftlichen Seins preisgibt: „Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das Geringste zu tun hat, das macht seine Fischzüge in diesen trüben Gewässern der ‘Werte’ und der ‘Ganzheiten’.“ 34 Heidegger erkennt, dass der Nationalsozialismus keine auf dessen nihilistische Weltanschauung zugeschnittene Philosophie vorzuweisen habe. Aus diesem Mangel betrachtet er die Indienststellung eigener Gedankenarbeit als philosophischen Überbau für „die Größe dieser Bewegung“, indem wissenschaftliches Handeln das Interesse bezweckt, sich an der Aufrechterhaltung eines wissenschaftlich-technischen Systems zu beteiligen. Mit anderen Worten: Die „planetarische Technik des neuzeitlichen Menschen“, die in den Labors der gleichgeschalteten Universitäten und Forschungsinstituten erfunden und erprobt wird, soll ideologisch auf solche Weise legitimiert werden, dass philosophisch kein Zweifel an ihrer sich gegen das menschliche Leben richtende Anwendung aufkommen möge. Der Zweck philosophischen Denkens besteht darin, dass die reale Herrschaft zu bestärken sei, die Menschen in Material umwandelt und eine Form der technisch-instrumentellen Vernunft als Mittel repräsentiert, die alle bisherigen geschichtlichen Proportionen von Rationalität und Verhältnismäßigkeit aufsprengt. Die gegenüber Marcuse brieflich 1948 zur Geltung gebrachte Distanzierung von der Rektoratsrede muss schlechterdings als Verfälschung und Abmilderung der intendierten Aussage bezeichnet werden. Auch der folgende Passus belegt, dass die Neubegründung der Philosophie das Ziel verfolgt, die Vernunft als Grundkategorie philosophischen Denkens auszuhebeln. Sie entsteht aus Heideggers Enttäuschung über den Liberalismus des 19. Jahrhunderts und schlägt als fataler Zirkelschluss in totalitäre Entschlossenheit um; es heißt: 66 Wenn jetzt zwei scheinbar verschiedene Auffassungen der Wissenschaft sich scheinbar bekämpfen, Wissenschaft als technisch-praktisches Berufswissen und Wissenschaft als Kulturwert an sich, dann bewegen sich beide in der gleichen Verlaufsbahn einer Mißdeutung und Entmachtung des Geistes. Nur darin unterscheiden sie sich, daß die technisch-praktische Auffassung der Wissenschaft als Fachwissenschaft noch den Vorzug der offenen und klaren Folgerichtigkeit bei der heutigen Lage beanspruchen darf, während die jetzt wieder aufkommende reaktionäre Deutung der Wissenschaft als Kulturwert die Ohnmacht des Geistes durch eine unbewußte Verlogenheit zu verdecken sucht. […] Dieser mehrfachen Mißdeutung des Geistes gegenüber bestimmen wir das Wesen des Geistes kurz so (ich wähle die Fassung aus meiner Rektoratsrede, weil hier alles der Gelegenheit entsprechend knapp zusammengegriffen ist): ‘Geist ist weder leerer Scharfsinn, noch das unverbindliche Spiel des Witzes, noch das uferlose Treiben verstandesmäßiger Zergliederung, noch gar Weltvernunft, sondern Geist ist ursprünglich gestimmte, wissende Entschlossenheit zum Wesen des Seins.’ (Rektoratsrede, 13). Geist ist die Ermächtigung der Mächte des Seienden als solchen im Ganzen. Wo Geist herrscht, wird das Seiende als solches immer und jeweils seiender.35 Ersichtlich werden zwei Dinge: einerseits die ernstzunehmende Wissenschaftskritik und anderseits die Auslieferung der Existenzphilosophie an den Nationalsozialismus. Die wiederholte Rede von der „Umfälschung des Geistes“ richtet sich gegen den deutschen Idealismus, der metaphorisch in Gestalt der „Weltvernunft“ auftrat und so auf Hegels zeitaktuelle Verkörperung seiner Philosophie in der Figur Napoléon Bonapartes beziehbar ist. Als Motor der Freiheit hatte Napoléon die Gedanken der französischen Revolution auf den Spitzen der Bajonette nach Preußen eingeführt und die politische Emanzipation im „Code Civil des Français“ (1804) verankert. Heideggers Falschmünzerei besteht darin, dass er die Denotate von Hegels Philosophie aus ihrem gesellschaftlich-historischen Kontext herausschneidet. Hegel hatte die Geschichte auf einem ihrer Höhepunkte fixiert gesehen, als Napoléon nach der siegreichen Schlacht von Jena und Auerstedt (14. Oktober 1806) selbstbewusst durch Jena ritt. Er bemerkte beim Anblick des Franzosen, dass nun ein neues, liberales Zeitalter angebrochen sei: „Den Kaiser - diese Weltseele - sah ich durch die Stadt zum Recognoszieren hinausreiten; - es ist in der Tat eine wundervolle Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf dem Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht.“ 36 Die zeitliche Nähe dieser Briefäußerung zur „Phänomenologie des Geistes“ korrespondiert mit Heideggers Rede von der „Mißdeutung des Geistes“. Was der Skeptiker Hegel darunter versteht, lässt sich so übersetzen, dass der wissenschaftliche Geist niemals ein Garant für das Auffinden der Wahrheit ist, und dass das Wissen, welches sich in den Dienst partikularer Machtinteressen stellt, an der Pforte der Kritik zerschellen muss, falls es sich unhinterfragt in das bestehende Gesellschaftssystem einordnet. 37 Gerade an diesem Punkt kann der Kontrast zu Heidegger gar nicht schärfer ausfallen, hatte doch Hegel die Rolle der Wissenschaft als ständige, sich bildende und verwandelnde Bewegung verstanden und sie als „Arbeit an der Weltgeschichte“ 38 definiert. Heidegger hingegen legt im direkten Anschluss an das Selbstzitat aus der Rektoratsrede die Verschweißung 67 von Wissenschaft als „Arbeitsdienst“, 39 „Wehrdienst“ 40 und „Wissensdienst“ 41 nahe, die in folgender Synthese kulminiert: „Diese Wissenschaft ist gemeint, wenn das Wesen der deutschen Universität umgrenzt wird als die hohe Schule, die aus Wissenschaft und durch Wissenschaft die Führer und Hüter des Schicksals des deutschen Volkes in die Erziehung und Zucht nimmt.“ 42 Heideggers Wissenschaftsauffassung ist zu einem Dogmatismus der Denkungsart, um mit Hegel zu reden, herabgesunken; man erkennt, dass der Begriff der „Entschlossenheit“ aus „Sein und Zeit“ in den Begriff „wissende Entschlossenheit“ (Rektoratsrede und Metaphysik-Vorlesung) umgemünzt wird und den wissenschaftlichen Überbau des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates mitbildet: durch dieses Manöver ist die neue Einheit im zeitaktuellen Seinsgrund der Politik hergestellt, worin sich zugleich die kulturellen Rahmenbedingungen künftigen Denkens festlegen lassen. Dass Heidegger die Auslieferung seiner Philosophie an die Gegenwartsverhältnisse konstruierte, zeigt sich im abschließenden Teil der Vorlesung durch die Interpretation der Fragmente des Heraklit; die Deutung ergibt sich durch folgende Vorgabe: Wenn man heute der Wissenschaft empfiehlt, Dienst am Volke zu sein, so ist das zwar eine notwendige und beachtliche Forderung, aber damit ist zu wenig und nicht das Eigentliche gefordert. Der verborgene Wille der Umgestaltung des Seienden in die Offenbarkeit des Daseins will mehr. Um einen Wandel der Wissenschaft, d. h. zuvor des ursprünglichen Wissens zu erwirken, dazu braucht unser Dasein einen ganz anderen metaphysischen Tiefgang. Es braucht erst wieder ein gestiftetes und wahrhaft gebautes Grundverständnis zum Sein des Seienden im Ganzen.43 Für diesen Konstruktionsprozess einer sich zu wandeln habenden Wissenschaft, die sich einerseits durch Volksnähe und andererseits „metaphysischen Tiefgang“ auszuzeichnen habe, wird als Beleg das zweite Fragment Heraklits herangezogen. Wesentlich ist, dass Heidegger völlig zeitlos interpretiert und über eine Inhaltsangabe nicht hinaus gelangt. Heraklit, der in Ephesos lebte und dessen Lebenshöhepunkt in die letzten Jahre des sechsten Jahrhunderts vor Christus fällt, als sich Ionien unter persischer Herrschaft befand, beschreibt das Problem des Logos folgendermaßen: Gegenüber der hier gegebenen, unabänderlich gültigen Aussage [Logos] erweisen sich die Menschen als verständnislos, sowohl bevor sie als auch wenn sie sie einmal gehört haben. Denn obwohl alles in Übereinstimmung mit der hier gegebenen Auslegung geschieht, gleichen sie Unerfahrenen, sobald sie sich überhaupt an solchen Aussagen und Tatsachen versuchen, wie ich sie darlegte, indem ich jedes Einzelne seiner Natur gemäß zerlege und erkläre, wie es sich damit verhält. Den anderen Menschen aber entgeht, was sie im Wachen tun, genau wie das, was sie im Schlaf vergessen.44 Heidegger betrachtet Heraklits Logos-Verständnis als Ursprung des Seinsgrundes, das heißt, dass er ihn als den metaphysischen Ort versteht, von dem das Denken seinen Lauf nimmt. Aber er koppelt das Denken vom Sprechen ab und fragt nicht, wie das Wort, die Rede und ihre Verhältnismäßigkeit der Aussagen entstehen und ob die Sprache der Menschheit verliehen oder von ihr selbst erfunden wurde. Inso- 68 fern müssen kulturhistorische Modelle zur Materialität des Seinsgrundes als Logos- und Spracherwerb (Herder, Wilhelm von Humboldt, Marx, Engels, Schuchardt, Saussure, Vossler, Spitzer) und die theologische Deutung des Sündenfalls (Benjamin) als unstatthafte Erklärungen zurückgewiesen werden. