eJournals lendemains 33/130-131

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Narr Verlag Tübingen
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2008
33130-131

Stellungskämpfe in der Romanistik der Humboldt-Universität 1951/52

2008
Manfred Naumann
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282 Manfred Naumann Stellungskämpfe in der Romanistik der Humboldt-Universität 1951/ 52 1949 war an der Humboldt-Universität der Romanistische Lehrstuhl durch den Abgang Fritz Neuberts an die Freie Universität vakant geworden. Werner Krauss hätte gern gesehen, wenn sich Erich Auerbach hätte berufen lassen, der in den USA damals noch keine sichere Professur hatte. Doch Auerbach hatte gegen die Einbürgerung in östliche Gefilde Bedenken, und die verpackte er in seinen Briefen an Krauss zwar taktvoll, aber doch so unmissverständlich, dass Krauss den Plan fallen ließ. Um die Romanistik an der Humboldt-Universität nicht aussterben zu lassen, erklärte sich Krauss bereit, neben Victor Klemperer, der wie er durch die Nazis verfolgt worden war und nun eine Professur in Halle hatte, in Berlin ab Sommersemester 1950 als Gastprofessor zu wirken. Krauss hatte sich im Zuchthaus körperliche Schäden zugezogen, die eine ständige ärztliche Behandlung erforderten; man spürte, dass er sich durch die Berliner Lehrverpflichtungen überlastet fühlte. Daher nahmen seine Leipziger Lehrlinge ein Jahr später mit ziemlicher Erleichterung zur Kenntnis, dass das Provisorium durch die offizielle Berufung Klemperers auf den Berliner Lehrstuhl beendet war. Damit hatte sich für Krauss, so dachten wir, das Berliner Gastspiel erledigt. Doch das war ein Irrtum. Nach dem Sommersemester 1951 trat Krauss einen Erholungsurlaub auf der Krim an, von dem niemand wusste, wie lange er dauern würde. Nach seiner Rückkehr im Oktober fand Krauss den Ruf auf ein Ordinariat an der Humboldt-Universität neben Klemperer vor; das Institut sollten beide gemeinsam leiten, Klemperer aber die Geschäfte führen. Über die Gründe, die ihn zur Annahme bewogen, schwieg Krauss sich aus. Vielleicht hatte ihn Gerhard Harig dazu überredet, der Staatssekretär für Hochschulwesen, mit dem er befreundet war. Jedenfalls war von den Obrigkeiten beschlossen worden, die Leipziger Romanistik mit der in Berlin zusammenzulegen, und mir, dem Assistenten von Krauss, fiel die Aufgabe zu, als Vorkommando vorauszueilen und in Berlin für die Leipziger Studentenschaft Quartier zu machen. Die meisten kamen in einer heruntergekommenen Großraumwohnung am Zionskirchplatz unter; auch ich verbrachte dort meine Berliner Nächte. * Victor Klemperer, mit dem ich es nun zu tun kriegte, war mir natürlich vom Namen her ein Begriff. Begegnet war ich ihm zum ersten Mal irgendwann 1947. Auf einer seiner Vortragsreisen quer durch die Ostzone, die er ausführlich in seinen ‘Tagebüchern von 1945 bis 1959’ beschreibt, war er auch einmal durch Mittweida gekommen, meine Heimatstadt. Ich hatte gerade Semesterferien und ließ mir den Auftritt eines Romanisten, von dem ich wusste, dass er in der Nazizeit den Judenpogro- 283 men in Dresden ausgesetzt gewesen war, nicht entgehen. Worüber er sprach, habe ich vergessen. Aber ich weiß noch, dass mich sein Auftreten und seine Rede sehr beeindruckt hatten. Er sprach völlig frei, ohne sichtbares Konzept, schien seinen Text erst beim Reden zu erfinden und verstand, seine Zuhörer mit seinem Vortrag mitzureißen. Wenig später kam ‘LTI’ heraus, sein Buch über die ‘Lingua Tertii Imperii’, über die ‘Sprache des Dritten