eJournals lendemains 33/130-131

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2008
33130-131

Problematische Hegemonie, libidinöse Investition

2008
Stephan Leopold
ldm33130-1310162
3: 28 162 Stephan Leopold Problematische Hegemonie, libidinöse Investition Zur Frage kolonialer Allegoriebildung am Beispiel von Albert Camus (L’Etranger) und Kateb Yacine (Nedjma) Se taire ou dire l’indicible Kateb Yacine, Nedjma I In einem seinerzeit vieldiskutierten, hierzulande gleichwohl kaum zur Kenntnis genommenen Aufsatz 1 postuliert Frederic Jameson, daß die Literatur derjenigen Länder, die Objekte kolonialer Intervention gewesen sind, notwendigerweise allegorischer Natur sei. Während sich in der kapitalistischen Kultur des Westens eine Form des Romans entwickelt habe, in der sich die Ausdifferenzierung von Privatem und Öffentlichem in einer Trennung von Poetischem und Politischem bzw. von Erotischem und Ökonomischen niederschlage, 2 charakterisiere sich die Literatur der sog. ‘Dritten Welt’ dadurch, daß die libidinöse Dynamik immer auch - oder gerade - das Politische erfasse, denn „[there,] the story of the private individual destiny is always an allegory of the embattled situation of the public third-world culture and society.“ 3 Hauptgrund hierfür ist der Objektstatus der ehemaligen Kolonien, also eine Ent-Eignung, die der nationalen Konsolidierung und internationalen Expansion der westlichen Industrienationen, wie sie Carl Schmitt am Jus Publicum Europaeum nachgezeichnet hat, 4 diametral entgegensteht. Die libidinöse Investition in das Politische wäre demnach zunächst wohl als eine Art von Nationalismus zu beschreiben, der gerade davon herrührt, daß sich die nationale Gemeinschaft nicht - oder noch nicht - zu einer imagined community im Sinne Benedict Andersons verfestigt hat, sondern diese imagined community Gegenstand des kollektiven Begehrens ist. 5 Wie man sich dergleichen vorstellen muß, hat Doris Sommer in ihrer Studie zu den lateinamerikanischen Nation-Building-Romanen des 19. Jahrhunderts gezeigt. Hier fungiert Literatur - und vor allem die romaneske Liebeshandlung - als allegorische Zusammenführung optimaler Lebenskraft, die die durch die Liebenden personifizierten, heteronomen Bereiche von Land und Stadt schließlich in einer konjugalen Umarmung verbindet, deren Frucht die ersehnte Nation ist. 6 Aus rezeptionsästhetischer Sicht erweist sich die lateinamerikanische family romance damit als eine kollektive Projektion im Sinne des Lacanschen ‘Spiegelstadiums’, bei der die „assomption jubilatoire“ eines imaginären Doppels kompensatorisch für die keineswegs homogene Verfaßtheit des politischen Körpers aufkommen muß. 7 Nun erschöpft sich Jamesons Modell allerdings nicht in dieser Form illusionärer Ganz- 163 heitsprojektion. Am Beispiel der Erzählung „A Madman’s Diary“ (1918) des chinesischen Autors Lu Xun zeigt er unter Zuhilfenahme von Freuds Fallstudie zum Gerichtspräsidenten Schreber vielmehr auf, wie der radikale Entzug von (Objekt-)Libido einen Text generiert, der in einer ‘paranoiden’ Rekonstruktion der Wirklichkeit besteht. 8 Auf diese Weise zerbricht die Oberfläche illusionärer Ganzheit zugunsten einer „terrifying objective real world“, die im Fall von „A Madman’s Diary“ in dem schrecklichen Verdacht seitens des hypodiegetischen Erzählers/ Protagonisten besteht, daß seine Mitbürger allesamt Kannibalen seien. 9 Nun wird man einwenden, daß dergleichen für die Literatur der Moderne keineswegs untypisch ist, und Autoren wie Poe (z.B. The Fall of the House of Usher [1837]), Dostoevskij (Der Doppelgänger [1846]) oder Maupassant (Le Horla [1887]) diese Form von paranoider Wirklichkeitsrekonstruktion ebenfalls aufweisen. Der entscheidende Unterschied zwischen denjenigen Autoren, die man mit Tzvetan Todorov als Vertreter der ‘phantastischen Ambivalenz’ bezeichnen könnte, 10 und Lu Xun besteht nun aber Jameson zufolge in der Kolonialsituation, vor deren Hintergrund der chinesische Autor schreibt. 