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Vernehmen des Logos: Vom Logos wird gesagt: 1. Ihm eignet die Ständigkeit, das Bleiben; 2. er west als das Zusammen im Seienden, das Zusammen des Seiend; das Sammelnde; 3. alles was geschieht, d. h. in das Sein kommt, steht da gemäß diesem ständigen Zusammen; dieses ist das Waltende. Was hier vom gesagt wird, entspricht genau der eigentlichen Bedeutung des Wortes: Sammlung. Wie jedoch das deutsche Wort 1. das Sammeln und 2. die Gesammeltheit meint, so bedeutet hier ó die sammelnde Gesammeltheit, das ursprünglich Sammelnde. ó heißt hier weder Sinn, noch Wort, noch Lehre, noch gar ‘einer Lehre Sinn’, sondern: die ständig in sich waltende ursprünglich sammelnde Gesammeltheit.45 Heidegger zeigt die Umgestaltung eines philosophischen Begriffs an, wodurch die historischen Determinanten, die durch den Logos mitgemeint sind, selbst nicht berührt werden. Wenn der Logos mit der waltenden Gesammeltheit im Sein identisch ist, so erscheint er als transzendente Sprache, in der die Implikationen sozialer Tatbestände, Geschehnisse und Bedeutungen nicht benannt werden. Dadurch wird die Semantik der Sprache, die als Bewusstseinsakt auf Mitteilung bedacht ist, einen Adressaten fordert und die Erweiterung zum Gespräch benötigt, schlechterdings wegeskamotiert. Der Logos, der unter historischen Bedingungen entsteht und sich als primärer Denkprozess wandelt, wird lediglich in seinem Formcharakter betrachtet, der nach Herrschaft strebe: Weil das Sein als Logos ursprüngliche Sammlung ist, kein Geschiebe und Gemenge, wo jegliches gleichviel und gleichwenig gilt, gehört zum Sein der Rang, die Herrschaft. Wenn das Sein sich eröffnen soll, muß es selbst Rang haben und innehalten. Daß Heraklit von den Vielen als den Hunden und Eseln spricht, kennzeichnet diese Haltung. Sie gehört wesentlich zum griechischen Dasein. Wenn man schon bisweilen heute allzu eifrig die Polis der Griechen bemüht, sollte man diese Seite nicht unterschlagen, sonst wird der Begriff der Polis leicht harmlos und sentimental. Das Rangmäßigere ist das Stärkere. Deshalb ist das Sein, der Logos, als der gesammelte Einklang, nicht leicht und in gleicher Münze für jedermann zugänglich, sondern entgegen jenem Einklang, der jeweils nur Ausgleich, Vernichtung der Spannung, Einebnung ist, verborgen.46 Für Leser, die mit der Geschichte der Griechen nicht vertraut sind, wird Heideggers Interpretation erst ersichtlich, wenn man Heraklits politische Auffassung berücksichtigt, aus der sich das Wechselverhältnis von Logos und Herrschaft erschließt. Er entstammt einer Adelsfamilie und war nach Geburtsrecht ein Priesterkönig, der in einem dunklen Stil schrieb. Heraklits Weltanschauung war antidemokratisch, wie Heidegger mit negativem Bezug auf die „Vielen“ betont, die vermittels der Tiermetapher angesprochen werden. Aber Tiermetaphern dienen Heraklit als semantische Mittel, um alltäglich-realistischen Beobachtungen humorvoll Ausdruck zu verleihen. Insofern reagieren Hunde auf die ihnen andressierte Funktion der Bewachung ih- 69 res Herrn und seines Eigentums: „Hunde kläffen an, wen sie nicht kennen.“ 47 Und Esel erscheinen als Lasttiere, die das transportierte Gold einer ionischen Miene zur Schiffsverladung nach Athen nicht fressen können, weil sie es als Last auf dem Rücken tragen: „Eseln ist Hackstreu lieber als Gold.“ 48 Ob sich Heraklits Metaphern tatsächlich so eindeutig, wie Heidegger vorgibt, gegen das Volk richteten, muss fraglich bleiben. Außerdem fällt auf, dass Heidegger den Standpunkt des sapere aude unterschlägt, den Heraklit sich zueigen gemacht hatte: „Es ist allen Menschen gegeben, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu sein.“ 49 Heraklits aufgeklärte Adelsposition nimmt Bezug auf die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, denn er lebte zur Zeit der demokratischen Reformen, die sich vom Beginn des sechsten bis zum vierten Jahrhundert vor Christus erstreckten und einen Wendepunkt in der griechischen Gesellschaft bedeuteten. Wesentlich ist, dass sich die vorzivilisatorische Gentilverfassung zu einem Staatsgefüge entwickelte. Die Einteilung des Volkes in Klassen nach Besitzverhältnissen wurde zunächst durch Theseus, später von Solon und Kleisthenes vorgenommen, und die Herausbildung der Klassengesellschaft korrespondiert mit der Einführung der Geldwirtschaft und Herstellung von Münzen in Lydien. Dadurch hatte sich die Naturalwirtschaft von der Gentilverfassung abgelöst und das neue Zahlungsmittel konnte sich über die Ägäis nach Athen, Korinth und die griechischen Kolonien ausbreiteten. Die Entstehung von Heraklits Philosophie fällt in die Epoche beschleunigter Handelsentwicklung im östlichen Raum des Mittelmeeres, das heißt, dass einerseits der zunehmende Warenverkehr mit der Herausbildung einer Kaufmannsklasse bei steigender Verwendung von Sklavenarbeit verbunden war, wodurch andererseits die Entfaltung der freien Arbeit behindert wurde. 50 Auf dem Rücken dieser untersten Klasse des frühzivilisatorischen Proletariats bildete sich die erste charismatische Propheten-, Priester- und Intellektuellenschicht heraus, zu der auch Heraklit gezählt werden kann. 51 Die Folgen dieser Entwicklung der frühgriechischen Gesellschaft sind bei Friedrich Engels zu klassischer Darstellung gelangt. Er hatte diese kulturelle Entwicklungsstufe, basierend auf Lewis Henry Morgans Untersuchung „Ancient Society“ (1877), als Beginn der Zivilisation klassifiziert: „Die Stufe der Warenproduktion, womit die Zivilisation beginnt, wird ökonomisch bezeichnet durch die Einführung 1. des Metallgeldes, damit des Geldkapitals, des Zinses und Wuchers; 2. der Kaufleute als vermittelnder Klasse zwischen den Produzenten; 3. des Privateigentums und der Hypothek, und 4. der Sklavenarbeit als herrschende Produktionsform.“ 52 Die Schlussfolgerung, die sich ergibt, zielt in die Richtung, dass die Entstehung der Philosophie des Heraklit mit dem Wachstum der Warenproduktion in ursächlichen Zusammenhang gebracht wird. Diese Position wurde etwa zeitgleich zu Heideggers Metaphysik-Vorlesung von Alfred Sohn-Rethel vertreten, wenn er sagt: „Wir vertreten die Hypothese, dass die Ausprägung der Geldform mit der Ausbildung der gewerblichen Sklavenarbeit zusammengehangen haben muß. Der Sklave ist ein Gebrauchswert, dessen in es eingeschlossene Eigenschaft es ist, zur Arbeit da zu sein. Wo Warenproduktion mit Sklavenarbeit betrieben wird, ist das Verhältnis 70 des Geld-Waren-Besitzers zur Produktion durch bloße Tauschwertbeziehungen vermittelt.