Reiches’. Es wurde für mich zu einer Art Sprachlehrbuch; vor dem Gebrauch von Worthülsen wie Fanatismus, Heldentum, Kampfeswille, Weltanschauung und ähnlichen Vokabeln, die von den Nazis zu Tode geritten worden waren, nahm ich mich von nun an noch mehr als vorher in Acht. Nun also war ich Assistent an dem Institut, dessen geschäftsführender Direktor er war, und lernte ihn persönlich kennen. Die Hochachtung, die mir seine Persönlichkeit eingeflößt hatte, blieb bestehen. Er war der glänzende Redner, als den ich ihn erlebt hatte, geblieben. Die Gespräche, die er mit einem führte, waren gelehrsam, die Vorlesungen, die man bei ihm hörte, waren mit literarischer Bildung gesättigt und hatten darüber hinaus noch den Vorzug, weil sie sprachlich elegant vorgetragen wurden und kein anstrengendes begriffliches Mitdenken verlangten, im Unterschied zu denen von Krauss, unterhaltsam zu sein. Seine wissenschaftlichen Schriften, die ich in Berlin zu lesen begann, sagten mir weniger zu. Die kulturkundlichen deutsch-französischen Querelen, in die er sich in den zwanziger Jahren verwickelt hatte, kamen mir wie Papiere aus der grauen Vorzeit vor. Auch mit seinem Montesquieu-Buch von 1913, in dem er die These vertrat, bei Montesquieu habe der Dichter über den Denker gesiegt und die verspielte Rokoko-Ästhetik habe es zum Glück fertig gebracht, sein strenges Aufklärungsdenken zu würzen, konnte ich nicht viel anfangen; bei Elie Carcassonne z.B., der das Nachwirken der von Montesquieu konzipierten Gewaltenteilung im 18. Jahrhundert untersucht hatte, war mehr zu lernen. In Klemperers literaturgeschichtlichen Überblicken über das französische 19. Jahrhundert waren sehr schöne Portraits von den Schriftstellern und ihren Werken entworfen, aber ich fragte mich, warum sie nicht in übergreifende philosophische und mentale Strukturen eingebettet worden waren, die dem Individuell-Biographischen erst seine geschichtliche Bedeutung verleihen. Ich hatte beim Lesen immer das Bild einer Ahnengalerie vor mir, deren Gestalten sich den Dialogen mit der Gegenwart verweigern. Dass bei ihm die Geschichte der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts auf ein ‘Jahrhundert Voltaires’ und auf ein ‘Jahrhundert Rousseaus’ zusammenschrumpfte und die sonst noch schreibenden Heerscharen nur als Komparsen behandelt wurden, die den Reden der Hauptakteure Beifall zollen oder den Stab über sie brechen, störte mich besonders; ich war ja gerade dabei, auch von den aufgeklärten Kleingeistern etwas zu lernen. Das war vor einem halben Jahrhundert; heute leiste ich Klemperer im stillen Abbitte dafür, dass ich ihn mir damals als einen Lehrer, bei dem ich Lust gehabt hätte, das akademische Handwerk zu erlernen, gar nicht vorstellen konnte. Die Ausmaße seines kreativen Potentials entdeckte ich erst nach der Lektüre seiner 284 posthum veröffentlichten Tagebücher, in denen er ‘Zeugnis bis zum letzten’ über das mit seiner Frau Eva erlittene Schicksal in der Nazizeit ablegt. Ich kenne kein Werk über den Alltag eines jüdischen Bürgers unter faschistischer Herrschaft, das mir näher gegangen wäre. Mit diesem Großwerk wird Victor Klemperer einen unverlierbaren Platz in den geschichtlichen Annalen finden. * Verständlicherweise legte er damals Wert darauf, dass ihn auch die Krauss’schen ‘Nachwüchslinge’ als Institutsdirektor akzeptierten, wozu wir im Prinzip auch durchaus bereit waren. Aber wenn er es darauf anlegte, uns zu seinen wissenschaftlichen Ansichten zu bekehren, gingen wir auf Distanz. Natürlich blieb ihm der Abstand, den wir wahrten, nicht verborgen, und das ließ er uns auch spüren. Mich behandelte er, wie er in den Tagebüchern kundtut, als den ‘Adlatus von Krauss’, was ich ihm nicht weiter übelnahm; denn ein solcher ‘Adlatus’ war ich ja in der Tat. Trotz der Spannungen hatte das Zusammensein der Krauss- und Klempererleute manchmal auch seine heiteren Seiten. Nicht ohne Sarkasmus vermerkt Klemperer: ‘Tragikomisch: Rita setzte sich auf etwas Hartes - es war Werners Gebiss. Schon kam Manfred Naumann, es mitleidig verschämt holen.’ Solche zum Schmunzeln Anlass bietende Vorkommnisse waren allerdings selten. Rita Schober, die sich auf das Harte gesetzt hatte, das sich als das Gebiss von Werner Krauss entpuppte, bereitete sich auf ihre Habilitation bei Klemperer vor und stand natürlich auf der Seite ihres Präzeptors. Außerdem hatten wir in Erinnerung behalten, dass sie eine Zeitlang Referentin für Romanistik im Staatssekretariat gewesen war und dabei für die Leipziger Romanistik nicht viel übrig gehabt hatte; darüber hinaus empfanden wir es als störend, dass sie auch noch zu ihrer Nachfolgerin in diesem Amt gut funktionierende Beziehungen hatte. Es blieb daher nicht aus, dass sich die Differenzen zwischen den beiden Professoren auch auf ihre Anhänger auswirkten. Rita und ich brauchten ein paar Jahre, um die uns von unseren Lehrern in die Hand gedrückten oder aus eigenem Antrieb geschwungenen Lanzen beiseite zu legen. Am besten gelang uns das auf den ausländischen Kongressen, die wir später manchmal gemeinsam besuchen durften. Das internationale Flair sorgte dafür, dass die Kriegsbeile, die uns in der Heimat zu schaffen machten, begraben wurden. Jeder von uns spann seinen eigenen wissenschaftlichen Faden weiter; aber allmählich bildete sich ein kollegiales und bald auch freundschaftliches Verhältnis zwischen uns heraus. Vor etlichen Jahren feierten wir in trauter Gemeinschaft Ritas 80. Geburtstag, an dem ich der Beziehungen zwischen Krauss und Klemperer anhand von ‘PLN und LTI’ gedachte, und aus Anlass meines 75. entwarf sie von mir ein Bild, in dem sie mir so viel Lob spendete, dass ich mich in dem Portrait beinahe gar nicht wiedererkannt hätte. Inzwischen ist Rita Schober neunzig geworden. Sie sieht noch immer blendend aus und schreibt noch immer sehr lesenswerte Abhandlungen; auch dafür bewundere ich sie. 285 Doch damals, Anfang der fünfziger Jahre, lagen die Auffassungen und wissenschaftlichen Vorlieben von Krauss und Klemperer nebst ihren Anhängerschaften so weit auseinander, dass an ein fruchtbares Zusammenwirken gar nicht zu denken war. So war es nur folgerichtig, dass das von den Behörden angestrebte Bündnis schon nach einem Semester wieder zusammenbrach. Im Herbst 1952 wurde zum Rückzug geblasen, die Kraussianer bezogen wieder in Leipzig Stellung. Drei oder vier Studentinnen oder Studenten, die nicht gerade die besten waren, blieben in Berlin. Wir weinten ihnen keine Träne nach. * Von den Geplänkeln im Institut abgesehen, waren die mir zugemuteten Berliner Assistentendienste durchaus erträglich. Zwar hatte mir Krauss ein Proseminar anvertraut, das zum Gegenstand, wenn ich mich recht erinnere, Montaigne hatte, über den ich seit 1949 Bescheid zu wissen glaubte. Aber es blieb noch genügend Zeit, um in der Staats- und Universitätsbibliothek meine Aufklärungsstudien fortzusetzen und meine Kenntnisse der romanischen Literaturen zu erweitern. Auch noch andere Vorteile bot die ‘Hauptstadt’; so existierte damals auf dem Alexanderplatz noch eine internationale Buchhandlung, in