11 Eine in China spezifisch libidinös konnotierte Aktivität wie das Essen, die zudem einen ganz wesentlichen Teil der kulturellen Selbstwahrnehmung ausmacht, fällt so zusammen mit einer Entdifferenzierungsdynamik, bei der sich die autochthone Bevölkerung in ihrem Überlebenskampf gleichsam kannibalisch selbst aufzehrt. Aus diesem Blickwinkel ergeben sich nun zwei, wesentlich voneinander zu unterscheidende Typen kolonialer bzw. postkolonialer Allegorie, die sich mit Homi K. Bhabhas Begrifflichkeiten des ‘Pädagogischen’ und des ‘Performativen’ näherhin spezifizieren lassen. Die family romance lateinamerikanischer Prägart wäre demnach insofern pädagogisch, als sie eine historisch-dialektisch g e w o r d e n e postkoloniale Nation in ihrem teleologischen Kulminationspunkt festschreibt und damit ein gleichermaßen literarisch e r z e u g t e s wie spekulares Identifikationsmodell bereitstellt. Das Performative begreift Bhabha als dem Pädagogischen zumindest partiell widerständig, da es in einer je individuellen Realisierung des Pädagogischen besteht und mithin immer schon eine potentielle Dissemination in sich birgt. 12 Auf Lu Xuns Erzählung übertragen, könnte man daher sagen, daß die paranoide Performanz des hypodiegetischen Erzählers gerade darin besteht, das Pädagogische - wonach der koloniale Status quo durchaus in Ordnung sei, da man ja auch weiterhin offizielle Posten einnehmen könne - durch den ‘unheimlichen’ Zusammenschluß von kulinarischer Libido und Kannibalismus zu zersetzen. 13 Das Pädagogische, wie es bei Lu Xun aufscheint, erweist sich vor diesem Hintergrund als ein der subjektiven Wahrnehmung des Erzählers gegenläufiger Diskurs - als ein Diskurs also, der zur Dämpfung ‘paranoider’ und in letzter Instanz antikolonialer Affekte beitragen kann oder soll. Dies gilt umso mehr, als sich Kolonialsituationen seit der Frühen Neuzeit ihrerseits auf pädagogische Narrative - sei es auf die Evangelisierung, sei es auf die white man’s burden des zivilisatorischen Auftrags - stützen, die zusammen mit den daraus ableitbaren Ab- und Ausgrenzungsstrategien auf der Seite des Kolonisier- 164 ten jenen Inferioritätskomplex bewirken, den Frantz Fanon als ein wesentliches Machtmittel über die autochthone Bevölkerung beschrieben hat. 14 In einer Kolonialsituation erfüllt das Pädagogische also nicht nur die Funktion, die ökonomische Ausbeutung eines militärisch unterlegenen Volkes im Namen eines höheren Ziels zu legitimieren, sondern dient auch zur gleichermaßen diskursiven wie materiellen Schaffung einer durch kulturelle Asymmetrie und ethnischen Substantialismus begründeten Unterlegenheit, die es erlaubt, die Kolonialsituation auf unbestimmte Zeit aufrecht zu erhalten. 15 Das Pädagogische, wie es die Kolonialmacht zu ihrem Erhalt hervorbringt, ist demnach als ‘strategisch’ im Sinne Michel de Certeaus zu begreifen, da es über einen Ort - die koloniale Infrastruktur - verfügt, von dem aus der stratifikatorische Diskurs geäußert werden kann. 16 Dies heißt nun aber nicht, daß das strategische Moment des Hegemonialdiskurses immer auch als solches wahrgenommen wird. Folgt man Fanon, so zeigt sich ja gerade, daß für das dauerhafte Funktionieren einer Kolonialsituation die Internalisierung des Pädagogischen unabdingbar ist - und das sowohl auf Seiten der Kolonialherren als auch auf Seiten der Kolonisierten. Dieses bis zu einem gewissen Grad unbewußte Moment rückt das Pädagogische schließlich in beträchtliche Nähe zu Louis Althussers Konzept der Interpellation, besteht doch für Althusser das Wesen der Interpellation nicht so sehr in der ereignishaften Anrufung des Individuums durch ein machtvolles Anderes, als vielmehr in der freiwilligen und reibungslosen Annahme einer von der symbolischen Ordnung des Staatsapparats bereitgestellten Subjektposition. Das Althussersche assujettissement ist damit eine Übertragung des Lacanschen Spiegelstadiums auf die Ebene der Ideologie - und das insofern, als es eine Identifikation mit einem Ideal-Subjekt (in unserem Zusammenhang etwa dem idealen Kolonialbeamten oder dem von seiner Inferiorität überzeugten Unterworfenen) voraussetzt, mit der die Anerkennung durch das Kollektiv (hier die koloniale Administration) einhergeht. 