“ 53 Bezogen auf die Logos-Interpretation, die mit der Frage nach der Existenz des Menschen im Seinsgrund zusammenfällt, würde sich eine andere Lesart ergeben, da Heidegger die historischen Determinanten von Heraklits Philosophie systematisch ausblendet. Dass der Logos nach Herrschaft strebt, wie Heidegger sagt, erklärt sich nicht allein aus Heraklits Gegnerschaft zur Demokratie, sondern daher, weil er ihre inneren Widersprüche gesehen hatte, die als Abbild klassenmäßiger Gegensätze im Logos verkörpert erscheinen. Die Herausbildung der Warenproduktion korrespondiert mit Formen des abstrakten Denkens (der Besitzer von Waren ist von der Praxis der Herstellung getrennt) und bedingt das Verstehen und oder Nicht-Verstehen dieses Prozesses in Bezug auf die Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Der Logos, den die Menschen vernehmen, teilt sich in drei Gruppen auf. Diejenigen, die das Wort als privilegierte Geistesarbeiter gehört und verstanden haben, diejenigen, die es erstmals vernehmen, aber noch nicht begreifen, weil sie als Kaufleute mit Dingen wie dem Handel beschäftigt sind und diejenigen, die das Wort aufgrund ihrer ausgepowerten Arbeitskraft als Sklaven nicht vernehmen können, da ihnen die Konzentrationsfähigkeit und Muße abhanden geht. Kurzum: im Seinsgrund des Logos hat sich die Wertform der Waren eingeschoben, indem sie als Verdinglichung das Verstehen der Menschen untereinander erschwert. Engels’ und Sohn-Rethels Gesellschaftsanalysen, die den historischen Ansatz zum Verständnis der Logos-Vorstellung liefern, mussten von Heidegger negiert werden, weil sich seine Argumentation auch gegen Hegels Flüssigkeitsmetapher des menschlichen Lebens richtete, die von Heraklits Fragmenten beeinflusst war. 54 Nach dem gescheiterten Rektorat suchte Heidegger nach einem gangbaren Weg, um das Sklaven- und Ausbeuterprogramm der nationalsozialistischen Diktatur mittels Heraklits Philosophie ontologisch zu unterfüttern. Der Logos als das Versammeltsein des Seins ist als Formcharakter zu betrachten; die historisch bestimmbaren Forminhalte, die Heidegger nicht für sein Heraklit-Verständnis benötig, müssen daher auf der Strecke bleiben. Insofern ist diese bloß formale Logos-Deutung präsent, als er durch Marcuse brieflich 1947 zur Rede gestellt wurde. Heidegger bezeichnete zwar in seiner Antwort die Rektoratsrede als „Entgleisung“, aber brauchte von den zwei Jahre später formulierten Gedanken der Metaphysik-Vorlesung nicht Abstand zu nehmen, weil der Logos als quasi wertfreie Kategorie betrachtet wurde. Positiv festzuhalten ist Heideggers Einsicht, dass das Vernehmen der Rede immer abhängig ist von den intellektuellen Voraussetzungen, die jeder einzelne Mensch auf unterschiedliche Weise mitbringt. Der Logos lässt sich nicht gewaltsam aufzwingen, denn seinem Wesen nach ist er frei zugänglich und greift auf etwas Bedeutendes über sich selbst hinaus, da seine Wirkung nicht vorhersehbar ist. Diese Perspektive lässt sich in Bezug auf Heidegger ideenhistorisch vermitteln, wenn man Webers religionssoziologische Analyse der alt-orientalischen Gesellschaft hinzuzieht und den Heraklitschen Logos als das Hervortreten eines persön- 71 lich-göttlichen oder menschlich-göttlichen Erlösers betrachtet. 55 So verstanden, erscheint der Logos bei Heidegger als Träger einer heilsgeschichtlichen Erlösungsidee, die sich an die Volksmassen richtet. Heideggers Bemerkung, dass im Neuen Testament, „nicht wie bei Heraklit“, 56 der Logos „ein besonders Seiendes, nämlich Gottes Sohn“ 57 sei, weist daraufhin, dass ihm die Verwandlung als „Verkündigung vom Kreuz“ 58 in der Passion Christi bewusst ist. Durch dieses figurale Verständnis des Logos als „Logos der Erlösung“, 59 der im Dekalog die Festlegung auf den Gesetzestafeln der altisraelischen Gemeinde erfahren hatte, sind zugleich Handlungsanleitungen lebensnotweniger Grundregeln reflektiert, wie sie bei 5. Mose 5, 6-21 hervortreten. Aus dieser Perspektive kann man Heidegger keinen offenen Antisemitismus unterstellen; sicherlich aber das eschatologische Jonglieren mit dem Begriff, um sich letztlich einer geschichtsphilosophischen Auslegung im Hinblick auf das Ausbleiben der Parusia zu entziehen. Dass diese Art des theologischen Lavierens etwa zeitgleich mit Heideggers dichterischer Metaphernbildung korrespondiert, fiel dem Kölner Psychologen Robert Heiß auf; er war mit Hugo Friedrich befreundet und wurde 1943 auf einen philosophischen Lehrstuhl in Freiburg berufen; am 20.5.1938 schreibt Heiß an Friedrich, der wenig später in Heidegger einen Gesprächspartner über Mallarmés moderne Lyrik finden sollte: „Er [Heidegger, M. V.] hat immer psalmodiert. Schon komisch, wie die verkappte Theologie doch hinter mancher Philosophie spukt.“ 60 Insofern verstellt das Herumspuken theologischer Denkungsart die materialistische Deutung des Logos, die sich in der Metaphysik-Vorlesung auf Heraklits Theorie des Feuers hätte beziehen müssen, um die darin hervortretende Grundanschauung vom Waren- und Äquivalentenaustausch darzulegen. Heraklit gibt bildhaft zu erkennen: „Alles ist austauschbar gegen Feuer und Feuer gegen alles wie Waren gegen Gold und Gold gegen Waren.“ 61 Das Feuer tritt als sinnbildlicher Urstoff der Kosmologie hervor, das als Gegensatz den Elementen des Wassers und der Qualität der Luft entspricht sowie auf den Kreislauf wechselnder Naturprozesse als fortwährenden Kampf der Gegensätze hinweist. Somit zeigt sich im Logos das Verhältnis, indem sich die Elemente austauschen und Materie durch einen sich selbst regelnden Kreislauf ständig umgebildet wird. Das Verhältnis, welches Heraklit zwischen dem Verbindungs- und Austauschprozess des Feuers mit anderen Naturstoffen betont, stellt zudem den Widerschein einer auf der Warenproduktion beruhenden Gesellschaft dar: das Gold ist von den Waren abstrahiert, um als allgemeines Äquivalent dienen zu können, was die Schlussfolgerung nahe legt, dass das Denken Heraklits durch die Entwicklung und Herausbildung der Warenproduktion mitbestimmt worden war. 62 Zum Abschluss der Briefdiskussion ist hervorzuheben, dass Heidegger zwar auf Marcuses Erinnerung an die Judenmorde reagierte, aber das altisraelische Gebot „Du sollst nicht töten“ (5. Mose 5, 17) relativierte: Zu den schweren berechtigten Vorwürfen, die Sie aussprechen ‘über ein Regime, das Millionen von Juden umgebracht hat, das den Terror zum Normalzustand gemacht hat und alles, was ja wirklich mit dem Begriff Geist und Freiheit u[nd] Wahrheit verbunden 72 war, in sein Gegenteil verkehrt hat’, kann ich nur hinzufügen, dass statt ‘Juden’ ‘Ostdeutsche’ zu stehen hat und dann genauso gilt für einen der Alliierten, mit dem Unterschied, dass alles, was seit 1945 geschieht, der Weltöffentlichkeit bekannt ist, während der blutige Terror der Nazis vor dem deutschen Volk tatsächlich geheimgehalten wurde.63 Heidegger suggeriert, dass die millionenfachen Verbrechen der Nazis nicht Verbrechen der Nazis waren, sondern stattdessen auf dem Konto des Klassenfeindes verbucht werden sollen. Marcuse hatte diese „Umfälschung“ erkannt und befragte Heidegger am 13. Mai 1948 noch einmal, indem er insistiert: „Stehen Sie nicht mit diesem Satz außerhalb der Dimension, in der überhaupt noch ein Gespräch zwischen Menschen möglich ist - außerhalb des Logos? “ 64 Hier war keine Solidarität zwischen Lehrer und einstigem Schüler verhandelbar. Die Diskreditierung der Vernunft und ihre Auslieferung an den Irrationalismus sowie die historische Perspektive, die Heidegger, bezogen auf die peinvollen Vertreibungen und Umsiedlungen aus Osteuropa vornimmt, konnte Marcuse nicht mittragen. Heideggers Destruierung historischen Denkens deutet auf eine Verschiebung der Geschichtsperspektive hin, worin zur Geltung kommt, dass er die Deutschen weniger als ein Tätervolk wahrnimmt, sondern sie vielmehr als Opfervolk betrachtet. 