eJournals lendemains 33/129

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Narr Verlag Tübingen
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2008
33129

M. Gröne/F. Reiser: Franz. Literaturwissenschaft. Eine Einführung

2008
Thomas Amos
ldm331290156
156 chen durchzogener Prozeß, der notwendige Vereinseitigungen hervorgebracht hat, die die Kritik dialektisch zu entfalten hätte. Das aber setzt eine andere Perspektive voraus als die Suche nach Schuldigen Eine solche zu entwickeln habe ich in der Prosa der Moderne (Frankfurt: Suhrkamp 1988) versucht. Vergleichbares wäre über die Darstellung der Literaturkritik bei William Marx zu sagen. Der Formalismus ist nicht nur eine Verengung des Blicks auf den literarischen Gegenstand, ihm verdanken wir vielmehr durchaus wertvolle Einsichten in das Funktionieren literarischer Texte, Einsichten, die dann freilich dogmatisch vereinseitigt worden sind. Lassen Sie mich diesen Ausführungen - ach, wie hölzern ist doch unsere Sprache! - noch etwas hinzufügen. Wenn ich das Buch von Marx trotz allem lesenswert finde, so deshalb weil man hinter seiner oftmals polemischen Darstellung eine tiefe Beunruhigung über den Zustand unserer Kultur, soweit sie literarische Kultur ist, zu spüren meint. Vielleicht könnte das Buch Anstoß zu einer Debatte werden, die wir dringend brauchen. Peter Bürger (Bremen) MAXIMILIAN GRÖNE UND FRANK REISER: FRANZÖSISCHE LITERATURWIS- SENSCHAFT. EINE EINFÜHRUNG. TÜBINGEN: GUNTER NARR VERLAG, 2007, 264 S. Den soeben anlaufenden, europaweit standardisierten Bachelor- und Master-Abschlüssen fällt beim derzeitigen Umbau der deutschen Universität eine tragende Rolle zu. Diese auf möglichst raschen Berufseinstieg ausgerichteten Studiengänge mit reduzierter Semesterzahl stehen unter dem Primat der Effizienz, was sich äußert in weitgehender Komprimierung des (nach utilitaristischer Relevanz ausgewählten) Stoffes, hoher Praxisorientierung und strikter Didaktisierung der Lehrveranstaltungen. Das solcherart formal und inhaltlich von Grund auf umgestaltete Studium flankierend, entsteht eine ebenfalls neuartige Einführungs- und Studienliteratur, die der zu besprechende Band aus der Reihe bachelor-Wissen exemplarisch vertritt. 1 Sein augenfälligstes Kennzeichen ist die eng Schulbüchern angelehnte Aufmachung mit einem durch Tabellen, Abbildungen, Marginalien und farbige Unterlegung aufgelockerten Layout; hinzukommen, sehr zeitgemäß, Kontrollaufgaben, deren Lösungen sich auf einer Internetseite abrufen lassen. Da es, wie die Verf. im Vorwort bemerken, im BA-Studiengang weniger um die „Kenntnis von Wissensständen“ (1) als um „die Fähigkeit, das Erlernte selbständig anzuwenden“ (1) geht, heißen die vier Abschnitte dieser Einführung „Kompetenzen“, die sich ihrerseits in kleinere „Einheiten“ untergliedern. Mit insgesamt vierzehn solcher Einheiten ent- 157 spricht, worauf die Verf. explizit hinweisen (vgl. 2), der Band den Sitzungen einer Einführungsveranstaltung und regt die mehr oder minder modifizierte Übernahme durch den Dozenten geradezu an, so daß sich, auch dies ein bemerkenswertes Novum, der Studieneinstieg, eminent wichtig als erste, prägende Begegnung mit der Frankoromanistik, und das dazugehörige Lehrbuch wechselseitig beeinflussen. Die Anlage des Bandes entwickelt sich graduell und läuft auf zwei sich gegenüberstehende Blöcke, Textanalyse und Methodenübersicht, zu. „Kompetenz 1: Literaturwissenschaftlich denken und arbeiten“ (3-58) macht in zwei Einheiten zuerst mit dem Literaturbegriff und seiner medialen Erweiterung (3-20) vertraut und erläutert unter dem Stichwort „Ordnungsmodelle“ (21-40) zentrale Poetiken von der Antike bis zur französischen Klassik sowie Gattungs- und Epochenproblematik und die Funktion von Literaturgeschichten, Literaturkritik und Kanon. Die dritte Einheit „Literaturwissenschaftliches