17 Bedenkt man diesen spekularen Aspekt des Pädagogischen, so wird man freilich auch Bhabhas Setzung, wonach schlechterdings jede Performanz disseminatorisch sei, nochmals zu überdenken haben. Slavoj Žižek hat in ähnlichem Zusammenhang zurecht bemerkt, daß jeder Interpellation immer ein Maß an Exzeß, d.h. an Uneinholbarkeit innewohnt, ohne das die individuelle Realisation gar nicht zu leisten wäre und - in unserem Fall - eine tatsächliche Kolonialsituation auch nicht funktionieren könnte. 18 Das Performative, wie es sich an Lu Xuns Erzählung abgezeichnet hat, weist hier in eine andere Richtung, besteht doch die ‘paranoide Realisierung’ des Erzählers gerade in einer Zersplitterung des ideologischen „tout ira bien“ und folglich in einer Dissemination, wenn nicht Subvertierung des Pädagogischen. Eine wesentliche Rolle scheint hier die von Jameson konstatierte Abkehr der (Objekt-)Libido zu spielen, denn in dem Maße, wie das Subjekt sich nicht mehr mit der spekularen Imago identifiziert, in dem Maße also, wie eine „assomption jubilatoire“ des imaginären Doppels unmöglich wird, verliert auch die Interpellation ihre bindende Kraft, und das Subjekt fällt aus der symbolischen Ordnung. Anstelle des noch wesentlich unbewußten assujettissement tritt nun eine paranoide Be- 165 wußtheit, bei der die von dem spekularen Objekt der Ideologie abgekehrte Libido eine unheimliche Liaison mit dem (kolonisierten) Volkskörper eingeht und die koloniale Wirklichkeit als furchterregende Kannibalenszene rekonstruiert wird. Auf der Ebene des politisch engagierten Autors, der Lu Xun zeitlebens gewesen ist, müßte man diese Form der Nationalallegorie dann wohl auch als ‘taktisch’ im Certeauschen Sinne bezeichnen, denn anders als das hegemoniale Narrativ des Pädagogischen hat sie keinen eigenen Redeort und muß sich daher parasitär des strategischen Diskurses des Anderen bedienen. 19 Schematisch betrachtet ergeben sich so für das koloniale Dispositiv zwei einander gegenläufige Artikulationsbedingungen und -formen: Einmal ein Pädagogisches, bei dem sich das Performative innerhalb der exzessiven Interpellation ansiedelt und damit diskursstützend wirkt; einmal eine Performanz, die gleichsam konterdiskursiv das Pädagoische allegorisch unterwandert. 20 Für die erste Form ließe sich die Stereotypbildung in kolonialspezifischem Schrifttum und Kino stark machen, die, wie Bhabha zurecht bemerkt hat, in einer fetischistischen, also ihrerseits libidinös besetzten Arretierung des Anderen besteht und durch eben diese Arretierung (im Sinne substantialistischer Rassenmerkmale) den Anderen erst als unvollkommenes Gegenstück zu dem intakten, narzißtischen europäischen Subjekt hervorbringt. 21 Die zweite Form kann nun diese Arretierung nicht einfach durch eine - wiederum substantialistisch zu denkende - Kultur ersetzen, da diese ‘autochthone’ Kultur ja bereits Teil jenes orientalistischen Blicks geworden ist, wie ihn Edward W. Said beschrieben hat, 22 und damit immer schon ent-eignet ist. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn Gaytari Chakravorty Spivac, die im Rückgriff auf Foucault von epistemic violence spricht, das kolonisierte Subjekt mit dem weiblichen Subjekt in der patriarchalen Ordnung kurzschließt, denn wie der Andere der Kolonialsituation, ist die Frau immer gespalten zwischen einem auf sie geworfenen, sie als Stereotyp arretierenden Blick und einer mit diesem Blick inkommensurablen Differenz. 23 Dies heißt nun aber nicht, daß zwischen diesen beiden Polen kein Austausch stattfände. So basiert auch das in der neueren Kolonialsmusforschung so häufig bemühte Konzept der Hybridität auf einer wechselseitigen Spiegelung der Blicke - also auf einem, wenn man so möchte looking back des Kolonisierten, das den Vertreter der Kolonialmacht nicht unberührt läßt und in seiner Subjektposition destabilisiert. 