65 Nimmt man noch Heideggers Äußerung zur Bestimmung der modernen Agrarindustrie hinzu - „Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben“ 66 - so lässt sich unter ethischer Perspektive die eigene Rede von der „Entgleisung“ kaum aufrechterhalten. Stattdessen muss man von einer Kontimuität des Denkens ausgehen, denn im Wesen sind Agrarindustrie und Holocaust in Bezug auf die Produktion von Etwas „Das selbe“. Diese Bemerkung korrespondiert mit dem planetarischen Wesen der Technik, die Heidegger Mitte der dreißiger Jahre in den Vorlesungen zur „Einführung in die Metaphysik“ tätigte. Das erlaubt nicht, zu schließen, Heidegger müsse vom Bauern als Massenmörder sprechen, obwohl er seine Felder mit chemischen Düngemitteln und Maschinen bestellt. 67 Schon deshalb nicht, weil der industriell organisierte Massenmord des jüdischen Volkes und anderer Opfergruppen auf dem rassistischen Ausplünderungs- und Vernichtungswillen der Nazis und zustimmenden Duldung der Mehrheit des deutschen Volkes beruhte. Aber die strukturell jederzeit mögliche Umkehr der Zweck- Mittel-Relation hat zur Voraussetzung die Industrialisierung als kapitalistischen Formcharakter, der genauso rational ausgerichtet ist wie der Vernichtungswille menschlichen Lebens. Argumentativ ergibt sich durch Heideggers Vergleich die von ihm selbst gar nicht beabsichtigte Parallele zu Horkheimers und Adornos dialektischer Position, dass rationales Denken durch „Selbstzerstörung der Aufklärung“ 68 zu zivilisatorischen Katastrophen führen muss. 73 V. „Falsche Bewusstseinsbildung“ im Proletariat und ihre Negation durch ästhetische Transformation Zurück zu Hellweg, dem durch seine Bekanntschaft mit Hans Georg Gadamer diese Zusammenhänge bekannt waren. 69 Die Ebene, die als „falsche Bewusstseinsbildung“ im Proletariat angesprochen wurde, hängt mit dem Mangel in der Vermittlung der theoretischen Grundlagen des Sozialismus zusammen. Das heißt, dass die Not und das Unrecht, die das Proletariat an sich selbst erfährt, keinen Maßstab für die richtige Erkenntnis bildet: „Da das Proletariat nur als Gattungswesen bestand, so konnte zumeist der einzelne Proletarier als Individuum nicht daran denken, die richtige Position einzunehmen. Er suchte bei der ersten Gelegenheit seiner Klasse zu entfliehen.“ 70 Hiermit wird auf die anthropologische Seite innerhalb der marxistischen Theoriebildung verwiesen, die in Heideggers Philosophie explizit keine Rolle spielt. Schon in „Sein und Zeit“ fehlt im Hegel-Kapitel die Schärfe, um den Begriff der „Negation“ als Aufhebung der Zerrissenheit des Subjekts und Resultat seiner durch Arbeit bedingten Entäußerung aufzuhellen, 71 der in Hellwegs Marx-Interpretation als bekannt vorausgesetzt wird. Marx geht es darum, die freie Entwicklung individueller Fähigkeiten als das Bedürfnis des Menschen nach Selbstverwirklichung zu unterstreichen: die menschliche Tätigkeit ist als Selbstzweck zu verstehen. Diese bei Hellweg nicht näher ausgeführte Diskussion des subjektiven Faktors in Marx’ Philosophie wurde nach dem Erscheinen der „Philosophisch-ökonomischen Manuskripte“ von Herbert Marcuse untersucht. 72 Dem Ansatz von Marx spricht Marcuse das Verdienst zu, anthropologische Fragestellungen erst ermöglicht zu haben, indem Marx die Bedingungen für eine „freie Entfaltung des Daseins in seinen wahren Möglichkeiten“ 73 durch die Bestimmung des Gattungswesens Mensch herausgearbeitet habe. Die „falsche Bewusstseinsbildung“ des Proletariats jedoch resultiert nach Hellweg aus seinem Mangel an theoretischer Durchdringung und verweist auf die manipulative Anfälligkeit der Arbeiterklasse, sich durch Anreize der fetischisierten Warenwelt infizieren zu lassen. Obwohl Hellweg den Begriff Arbeiterklasse nicht benutzt, läuft seine Kritik darauf hinaus, dass von einer Nicht-Identität von Proletariat und Arbeiterklasse zu sprechen sei. Jedoch bleibt der Begriff Proletariat als marxistische Bezeichnung für die Arbeiterklasse aufrechterhalten, wonach das Proletariat ja keine Klasse dieser Gesellschaft ist. Dieses veraltete Verständnis trifft auf die spätkapitalistische Arbeiterklasse, besonders nach den Veränderungen von 1989 und 2001, nicht mehr zu, weil die alte Arbeiterklasse als Proletariat im hoch entwickelten Kapitalismus keineswegs die Mehrheit der Bevölkerung bildet. Hellweg lässt außer Acht, dass sich durch die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit der Arbeitsprozess in eine zunehmende Intellektualisierung verwandelt hat; durch diese Intellektualisierung der Arbeit hat sich die Anzahl der manuell Arbeitenden deutlich reduziert. Im weitesten Sinne sollte man von einer erweiterten Arbeiterklasse sprechen, wodurch sich die große Mehrheit der Bevölkerung in der fortgeschrittenen Industrie- und Computergesellschaft bestimmen lässt. 74 Weil Hellwegs Argumentation hier etwas unsicher wird (er bemerkt die Integration des Proletariats in den Kapitalismus, aber hat keine Begriffsbildung für diesen Prozess), gelangt in der abschließenden Interpretation nicht das Subjekt der Revolution als Kollektiv in den Blickpunkt, sondern der einzelne Mensch. Hellweg will keinen orthodoxen Absolutheitsvorschlag unterbreiten und sagt deshalb: „in Zukunft wird es darum gehen müssen […] eine sehr intensive Arbeit an der Herausbildung von Individualitäten zu leisten und darüber hinaus die Bildung von Eliten zu fördern, die einmal im Stande sein können, den ‘realen Humanismus’ in einer ‘realen Demokratie’ zu verwirklichen.“ 74 Der Vorschlag zur Elitebildung bezieht sich nicht auf die Herausbildung von Eliteuniversitäten, wie dies heute durch die unreflektierte Übernahme des amerikanischen Taylorismus-Modells geschieht, sondern Hellweg schwebt die Förderung der begabten Köpfe aus dem proletarischem Milieu vor. Nur dadurch sei eine geschichtliche Korrektur des Kapitalismus zu erhoffen, das heißt, dass er an unabhängige Individuen denkt, die in der Lage wären, die befreiende Kraft der Negation bewusst in den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft zu überführen. Das Moment des Dialogs zwischen allen Akteuren der Nachkriegsgesellschaft spielt dabei eine wesentliche Rolle, denn die Absicht besteht darin, „eine wirkliche, nicht nur taktische Begegnung zwischen den verschiedenen geistigen Positionen herbeizuführen.“ 75 Wie Hegel und Marx, betrachtet auch Hellweg in der Macht des Negierens das Lebenselement des menschlichen Geistes, in der sich die leitende Vernunft für das Handeln entwickelt. Die Analyse zur Bestimmung des Proletariats bei Marx ist philosophisch grundiert und verfolgt das Ziel, mit den Mitteln der Dialektik sowohl die gegebene Tatsache der Niederlage des Nationalsozialismus wie auch den sich neu konstituierenden Kapitalismus begreiflich zu machen. Die Marxsche Idee des Proletariats als Negation der kapitalistischen Gesellschaft hat durch den Verweis auf den subjektiven Faktor nicht ausgedient, aber aufgrund der kenntlich gemachten intellektuellen Schwäche seiner kollektiven Trägerschaft an Schlagkraft verloren. Versteht man den Begriff der „Heimatlosigkeit“ in einem sozial-ökonomischen Sinne, dann sind durch die internationale Fluktuation der Märkte viele Individuen zu Nomaden degradiert worden. Die Fluchtbewegungen aus Afrika und Asien entsprechen dem Fluss des Kapitals, das keine Grenzen kennt und bedingt die Freisetzung von Menschen, die täglich um das nackte Überleben kämpfen. Das Prinzip der Konkurrenz, die sich als Konkurrenz zwischen Stadt und Land und Nation und Nation manifestiert, entspricht der inneren Logik des Kapitals, das zur Maximierung der Profitrate drängt. 