Arbeiten“ (41-58) bietet außer der Charakteristik der BA- und MA-Studiengänge einen Abschnitt zu Berufsfeldern für Absolventen und eine komprimierte Einführung in wissenschaftliches Arbeiten (Wissenschaftsbegriff, Literaturbeschaffung, Abfassen von Hausarbeiten u. a.). Zentraler (und wohl am meisten nachgefragter, da überaus prüfungsrelevanter) Teil ist „Kompetenz 2: Literarische Texte analysieren“ (59-164), der zunächst die gattungsspezifischen Merkmale von Lyrik, Drama und Epik ausführlich darlegt, bevor eine Ko-Einheit die eigentliche Analyse an einem Textbeispiel übt. Als Verfahren dient die am hermeneutischen Zirkel und gleichermaßen, was keinen Widerspruch zu enthalten scheint, Strukturalismus ausgerichtete sogenannte Strukturanalyse, die textimmanent wie interpretatorisch nicht festgelegt operieren und die Basis der eigentlichen Interpretation ergeben soll (vgl. 60-63). Ein Schema erstellt hierzu in neun Schritten den Ablauf von der ersten Lektüre über die Arbeitshypothese bis zu deren Verifizierung bzw. Falsifizierung (vgl. 70f.). Die angekündigte, streng textimmanente Betrachtungsweise können freilich die Verf. selbst nicht aufrechterhalten: Bereits das erste Exempel der Einheit „Lyrik analysieren“, ein Sonett der Louise Labé, erwähnt den Petrarkismus (vgl. 78); anderenorts wird für einen mikroanalytisch untersuchten Textauszug der Inhalt des Père Goriot resümiert (vgl. 150). Letztlich handelt es sich bei dieser mit nicht geringem Aufwand ausgebreiteten Vorgehensweise um ein der an französischen Schulen üblichen explication de texte ähnliches, grundsätzlich methodensynthetisches Procedere, das, gängige Seminarpraxis seit jeher, unter grob-strukturalistischer Prämisse Stilistik, Rhetorik und gegebenenfalls Metrik, inter- und intratextuelle Bezüge und literahistorische Kontextualisierung einbegreift. Das bedauerliche Manko des Bandes ist, selbst wenn man einräumt, daß die wenigsten Teilnehmer der neuen Studiengänge über eine Strukturanalyse hinausgelangen und sich etwa an einer dekonstruktivistischen Lektüre des Etranger versuchen werden, der nicht vollzogene Schritt von der Analyse zur (Muster-)Interpretation, also die Applikation des methodischen Ansatzes auf Texte, was, so der heterodoxe Vorschlag des Rezensenten, der Eingängigkeit wegen in karikaturistischer Überzeichnung hätte geschehen können. Demnach erfüllt das Kapitel „Kompetenz 3: Literarische Texte methodenorientiert interpretieren“ (165-220) trotz dem 158 umfassenden Überblick allenfalls eine passives Wissen vermittelnde Komplementärfunktion. „Kompetenz 4: Texte in anderen Medien analysieren“ (221-260) negiert zwei für Frankreich so bedeutende Medien, Bande dessinée und Chanson, und stellt statt dessen, auf die Arbeitsmöglichkeiten der Absolventen bezogen, Presse (228-232), Hörfunk (232-235) und Internet (235ff.) breit heraus; die letzte Einheit des Bandes widmet sich Film (240-255) und Fernsehen (255-259). Zwei kritische Anmerkungen berühren, beträchtlich über die vorliegende Einführung hinausreichend, grundsätzliche Positionen der (Franko-)Romanistik bzw. des Studiums. Erstens ist der mittelbar propagierte Kanon diskutierenswert. Das von den Verf. aufgestellte Textkorpus verzichtet auf den hier ohnehin nicht zu leistenden kompletten literaturhistorischen Überblick von der Renaissance bis zur Gegenwart und weist gleichfalls die an manchen Universitäten bereits praktizierte und im Rahmen des BA-Studiums durchaus legitime Beschränkung auf das 19. und 20. Jahrhundert zurück. Allerdings bleibt die Auswahl der Texte nicht immer nachvollziehbar: Im Gegensatz zu einem empirischen oder intertextuell wirkenden Kanonverständnis gilt den Verf. als unpräzis-subjektives Kriterium „eine wie auch immer geartete Aussagekraft - und sei es nur im Sinne der literaturgeschichtlichen