24 Daß dies, an der tatsächlichen Dauer der Kolonialzeit gemessen, immer auch eine der Nachträglichkeit geschuldete Wunscherfüllung ist, bedarf keiner näheren Erläuterung. Von Belang ist jedoch, inwiefern sich diese Hybridität in kolonialen Repräsentationsformen niederschlägt, inwiefern diesen Repräsentationen also eine Verunsicherung eingeschrieben ist, die das Pädagogische in eine Performativität kippen läßt, die nicht mehr bruchlos mit der kolonialen Interpellation zu verrechnen ist. In letzter Instanz führt diese Überlegung schließlich zu Jamesons Konzept der Nationalallegorie zurück, und zwar insofern, als so die kolonialen Repräsentationsformen aus dem totalisierenden Narrativ von Akkulturierung und Assi- 166 milation ausscheren und mithin ihrerseits Allegorien problematischer Hegemonie darstellen. Diesen häufig unterschätzen Aspekt möchte ich nun in einem ersten Analyseschritt an Albert Camus’ frühem Roman L’Etranger (1942) nachzeichnen, der sich vielleicht noch stärker als Lu Xuns Erzählung durch die Abkehr von (Objekt-)Libido seitens des Erzählers/ Protagonisten auszeichnet. Anders als in „A Madman’s Diary“ kommt es in L’Etranger aber zunächst nicht zu einer paranoiden Rekonstruktion der Wirklichkeit, sondern zu einer Erfahrung des Absurden. Letzteres hat sicher dazu beigetragen, daß man L’Etranger - zumindest außerhalb von Algerien - lange Zeit als einen philosophischen Roman gelesen hat, bei dem das Setting und der Mord an dem ‘Araber’ nur den akzidentellen Anlaß für eine allgemeingültige Reflektion auf die Absurdität des menschliche Daseins darstellt. 25 Daß die Abkehr der (Objekt-)Libido indes durchaus kolonialspezifische Implikate hat, wird spätestens im zweiten Romanteil deutlich, wenn der Untersuchungsrichter Meursault dazu bewegen will, sich (freiwillig) mit dem Kruzifix und den spezifisch christlichen Werten des Mutterlandes zu identifizieren, Meursault dies jedoch ablehnt. Letzteres hat keine unbeträchtliche Auswirkung auf das Absurde des Romans, daß dann ja weniger von einer an sich sinnlosen Welt herrührt als vielmehr von der Tatsache, daß Meursault, indem er den ‘Araber’ tötet, zwar der unbewußten Aggression der Kolonialherren gegen den Anderen Ausdruck verleiht, indes eine bewußte Annahme der Interpellation durch das Symbolische - und damit seine keineswegs unnmögliche Rettung - zurückweist. Welche Implikationen diese Aporie für eine kolonialspezifische Lektüre des Romans haben kann, wird daher eine der Fragen sein, die es zu beantworten gilt. Anders als in Europa hat man L’Etranger auf nordafrikanischer Seite von Anfang an als einen kolonialspezifischen Text gelesen - und dies nicht immer zum Vorteil des pied-noir Albert Camus. 26 Zugleich ist L’Etranger aber auch das Initium eines writing back, das in Kateb Yacines während des Algerienkriegs erschienenen Roman Nedjma (1956) seine wohl berühmteste Ausformung gefunden hat. 27 Ausgangspunkt von Nedjma ist dabei nicht zufällig das in L’Etranger dem ‘Araber’ zugeordnete Messer, das zwischen den männlichen Protagonisten zirkuliert und sich wie ein Weberschiffchen durch den Text zieht. 28 Während bei Camus der Andere jedoch ein als Stereotyp arretierter, kaum Konturen annehmender Arabe war, entfaltet Kateb ein wirres Netz genealogischer und ethnischer Verflechtungen, in dem sich Vielheit und Einheit in unausgesetzter Dialogizität überlagern und dessen evasives Zentrum die von allen begehrte Nedjma ist. Als Objekt kollektiver libidinöser Fixierung ist die änigmatische, multiethnische Nedjma zugleich - wie ihr arabischer Name besagt - ein Stern und damit eine Figur der Dezentrierung. Keiner der Protagonisten wird Nedjma je für sich gewinnen und doch ist es gerade der durch sie getragene (romaneske) Aufschub in Zeit, Raum und Sprache, der den Text erst konstituiert. Die (national-)allegorische Dimension des Textes wird umso deutlicher, wenn man hinzunimmt, daß dieses déplacement seinen traumatischen Kern im Massaker von Sétif des Jahres 1945 hat - einem Ereignis, bei dem sich die Kolo- 167 nialmacht insofern als souverän im Sinne Giorgio Agambens erweist, als der Ausnahmezustand die vom Gesetz ungeschützte nuda vita, das tötbare Leben des homo sacer, hervorbringt. 