76 Regionale Produktionsstätten werden so immer häufiger dorthin ausgelagert, wo billigere Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Die Konsequenz, die Evo Morales durch die Aufhebung des Privateigentums als Verstaatlichung der Ölindustrie in Bolivien gezogen hat, ist ein Beitrag, der zeigt, dass dem Prozess der Verelendung regionaler Zonen auch Einhalt geboten werden kann. 77 Hellwegs eingangs formulierte Kritik an Heideggers Ontologie verwies auf die Frage der Anpassung des Denkens an gegebene Umstände, die sich zu einer 75 Frage auf Leben und Tod zuspitzte. Opportunismus als philosophische Denkhaltung lehnte Hellweg strickt ab und konzentriert seine Argumentation auf die Präformierung von selbständig denkenden Individuen, die sich nicht der Gefahr einer neuen Mobilmachung der Gesellschaft freiwillig unterwerfen. Dieser Gegenentwurf zur kapitalistischen Gesellschaft, der in vielerlei Hinsicht einige Grundgedanken von Herbert Marcuses Hauptwerk „Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ (1964) vorwegnimmt, klingt ganz zum Schluss mit Hellwegs Hinweis auf Alexander Bloks Gedicht „Die Zwölf“ (1918) ästhetisch aus. Er liebte dieses später von Paul Celan übersetzte Gedicht, in dem Jesus Christus eine Gruppe von revolutionären Soldaten anführt, die nach der Revolution in St. Peterburg durch den Dreck einer sich auflösenden Weltordnung hindurchgeführt werden. Hellweg hatte auf die Möglichkeit der Begegnung zwischen Christentum und Marxismus aufmerksam machen wollen und ein Passionsmotiv eingeführt, das den Erlösungswunsch vom Leiden an der Welt ausdrückt. Interessant ist nun, dass diese ästhetische Position mit dem Ausgang von Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ korrespondiert, wo die Liquidation der Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen geschildert wird. Weiss hatte während eines Besuches bei Hans Coppi Junior (i. e. der in Berlin-Plötzensee geborene Sohn des im Roman auftretenden Widerstandskämpfers) im Mai 1976 diverse Archivmaterialien erhalten, 78 die er durch erzähltechnische Griffe des Weiterdichtens in den Roman eingeflochten hatte. Entscheidend für Weiss ist, dass die Passion Christi selbst ein Beispiel für das Verständnis des Opfers im Widerstand darstellt, wodurch sich die Identifikation der lesenden Arbeiter ergibt, die Dante und andere christliche Künstler im Hinblick auf ihren eigenen Leidensprozess befragen. Schrittweise entwickelt sich ein säkular-passioniertes Gegenleiden, das in eine antifaschistische Lebenspraxis umschlägt und die zentrale Frage nach der politischen Qualität ästhetischer Erfahrungen im Handlungsrahmen des Romans positioniert. Das geschilderte Ende der Widerstandsgruppe, in der Hellweg und Krauss durch den Einbau der von Weiss benutzen Quellen mitbedacht sind, bedeutet jedoch nicht, dass die politische Konzeption des Sozialismus obsolet geworden ist, sondern vielmehr, dass dessen intellektuelle Bewusstseinsform noch nicht voll entwickelt war. Dieser Aspekt ist wesentlich für Hellwegs Kritik am Nachkriegsproletariat, das noch an den Kontaminationen des Nationalsozialismus zu leiden hatte. Bei Weiss wird zum Schluss des Romans mittels der von Willy Brandt im Stockholmer Exil 1945 vertretenen Position der Einheit der deutschen Arbeiterbewegung verdeutlicht, dass der politische Neuanfang unter Berücksichtigung von Marx’ „Kommunistischen Manifest“ (1848) und Rimbauds Dichtung zu konzipieren sei; zum Ausgang des Romans heißt es: „Und Heilmann würde Rimbaud zitieren, und Coppi das Manifest sprechen […].“ 79 Der Selbstbefreiungsprozess der Arbeiterklasse sei nur in einem geeinten Deutschland vorstellbar, wobei durch Rimbauds Dichtung der Blick von den Klassenkämpfen der Vergangenheit in die Zukunft gerichtet wird, wenn man Weiss’ utopische Perspektive so versteht, dass sie auf die 76 „Lettres du Voyant“ zurückverweisen, wo es programmatisch heißt: „Cet avenir sera matérialiste, vous le voyez […].“ 80 Diese Perspektive Rimbauds entspricht dem utopischen Ausklang, den Hellweg in seiner Schrift über das Proletariat mit dem zitierten Gedicht „Die Zwölf“ von Alexander Blok setzte, denn die von Jesus Christus angeführten revolutionären Soldaten schreiten „in eine unbekannte Ferne“. 81 Der eschatologische Gedanke, der hier anklingt, erinnert an das Ausbleiben der Parusie als Heilsversprechen. Versteht man die russische Revolution als säkularisierte Form des Heilsversprechens, dann wäre Rimbauds materialistische Zukunftserwartung als der Raum zu betrachten, der Bloks Dichtung als „unbekannte Ferne“ präfigurieren würde. Aber die russische Revolution von 1917 schlug bald in eine nur noch zum Schein aufrechterhaltene Fassade um, hinter der sich eine Konterrevolution zur Konsolidierung des Staatskapitalismus vorbereitete hatte. 82 Ein Intellektueller wie Walter Benjamin, der Moskau im Winter 1926/ 27 bereiste, hatte diesen Prozess selbst mit eigenen Augen beobachtet: In Gesprächen mit Reich habe ich ausgeführt, wie zwiespältig zur Zeit die Lage Russlands ist. Nach außen sucht die Regierung den Frieden, um Handelsverträge mit imperialistischen Staaten zu führen; vor allem aber sucht sie im Innern, den militanten Kommunismus zu suspendieren, sie strebt einen Klassenfrieden auf Zeit einzusetzen, das bürgerliche Leben zu entpolitisieren, soweit das nur möglich ist. Andererseits wird in ‘Pionierverbänden, im Komsomolz die Jugend ‘revolutionär’ erzogen. Das bedeutet, das Revolutionäre kommt ihr [der Jugend, M. V.] nicht als Erfahrung, sondern als Parole zu. Man macht den Versuch, die Dynamik des revolutionären Vorgangs im Staatsleben abzustellen - man ist, ob man will oder nicht, in die Restauration eingetreten, will aber dem ungeachtet revolutionäre Energie in der Jugend wie elektrische Kraft in einer Batterie aufspeichern. Das geht nicht.83 Solche Binnenansichten waren kein Einzelfall. Intellektuelle wie Benjamin, Krauss und Hellweg hatten sich gegenüber der drohenden Gefahr des Nationalsozialismus schon vor 1933 zur marxistischen Erkenntniskritik bekannt, weil sie aufgrund ihrer philosophischen Grundlage die einzige humanistische Alternative zur Rassenideologie der Nazis darstellte. Deshalb hatte Hellweg nach der Zerschlagung der deutschen Arbeiterbewegung und Stalinisierung Osteuropas genauso wie Lukács und Weiss darauf bestanden, dass die Frage des Sozialismus und einer humanen Gesellschaftsordnung nicht von der politischen Tagesordnung verschwinden darf. Die eingesetzten Mittel der Ästhetik spielen für diesen politischen Prozess eine sehr wichtige Rolle, über die weiter gestritten werden darf. VI. Hellwegs zweite Tarnkappe und das späte Wiedersehen mit Krauss Martin Hellweg hatte sich nach der Veröffentlichung seiner Proletariatsschrift nie wieder zu theoretischen Fragen des Sozialismus öffentlich zu Wort gemeldet. Er fürchtete von den gleichen politischen Kräften nach 1945 an den Pranger gestellt zu werden, die 1938 dafür sorgten, dass ihm die existentielle Grundlage zum Le- 77 ben entrissen wurde. Seine Angstgefühle waren so stark ausgeprägt, dass er aufgrund dieser Besorgnis einer Partei beitrat, in deren Wiederaufbauprogrammatik seine eigenen Vorstellungen wohl am ehesten ausgedrückt erschienen; gleich zu Beginn des Programms heißt es: Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen des deutschen Volkes sein.84 Mit diesen Worten beginnt nicht etwa der Grundsatzentwurf zur Vergesellschaftung des Privateigentums an Produktionsmitteln der westdeutschen KPD, sondern das „Ahlener Wirtschaftsprogramm für Nordrhein-Westfalen“, das die CDU im Februar 1947 vorgelegt hatte. Für Hellweg stellte diese Programmatik den äußersten Kompromiss dar, um sich im Nachkriegsdeutschland, der beginnenden Ost-West-Konfrontation sowie der ideellen und politischen Spaltung Deutschlands - gedeckt durch die Fassade der Christlich-demokratischen Union - der Sicherung seiner Existenz zuzuwenden. Auf diese Weise brauchte er sich nicht dem Verdacht einer erneuten politischen Verfolgung als Staatsbeamter im Schuldienst ausgesetzt fühlen. Während unserer Gespräche hatte ich Hellweg auf diese Entscheidung angesprochen und er gab mir zur Antwort: „Sie verstehen schon, dass erst nach meinem Tod darüber gesprochen werden sollte.