Tradition“ (39). Im Analyse-Teil divergieren die angeführten Gedichte - zwei Renaissance-Sonette (Labé, Ronsard), ein kaum aussagefähiges Gedicht Hugos, Soleils couchants aus den Feuilles d’automne, und Rimbauds Voyelles - in literarischem Rang (und Schwierigkeitsgrad) erheblich, während das behandelte Drama (Racines Phèdre; zuvor Molière und Corneille, weiter Beaumarchais und Marivaux sowie, als kurzer Exkurs in das Postbellum, Camus’ Les justes ) und die narrativen Texte (Le Père Goriot und Madame Bovary) sämtlich der Höhenkammliteratur entstammen. Einem ohnehin stark reglementierten oder nach Ansicht seiner Kritiker: verschulten Studiengang droht damit Erstarrung bzw. in letzter Konsequenz der Rückfall in eine Mainstream-Literatur musealen Charakters. Um diese von den Verf. keineswegs intendierte Entwicklung schon im Ansatz zu verhindern, schlägt der Rezensent die Einbeziehung angeblich marginaler oder kontrovers bewerteter, dezidiert politischer oder provokativer Autoren sowie der Paraliteratur vor. Zweitens fällt auf, daß die Verf., was gerade in Hinblick auf die im Studium zu erlernenden, sogenannten soft skills von Bedeutung wäre (vgl. 43f.), nirgendwo zum Seminargespräch oder zur Diskussion auffordern, um Argumentation und Kritikfähigkeit zu üben - und gleichzeitig die reine Wissensvermittlung durch den frontal unterrichtenden Dozenten zu unterbrechen. Insbesondere durch diese nicht hoch genug einzuschätzende Möglichkeit des Kommunizierens unterscheiden sich eine Lehrveranstaltung vom Selbst- und Fernstudium und, im weiteren Sinne, die Geistesvon den Technikwissenschaften. Sehr förderliche Fragen wirft der Band genug auf, beispielsweise: Welche literarische Bedeutung hat (der von der deutschen Romanistik ignorierte) Victor Hugo? Warum sprechen die Verf. von „unguten 159 Konnotationen“ (168f.), die das Wort „Rasse“ im Deutschen auslöst? Ist Synästhesie nicht ein rein subjektives Erleben, das sich deshalb der Interpretation entzieht? Mehrere Lapsus hauptsächlich terminologischer Art sind des weiteren anzuzeigen. (1) Titel, Motto, Widmungsangabe, Vor- und Nachwort gehören nicht zum dramatischen Nebentext, sondern sind nach Gérard Genette Paratexte (vgl. 97). (2) Der Ausdruck „Protagonist“ bezeichnet im griechischen Theater den 1. Schauspieler; ein Drama hat demnach lediglich einen Protagonisten (vgl. 99). (3) Es ist in unzulässiger Weise simplifizierend zu behaupten, die „zentrale Aufgabe der Erzähltheorie oder Narratologie“ (Hervorhebung G/ R, 135) sei die „Beschreibung der Strukturen auf jeder der Ebenen [histoire und discours] und des Verhältnisses der beiden zueinander“ (135); Tzevtan Todorov spricht bereits 1969 von der „science du récit“ (Grammaire du Décaméron, 1969: 10). (4) Unter Architextualität sind nicht die „einer großen Gruppe von Texten gemeinsamen literarischen Merkmale [...], die nur noch eine sehr allgemeine Zugehörigkeit zu literarischen Grundformen belegen“ (210) zu verstehen, sondern die Beziehung eines Textes zu seinen sämtlichen Diskurstypen, also das, was Manfred Pfister „generische Systemreferenz“ nennt. 2 (5) Die Ästhetik des Häßlichen begründet Baudelaire keineswegs, wie die Verf. suggerieren (vgl. 90), vielmehr rekurriert er auf die französische Romantik, Hugo und seinen Lehrer Gautier, und den Frühbarock, mithin auf eine manieristische Tradition. Insgesamt offeriert der vorzüglich lektorierte Band einen sehr brauchbaren, auf den BA-Studiengang exakt zugeschnittenen und ihm gemäßen Einstieg in die französische Literaturwissenschaft. 