der es gegen Ostgeld vom französischen Kulturministerium gespendete Bücher und Zeitschriften zu kaufen gab. Ich erstand den sechsbändigen ‘Larousse du XX e Siècle’ und einige Jahrgänge von ‘La Pensée, Revue du rationalisme moderne’, die mir halfen, mich im zeitgenössischen französischen Geistesleben besser zurechtzufinden. ‘La Pensée’ wie auch die der KPF nahestehende Zeitschrift ‘La Nouvelle Critique’ konnten sogar abonniert werden. Die Abende nutzte ich vornehmlich für Kinobesuche am Potsdamer Platz und in der ‘Maison de France’ am Kurfürstendamm, wo es französische Filme zu sehen gab. Von ‘Lohn der Angst’ mit Yves Montand war ich besonders begeistert. Manchmal fiel hinterher auch ein Dortmunder Pils ab, das mir besser als das Bier in den Ostberliner Kneipen schmeckte. Oft war ich auch Gast im Deutschen Theater, das damals noch das Berliner Ensemble beherbergte. Ich sah die ‘Mutter Courage’, ‘Herrn Puntila und seinen Knecht Matti’ und den von Brecht bearbeiteten ‘Hofmeister’. Nach irgendeiner Premiere nahm mich mein Freund Carl Andrießen, Theaterkritiker der ‘Weltbühne’, in die Kantine mit; dabei bekam ich ein zweites Mal Brecht zu Gesicht, den 1949 Hans Mayer den Leipziger Literarturstudenten vorgestellt hatte. Das erneute Brecht-Erlebnis tröstete mich über den unfreiwillig unternommenen Berliner Exodus hinweg. Krauss selbst ließ sich im Institut nur selten blicken, und wenn er da war, hatte ich mich nicht nur um sein Gebiss zu kümmern; ich musste manchmal auch die Bücher tragen, die er in Westberlin beim Antiquar Streisand gekauft hatte. Kontrollen an den Sektorengrenzen gab es zu dieser Zeit noch nicht, wohl aber sorgten Polizisten in den Zügen zwischen Leipzig und Berlin für Ordnung. Schon ein Jahr zuvor waren Krauss und Winfried Schröder einem so schikanösen Verhör über Sinn und Zweck ihrer Reise unterzogen worden, dass sich Krauss bei Mielke be- 286 schwerte, dem Staatssekretär des soeben gegründeten Ministeriums für Staatssicherheit. Wahrscheinlich hat er auf seinen Brief nie eine Antwort erhalten, aber das Vorkommnis ging gesprächsweise in die Institutsannalen ein. Krauss leitete daraus Regeln für den Umgang mit Kontrolleuren ab. Bei einer der Kontrollen erlebte ich, wie er nach langem Kramen in einer mit Geldscheinen gefüllten Aktentasche seinen Ausweis zückte und die in anderen Mappen verwahrten Bücher den Aufpassern mit der Bemerkung zur Durchsicht anbot, sie sollten aus den fremdsprachlichen Texten, in denen die Bücher abgefasst seien, keine falschen Schlüsse ziehen, es handele sich nicht um aufrührerische Schmuggelware, sondern nur um Werke, zu deren Lektüre ein Professor für Romanistik aus rein beruflichen Gründen verpflichtet sei. Diese Auskunft hatte Erfolg; die Kontrolleure verzichteten auf eine nähere Besichtigung des Inhalts. Mitte 1952 zogen wir wieder in Leipzig ein, und nachdem wir uns dort wieder eingelebt hatten, schrieb ich, befreit von dem Stress in Berlin, zügig an meiner Habilitationsschrift weiter, deren Thema Krauss mir gleich nach der Promotion gestellt hatte: ‘D'Holbach und das Materialismusproblem in der französischen Aufklärung’. Nebenbei hatte ich auch Seminare zu leiten, und manchmal kam es sogar vor, dass ich einspringen musste, wenn Krauss wegen Unwohlseins seine Vorlesung ausfallen ließ, was er mir meistens erst am Abend zuvor mitteilte. Ich wusste dann immer, was ich nächtens zu tun hatte. Die Studenten waren gnädig gesonnen; sie ließen sich ihre Enttäuschung, dass nur ein Ersatzmann am Pult stand, nicht anmerken.