“ 85 Der Parteieintritt in die CDU ist jedoch nicht als Kotau vor der sich neu formierenden politischen Machtkonstellation zu verstehen, sondern belegt, dass man psychische Kohärenz und innere Freiheit und Würde bei Nichtpreisgabe der Persönlichkeit bewahren kann. Bedingt durch diese Überlebensmaßnahme, die sich an dem von Baltasar Gracián in seinem „Handorakel“ (1647) entwickelten Maximen einer erhabenen Morallehre zur inneren Lebensbewältigung orientiert, war es Hellweg, wenn auch sehr spät, wenigstens noch vergönnt an die frühere, durch die Zeitumstände bedingte Unterbrechung seiner Universitätskarriere wiederanzuknüpfen: von 1970 bis 1976 lehrte er Methodik und Didaktik für den neusprachlichen Unterricht und anglo-amerikanische Literatur im Fachbereich Amerikanistik der Universität Freiburg, wo er seinem alten Freund Werner Krauss im Rahmen eines Vortrages wieder begegnen sollte. Dieses späte Zusammentreffen, das sich im Herbst 1975 ereignete, kam auf Einladung von Erich Köhler zustande, der seinen Lehrer Krauss für einen Beitrag der gerade gegründeten „Romanistischen Zeitschrift für Literaturgeschichte“ gewinnen wollte. Köhlers Absicht bestand darin, das schon 1950 dargelegte Konzept des literaturgeschichtlichen Auftrags 86 gegenüber dem sich an westdeutschen Universitäten ausbreitenden Strukturalismus zu reaktivieren. Henning Krauß, der Mitbegründer dieser neuen Zeitschrift wurde, sagte zu Krauss, dass man seinem literaturkritischen Ansatz „in der Bundesrepublik eine Heimstatt“ 87 schaffen wolle. Der alte Krauss, der eigens von seinem Ruhesitz in Berlin-Hessenwinkel nach Freiburg 78 anreiste, sprach zum Thema „Die Anthropologie in der französischen Aufklärung“ - zu einem noch nicht etablierten Forschungsgegenstand, der Martin Hellweg aufgrund vormaterialistischer Prämissen interessierte. In umfänglich ausgearbeiteter Form erschienen Krauss’ Vortragsgedanken in dem posthum veröffentlichten Spätwerk „Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts“, 88 wo er die sozialen Bedingungen untersucht, die zur Herausbildung der französischen Aufklärungsliteratur geführt hatten. Hellweg dürfte sich beim Zuhören von Krauss’ Vortrag an seinen zur Klärung von Rousseaus Denken herangezogenen Aphorismus erinnert haben: „Wenn Rousseau die Kultur angreift, so will er damit die Gesellschaft treffen.“ 89 Zu Martin Hellwegs Memorabilie „Erinnerungen an Werker Krauss“ (2000), die im Anhang zum Abdruck gelangt, ist noch anzumerken: die berichtete Anekdote, dass Krauss im Frack seines Vaters zur Antrittsvorlesung erschien, mag aus dem psychologisch nachvollziehbaren Antrieb resultieren, sich selbst in die durch den Vater vorgegebene Familientradition einzuordnen. Rudolf Krauss (1861-1945), seines Zeichens Geheimer Archivrat und Gymnasiallehrer in Stuttgart, war als Verfasser einer Mörike-Monographie, eines Schauspielführers, einer schwäbischen Literaturgeschichte und Herausgeber von Mörike- und Hauff-Ausgaben hervorgetreten. Das Thema der Antrittsvorlesung lautete übrigens „Deutschland als Thema der französischen Literatur“ 90 und wurde von Werner Krauss am 29. Februar 1932 gehalten. 91 Hellweg hatte in seinem Begleitbrief zur Memorabilie durch die Formel „tempi passati“ auf die Bilder vom vergangenen Fluss der Zeit hingewiesen, die ihm wiederauferstanden waren und „auch schmerzliches“ bei der Niederschrift ausgelöst hatten. Diese Schmerzen, die sich auf das erlittene Unrecht zur Zeit des Nationalsozialismus beziehen, sollten durch diesen Nekrolog in Erinnerung gerufen und wach gehalten werden. Dass sich Hellweg der Mühe des Schreibens aussetzte, spricht für das feste, nie zerrissene Band der Freundschaft, das sich zwischen ihm und Werner Krauss entwickelte. Bis zuletzt hatte diese Freundschaft eine große Rolle im Leben Hellwegs gespielt; sie drückt sich auch darin aus, dass sein Freund die Patenschaft von Hellwegs Sohn Thomas übernahm. Dass Hellwegs „Erinnerungen an Werner Krauss“ sein letzter zu veröffentlichender Text sein sollte, ist in erster Linie Michael Nerlich und Wolfgang Asholt zu verdanken, die sich beide von dem historischen Charakter des Dokuments angetan zeigten. Ich danke ihnen beiden, dass dieser Aufsatz und Hellwegs Text als Ergänzung zu dem in dieser Zeitschrift veröffentlichten Werner Krauss-Dossier erscheinen können. 92 VII. Zusammenfassung Junge Romanistinnen und Romanisten, aber auch Geistes- und Sozialwissenschaftler, die Zweifel oder Unmut an einer fachübergreifenden Geschichtsschreibung hegen, mag vielleicht durch diese Darstellung bewusst geworden sein, dass Philologie als Bereich allgemeiner Kulturforschung gerade erst beginnt, sich durch die Wiederentdeckung und Edition von entlegenen Texten und Briefen als solche 79 zu entfalten. Man kann noch viele nicht bearbeitete Gegenstände und archivarische Quellen entdecken, die darauf warten, ihre zu revitalisierenden Inhalte auf soziale und kulturelle Bedeutungskomplexe zu beziehen. Eine so verstandene historisch-philologisch orientierte Kulturwissenschaft als zugleich philosophisch grundierte Grundlagenwissenschaft kann in die Lücken zwischen den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen eindringen und eine vermittelnde Funktion übernehmen. In diesem Sinne drückt Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft die Wissenschaft vom menschlichen Sein und den alltäglichen Entäußerungsformen des Lebens aus, die ohne Emphase und Suggestion nicht vorstellbar ist. An der Seite von Erich Auerbach, Karl Löwith und Werner Krauss, die, neben Ernst Cassirer, 93 als Begründer der neueren Kulturforschung gelten, stand Martin Hellweg. Alle genannten Forscher berühren sich dadurch, dass ihrem Leben durch die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht heilbare Wunden zugefügt wurden, die als verarbeitete Geschichtserfahrung in ihren Werken sichtbar geworden sind. Das Festhalten am substantiellen Erbe der antiken, christlichen und modernen Tradition bewahrte sie vor dem Absturz in die Geschwätzigkeit und trug dazu bei, die eigene Zeit zu verstehen und sich selbst darin zu erkennen. Der Prozess des Tradierens stellt also keine starre Angelegenheit dar, sondern ist einer ständigen Modifikation unterworfen. Heute jedoch ist diese Bildungstradition als Kulturüberlieferung vom Ausverkauf bedroht, wodurch die Einlösung der in ihr verborgenen Hoffnungen erschwert wird. Durch Martin Hellwegs Tod haben wir den letzten Marburger Zeugen einer der fruchtbarsten deutsch-jüdischen Wissenschaftssymbiosen verloren, die zum Ende der Weimarer Republik bestanden hatte. Er war durch die freundschaftliche Beziehung zu seinem Doktorvater Erich Auerbach an der Emanzipation deutscher Staatsbürger jüdischer Konfession beteiligt, als sie als Produkt einer nicht zu Ende geführten Säkularisierung zum Holocaust führte. Von diesem Zivilisationsbruch und der damit verbundenen Vertreibung deutsch-jüdischer Wissenschaftler hat sich die deutsche Geisteswissenschaft bis heute nicht erholt. Hellweg war ein Intellektueller, der gegen diesen Zivilisationsbruch durch seine Kritik an Martin Heideggers Fundamentalontologie opponierte und existentiell doppelt abgestraft wurde: als Gegner des Nationalsozialismus verlor er seine Assistentenstelle 1938 und wurde nach 1945 nicht auf einen ihm eigentlich zustehenden Lehrstuhl berufen. Die Heidegger-Diskussion belegt, dass trotz des Gebrauchs existentialistischer Kategorien vereinzelt Elemente einer Gesellschaftskritik aufblitzen, die darauf hindeuten, dass Heidegger vor 1933 und nach 1945 Marx’ Schriften bekannt waren. Der auf den Briefwechsel mit Marcuse bezogene Exkurs und seine Rückführung auf Heideggers Rektoratsrede sowie die Vorlesungen zur „Einführung in die Metaphysik“ verdeutlichten, dass Heidegger eine formale und deshalb enthistorisierende Deutung des Logos als philosophische Grundkategorie praktizierte. Hierin besteht ein Widerspruch seines Denkens, denn er erkennt den Logos als Gesammeltheit des Seins an, welches formal auf die sprachlich sich entäußernde Bewusstseinsstruktur einwirkt und diese mitbildet. Hellwegs Kritik brachte die damit 80 verbundenen Auslassungen und Entstellungen im Kontext von Hegels, Marx’ und Löwiths gegensätzlichen Grundauffassungen zum Ausdruck. Aufgrund der Korrespondenz mit Auerbach und Krauss wird deutlich, dass Hellweg Zeit seines Lebens an der von ihnen vermittelten Ideenwelt festgehalten hatte. Nicht alle Widersprüche in seinem Leben wie der Parteieintritt in die SA und CDU lassen sich auflösen. Hellweg war, trotz der Brüche der Zeit, die durch ihn hindurch gegangen sind, kein gebrochener Mensch. Im Gegenteil: Martin Hellweg war ein progressiver Traditionalist, der in seiner Rousseau- und Marxschrift darlegte, dass er von der Möglichkeit und Kraft der Veränderung des Menschen - seiner Fähigkeit zur Entwicklung eines moralischen Charakters - überzeugt blieb. Wie sein Lehrer Auerbach sah auch Hellweg in Hegels Philosophie eine Kraft zur Vernunft verkörpert, die „ihre Lust […] in der Hervorbringung des Wohls der Menschheit sucht.