3 Indem alle wichtigen, für eine Einführung bedeutsamen Aspekte der französischen Literaturwissenschaft abgedeckt werden, erhält der Leser das nötige Rüstzeug für die sich anschließenden Module; der Nachdruck, den die Verf. auf das analytische Alltagsgeschäft legen, sucht seinesgleichen. Hervorgehoben sei auch die den Studienanfängern mit ihren geringen Vorkenntnissen angepaßte Darbietungsform: Samt dem die Unterrichtssituation nachbildenden pluralis praeceptoris und der Leseranrede folgen die Verf. insofern den Prinzipien des Lehrbuchs, als sie auf allgemeinverständliche Weise und ohne unnötigen Jargon komplexere Zusammenhänge nachvollziehbar und gut memorierbar erklären. Den im amerikanischen Universitätsmilieu üblichen aufgelockert-witzigen Tonfall mochten die Verf. nicht übernehmen, doch das bleibt eine Geschmacksfrage. 4 Durch den BA-Studiengang, dessen Einrichtung die Verf. recht optimistisch beurteilen (vgl. 1), wird sich die universitäre Lehre an der Universität, auch dafür steht der Band, formal und inhaltlich zu einer Art schulischem Unterricht verändern. Ob damit zugleich eine „qualitative Veränderung der Lehre“ (1) eintritt, die zuvor bei weitem nicht auf so niedrigem Niveau stattfand, wie die Verf. implizieren, bleibt fraglich, vor allem weil einer didaktischen Binsenweisheit nach eigene Studien universitäre Veranstaltungen stets ergänzen und fortführen müssen. Eindeutig zu begrüßen ist hingegen eine andere Entwicklung. Weder die Ordinarien der Nachkriegszeit noch der 68er-Generation legten, sei es aus Überheblichkeit, sei es 160 aus prinzipieller Geringschätzung, besonderen Wert auf die Vermittlung der Grundlagen des Faches und der handwerklichen Fähigkeiten und delegierten derartiges an eine längst Sparzwängen geopferte Hochschuldozentenschaft bzw. an Lehrbeauftragte. Zu Recht beginnt hier eine neue Art von Einführungsliteratur, welche die pragmatische Idee einer erlernbaren Wissenschaft vertritt. Doch macht, für unser Fach gesprochen, die Kenntnis positivistischer Fakten allein einen Romanisten nicht aus. In seiner Gedenkrede auf Ernst Robert Curtius zitiert Hugo Friedrich dessen Wort, es gebe in den Geisteswissenschaften nur eine Methode, nämlich „‘das Zusammenwirken von Instinkt und Intelligenz’“. 5 Obwohl beides laut Curtius vom Katheder aus nicht zu lehren sei, wird man einräumen, daß Intuition und Fingerspitzengefühl - Begriffe, die wir heute dem Instinkt vorziehen - bei intensiver Beschäftigung mit dem Fach und seinen Gegenständen entstehen, daß sich also idealiter ein empathischer Sinn für Literatur im Laufe des Studiums durchaus entwickeln kann. Dieses nicht auf konventionelle Weise lehr- oder lernbare Gespür, Spitzers Ingenium, ist unabdingbar für eine lebendige Wissenschaft. Thomas Amos (Heidelberg) 1 Vgl. ausführlich Thomas Amos: „Der Boom der Studienliteratur. Überlegungen zu einem symptomatischen Phänomen“, in Komparatistik. Jahrbuch der deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Heidelberg 2007. (im Druck) 2 Vgl. Ulrich Broich/ Manfred Pfister (eds.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, 56. 3 Ein hier nur ansatzweise zu ziehender Vergleich mit der von Jürgen Grimm, Frank-Rutger Hausmann und Christoph Miething verfaßten, zum Klassiker avancierten Einführung in die französische Literaturwissenschaft (Stuttgart/ Weimar 4 1997 [ 1 1976]) zeigt auf inhaltlicher Seite weitgehende Übereinstimmung, wenngleich Gröne/ Reiser die Situierung Frankreichs in der Romania und ebenso einen historischen Aufriß der deutschen (Franko-)Romanistik unterschlagen. Abgesehen von ihrer anspruchsvolleren Wissenschaftsprosa, veranschaulicht die 151 Titel aufführende Auswahlbibliographie der älteren Einführung (vgl. XIII-XIX) überaus signifikant den Unterschied von neuer Studienliteratur zur old school. 4 Hier ist die deutsche Anglistik naturgemäß weiter fortgeschritten, vgl. z. B. Christof Bode: Der Roman, Tübingen/ Basel 2005. 5 „Ernst Robert Curtius. Gedenkrede zu seinem 80. Geburtstag“, in Hugo Friedrich: Romanische Literaturen I/ II. Aufsätze II: Italien und Spanien, Frankfurt/ Main 1972, 185-195; 186.