“ 94 1 Zur intellektuellen Konstellation zwischen Heidegger und Marcuse, vgl. John Abromeit: Herbert Marcuses Auseinandersetzung mit der Philosophie Martin Heideggers (1927- 1933), in: Peter-Erwin Jansen (ed.): Zwischen Hoffung und Notwendigkeit. Texte zu Herbert Marcuse, Frankfurt/ Main: Verlag Neue Kritik 1999, 151-168 und Richard Wolin: The Frankfurt School revisited and other Essays on Politics and Society, New York, London: Routledge 2006, 61-81. 2 Seyla Benhabib: Marcuse und Heidegger. Die Vorgänge um Marcuses Habilitation. Der Briefwechsel [1947-48], in: Tüte. Zur Aktualität von Herbert Marcuse. Politik und Ästhetik am Ende der Industriegesellschaft, Tübingen: Tübinger Termine Verlags GmbH 1989, 71- 73, hier: 71 f. Der Briefwechsel ist auch ins Englische übersetzt worden, vgl. Heidegger and Marcuse: A Dialogue in Letters [1947-48], in: Douglas Kellner (ed.): Herbert Marcuse: Technology, War and Fascism. Collected Papers of Herbert Marcuse. Volume One, London, New York: Routledge 1 1998, 263-267. 3 Ebd., 72. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München: Carl Hanser Verlag 1994, 484. Erstaunlicherweise sagt Safranski, dass sich Heidegger genauso wenig wie Adorno nicht verweigert habe, „’Auschwitz zu denken’.“ Diese Parallelisierung trifft nicht zu, hatte doch Heidegger zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen des Nationalsozialismus keine nennenswerte Analyse beigebracht. 10 Paul Hühnerfeld: In Sachen Heidegger. Versuch über ein deutsches Genie, München: Paul List Verlag 1961, 11. 11 Ebd., 102. 12 Ebd., 112. 13 Ebd., 96 ff und 121. 14 Vgl. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik [1935], Tübingen: Max Niemeyer Verlag 4 1976, 8. Der gesamte NS-Kontext wird noch einmal aufgerollt im Interview, das Rudolf Augstein am 23. September 1966 führte (es durfte erst nach Heideggers Tod ver- 81 öffentlicht werden), vgl. Spiegelgespräch mit Martin Heidegger [„Nur noch ein Gott kann uns retten“, in: Der Spiegel, 30. Jg., Nr. 23, 31. Mai 1976], zitiert nach: Günther Neske/ Emil Kettering (eds.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Tübingen: Verlag Günther Neske 1998, 81-114. Heideggers Argumentation verläuft ähnlich wie im Briefwechsel mit Marcuse; der Unterschied besteht darin, dass die Frage nach dem Wesen vom Gestell-Charakter in den Vordergrund tritt. Bezweifelt wird, dass das System der Demokratie politische Sicherheit zum Missbrauch der Technik bereitstellen könne. 15 Heidegger: Einführung in die Metaphysik, 16. 16 Ebd., 28. 17 Ebd. 18 Ebd., 29. 19 Ebd., 34. Vgl. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert [1889], in: Ders.: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, 55-161, hier: 140 ff (§ 39). 20 Heidegger: Einführung in die Metaphysik (Anm. 14), 34. 21 Ebd., 35. 22 Ebd., 35 f. 23 Vgl. Karl Marx: Philosophisch-ökonomische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Werke (Anm. 14, Teil 1), Bd. 40, 465-588, hier: 574: „Er [Hegel, M. V.] sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. […] Die Arbeit, die Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistig (Hervorhebung im Original, M. V.).“ 24 Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 15, Teil 1), 362 f. 25 Vgl. Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms [1875], in: Werke (Anm. 14, Teil 1), Bd. 19, 11-32, hier: 21. 26 Vgl. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Werke (Anm. 14, Teil 1), Bd. 40, 465-588, hier: 539. 27 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1795], in: Ders.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser Verlag 7 1984, 570-669, hier: 583. 28 Ebd. 29 Ebd., 584. Vgl. ferner Ulrich von Bülow (ed.): Martin Heidegger: Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Wintersemester 1936/ 37. Seminar-Mitschrift von Wilhelm Hallwachs. Mit einem Essay von Odo Marquard, Stuttgart: Deutsche Schillergesellschaft Marbach am Neckar 2005. Dass ästhetische Erziehung den Weg durch das Politische zu beschreiten habe, wird nicht als zentrale Problemstellung Schillers wahrgenommen. Heidegger unterstellt Schiller die „Missdeutung des Absoluten“ (123) und sagt, dass die Briefe den „Gegenschlag gegen die französische Revolution“ (130) darstellen und Schillers „Vernunftideal“ dem „Nihilismus“ (131) entspreche - bedenkliche Deutungen, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann. 30 Vgl. Friedrich Engels: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen [1876], in: Werke (Anm. 14, Teil 1), Bd. 20, 440-455. 31 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen und Entwürfe, in: Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944/ 47]. Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, Bd. 3, 235-296, hier: 267. 82 32 Im Neuen Testament (Mt. 10, 34; Mt. 26, 52 und Lk. 22, 24-30) figuriert die Schwertmetapher als Sinnbild der Verfolgung das Martyrium Christi. 33 Horkheimer/ Adorno: Dialektik der Aufklärung (Anm. 31), 267. 34 Heidegger: Einführung in die Metaphysik (Anm. 14), 152. 35 Heidegger: Einführung in die Metaphysik (Anm. 14), 36 ff (Hervorhebung im Original). Zum Nachweis des Selbstzitates, vgl. Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität [1933], in: Ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Bd. 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Herausgegeben von Hermann Heidegger, Frankfurt/ Main: Vittorio Klostermann 2000, 107-112, hier: 112. 36 Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Weltgeist zwischen Jena und Berlin. Briefe. Herausgegeben und ausgewählt von Hartmut Zinser, Frankfurt/ M., Berlin, Wien: Ullstein Verlag 1982, 58 (Hegel an Niethammer: 13. Oktober 1806). 37 Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 15, Teil 1), 40. 38 Ebd., 34. 39 Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität (Anm. 35), 113. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd., 114 (kursiv im Original). 43 Heidegger: Einführung in die Metaphysik (Anm. 14), 81 f. 44 Heraklit: Aus Apollodors ‘Chronik’ [ca. 480 v. Chr.], in: Die Vorsokratiker I. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungen von Jaap Mansfeld (Griechisch/ Deutsch), Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1999, 244-283, hier: 245 (Fragment 2). 45 Heidegger: Einführung in die Metaphysik (Anm. 14), 98. 46 Ebd., 101 f. 47 Heraklit: Aus Apollodors Chronik (Anm. 44), 247 (Fragment 7). 48 Ebd., 275 (Fragment 105). 49 Ebd., 255 (Fragment 33). 50 Vgl. George Thomson: Die ersten Philosophen [The First Philosophers, 1955]. Ins Deutsche Übertragen von Hans-Georg Heidenreich und Erich Sommerfeld, Westberlin: Verlag das europäische Buch 1968, 227-241. 51 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Mächte. Nachlaß. Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften [1913]. Herausgegeben von Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit Petra Schlimm unter Mitwirkung von Jutta Niemeier, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2005, hier: 47-81. 52 Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen [1884], in: Werke (Anm. 14, Teil 1), Bd. 21, 25-173, hier: 170. Im Kontext der Erörterung der demokratischen Revolution des Kleisthenis (116) kommt Engels zu folgendem Ergebnis: „Nicht die Demokratie hat Athen zugrundegerichtet, sondern die Sklaverei, die die Arbeit des freien Bürgers ächtete.“ Zum gleichen Resultat gelangt Michael Rostovtzeff: Geschichte der Alten Welt [A History of the Ancient World, 1927]. Deutsch von Hans Heinrich Schaeder, Erster Band. Der Orient und Griechenland, Wiesbaden: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1941, 197-214. 53 Alfred Sohn-Rethel: Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus. Eine materialistische Untersuchung [1937], in: Ders.: Warenform und Denkform. Aufsätze, Frankfurt/ Main: Europäische Verlagsanstalt 1971, 27-85, hier: 38. 54 Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik (Anm. 14), 93 und 102. 55 Vgl. Weber: Religiöse Gemeinschaften (Anm. 51), 59 f. 56 Heidegger: Einführung in die Metaphysik (Anm. 14), 103. 83 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Zitiert nach: Frank-Rutger Hausmann: Martin Heidegger, Hugo Friedrich und Stéphane Mallarmé, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, Jg. 30, Heft 3-4, 2006, 377-394, hier: 378 f. 61 Heraklit: Aus Apollodors Chronik (Anm. 44), 263 (Fragment 63). 62 Vgl. Thomson: Die ersten Philosophen (Anm. 50), 233 ff. 63 Marcuse und Heidegger: Der Briefwechsel (Anm. 2), 73 (Heidegger an Marcuse: 20. Januar 1948). 64 Ebd. 65 Rückblickend erscheint Heideggers Argument als Stichwort für den Historikerstreit und die Tendenz zur Revision der NS-Verbrechen und ihrer Geschichtsschreibung. 66 Martin Heidegger: Das Ge-Stell [1949], in: Ders.: Bremer und Freiburger Vorträge. Gesamtausgabe, Bd. 79. Herausgegeben von Petra Jäger [1994], Frankfurt/ Main: Vittorio Klostermann Verlag 2 2005, 24-45, hier: 27. 67 Das Insektizid DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) ist seit den 70er Jahren verboten. 68 Vgl. Horkheimer/ Adorno: Dialektik der Aufklärung (Anm. 31.), 12. 69 Hellweg berichtete mir, dass er sich mit Gadamer gelegentlich brieflich austauschte. 70 Hellweg: Proletariat (Anm. 56, Teil 1), 28. 71 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 17, Teil 1), 428-436 (§ 82). Hier geht es vielmehr um die Bestimmung der Zeit, in der die „Selbstoffenbarung“ des Geistes sich konstituiere. Die theologische Implikation deutet auf die Paulus-Briefe hin und wurde durch Gespräche mit Rudolf Bultmann angeregt. 72 Vgl. Herbert Marcuse: Über die philosophischen Grundlangen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs [1933], in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft 2, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1 1965, 7-48. 73 Ebd., 39. 74 Hellweg: Proletariat (Anm. 56, Teil 1), 29. 75 Ebd., 31. 76 Vgl. Karl Marx/ Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie (Anm. 14, Teil 1), Bd. 3, 50-61. 77 Vgl. zur aktuellen Debatte die Marburger Abschiedsvorlesung von Frank Deppe: Krise und Erneuerung marxistischer Theorie. Anmerkungen eines Politikwissenschaftlers. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/ 2007, hier: 18-24. 78 Vgl. Peter Weiss: Notizbücher 1971-1980, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1981, Bd. 2, 499. 79 Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands [1975/ 81], Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1988, Bd. 3, 267. 80 Arthur Rimbaud: Lettres du voyant [1871]. Übersetzt und herausgegeben von Werner von Koppenfels, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1990, 8-45, hier: 32. 81 Hellweg: Proletariat (Anm. 56, Teil 1, 31. 82 Vgl. Georg Lukács: Brief über den Stalinismus [1962], in: Ders.: Autobiographische Texte und Briefe. Herausgegeben von Frank Benseler und Werner Jung unter Mitarbeit von Dieter Redlich (Georg Lukács: Werke, Bd. 18), Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005, 449-465. Lukács hatte hier seine Ideologiekritik am Stalinismus formuliert, dessen repressive Formen er seit den Blum-Thesen (1928) bekämpfte. Er postuliert, dass sich nur durch eine „Deorganisierung der Bourgeoisie“ beständige Formen der Demokratie entwickeln könnten. Vgl. Georg Lukács: Thesen über die politische und wirtschaftliche Lage in Ungarn 84 und über die Aufgaben der Kommunistischen Partei Ungarns [Blum-Thesen, 1928], in: Ders.: Schriften zur Ideologie und Politik. Ausgewählt und eingeleitet von Peter Ludz, Neuwied, Berlin: Hermann Luchterhand Verlag 1967, 290-322, hier: 308 f. 83 Walter Benjamin: Moskauer Tagebuch [1926/ 27], in: Ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 2 1986, Bd. VI., 292-409, hier: 338. 84 Ossip K. Flechtheim (ed.): Dokumente zur politischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Bd. 2: Programmatik der deutschen Parteien (Erster Teil), Berlin: Dokumente-Verlag Herbert Wendler 1963, 53. 85 Dies waren seine Worte während meines letzten Besuches in Köln Ende Februar 2002. 86 Vgl. Werner Krauss: Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag [1950], in: Ders.: Literaturtheorie, Philosophie und Politik. Herausgegeben von Manfred Naumann, Berlin, Weimar: Aufbau Verlag 2 1987, 7-61 (Das wissenschaftliche Werk 1). 87 Krauss: Briefe (Anm. 52, Teil 1, 936 (Krauß an Krauss vom 6. September 1975). 88 Werner Krauss: Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts [1976], in: Das Wissenschaftliche Werk 6, 61-247. Vgl. dazu Werner Röhr: Werner Krauss und die Anthropologie, in: Ottmar Ette/ Martin Fontius/ Gerda Hassler/ Peter Jehle (eds.): Werner Krauss. Wege - Werke - Wirkungen, Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz 1999, 191-216. 89 Hellweg: Gewissen (Anm. 11, Teil 1), 31. 90 Werner Krauss: Deutschland als Thema der französischen Aufklärung [1933], in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Frankfurt/ Main: Vittorio Klostermann Verlag 1949, 430-450. 91 Hellweg hatte in seinen „Erinnerungen“ irrtümlich dieses Thema mit der von Auerbach betreuten Habilitationsschrift Werner Krauss: Über die ästhetischen Grundlagen des spanischen Schäferromans (Marburg, 1932, Maschr., 185 Blätter, Staatsarchiv Marburg) verwechselt; die Antrittsvorlesung fand nicht 1931, sondern 1932 statt. Die biographischen Daten der im Text genannten Personen sind folgende: Franco Lombardi (1906- 1989), italienischer Philosoph und Lektor in Marburg von 1933-1942, heiratete die Marburger Gymnastiklehrerin Elisabeth Braun, war seit 1943 Professor in Rom und hatte sich dem italienischen Widerstand gegen den Faschismus angeschlossen. Gonzales Vicen (1908-1991), spanischer Philosoph und Rechtshistoriker, Schüler von Ortega y Gasset, mit Krauss und Hellweg befreundet; hatte in den dreißiger und vierziger Jahren Vorträge in Marburg und Berlin gehalten; war später Professor der Universität de la Laguna (auf Teneriffa) und Übersetzer von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“. 92 Vgl. In Memoriam. Zum 30. Todestag von Werner Krauss, in: Lendemains, 31. Jg., Heft 124, 2006, 109-131. 93 Vgl. Herbert Kopp-Oberstebrink: Humanistische Begründung der Geschichte. Ernst Cassirers Konzeption von Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung während der Exilzeit, in: Gerald Hartung/ Kay Schiller (eds.): Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration, Bielefeld: Transcript Verlag 2006, 53-70. 94 Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 15, Teil 1). 276 (Hervorhebung im Original). Ich danke dem Philosophen Jan Müller (Universität Stuttgart) für kritische Anregungen. Erratum Im Teil 1 dieses Aufsatzes muss die Seitenangabe zu Fußnote 12 (Karl Löwiths Text über Karl Marx und Max Weber) richtig heißen: 324-407.