29 Die damit verbundene Anomie verlängert sich auf die Figurenebene, wenn zwei der Protagonisten in der direkten Konsequenz des Ereignisses ihres Studentenstatus verlustig gehen, sie also aus der symbolischen Ordnung herausfallen und sich in einer prekären in-betweenness zwischen metropolitaner Akkulturierung (dem Pädagogischen) und autochthoner Rückbesinnung (dem Performativen) befinden, die auch am Ende des zirkulären Romans nicht (dialektisch) aufgehoben wird. Nedjma - das wäre die hier vertretene These - erweist sich damit nicht nur als eine Antwort auf Camus, sondern auch als ein Text, der Jacques Derridas Konzept der différance von 1968 um gut zehn Jahre vorwegnimmt und es - dies im doppelten Sinne avant la lettre - als wesentliche Denkfigur (post-)kolonialer écriture inauguriert. 30 II Neben der sich wesentlich auf Camus’ essayistische Selbstaussagen stützenden Lektüre hinsichtlich des Absurden hat L’Etranger schon früh eine psychoanalytische Deutung erfahren, die sich grosso modo auf den sog. ‘Ödipuskomplex’ reduzieren läßt. 31 Meursaults Weigerung, um seine Mutter gebührend zu trauern, entspräche demnach keiner Hartherzigkeit, sondern vielmehr einer zu großen - also ödipalen - Liebe, deren Verdrängung jenen Abzug an (Objekt-)Libido bewirkt, die ihrerseits Meursaults Indifferenz seiner Umwelt gegenüber mit sich bringt. Meursault wäre damit ein Melancholiker im Sinne Freuds, der den Verlust des Liebesobjekts durch eine „Regression der Libido ins Ich“ kompensiert und sich eben deshalb von der Objektwelt zurückzieht. 32 Diese nicht selten auf den Autor Camus und dessen Verhältnis zu seiner alleinerziehenden Mutter orientierte Lesart läßt sich noch um die Homophonie von la mère und la mer erweitern, und so würde sich wohl auch Meursaults sekundäre Affektbindung an das Meer erklären, die ja erstmals am Tag nach der Beerdigung thematisch ist und Meursault in die Arme des Ersatzobjekts Marie führt. 33 Wenn ich mich dieser Deutung nicht anschließen möchte, so zum einen deshalb, weil ich glaube, daß sie jener von Jameson konstatierten Ausdifferenzierung von Psychischem und Politischem geschuldet ist und damit an der Affektdynamik der Kolonialsituation vorbeigeht, zum anderen weil ich denke, daß sie einem übergebührlichen Mimetismus verpflichtet ist und also den Verlust der Mutter auf der Figurenebene mit dem Symptom des Textes verwechselt. Ich möchte daher mit einer kurzen raumsemantischen Lektüre des ersten Romanteils beginnen. Einen Schritt in diese Richtung hat bereits vor längerem Wolf- Dietrich Albes getan, wenn er etwa den Strand, auf dem der Mord geschieht, als eine fremdbesiedelte, den pieds-noirs zugehörige Zone ausweist, die durch den ‘Araber’ verstellte Quelle hingegen einem autochthonen Hinterland zuschlägt, das 168 zugleich auf ein Algerien verweist, das dem Europäer - dem ‘Fremden’ - eben nicht zugänglich ist. 34 Damit wäre die Topologie des Romans antinomisch im Sinne Jurij M. Lotmans, und es ergäbe sich ein über die tatsächliche Raumordnung modellierter ‘künstlerischer Raum’, der sich semantisch in einen Raum der Landnahme und das (in weit stärkerem Maße autochthone) Hinterland unterteilt. 35 Die Süßwasserquelle spielt hier insofern eine zentrale Rolle, als sie dem salzigen Meer gegenübersteht, das in Anbetracht der Badeszenen und der oben angesprochenen Homophonie von la mère und la mer wiederum dem Raumteil der piedsnoirs zuzuschlagen sein dürfte. Letzteres wird umso deutlicher, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß Meursaults berufliche Tätigkeit in der kaufmännischen Abwicklung des kolonialen Export/ Import-Handels besteht und räumlich im Hafen von Algier angesiedelt ist - an jenem Ort also, wo die Produkte der Kolonie nach dem Mutterland verschifft werden und an dem Meursault am Tag nach der Beerdigung erstmals mit Marie badet. Vor diesem Hintergrund wäre das Auftauchen der ‘Araber’ auf dem Strand ein Moment der Transgression, das die koloniale Raumordnung in Frage stellt. Meursaults Schritte auf die Quelle zu ließen sich hingegen als ein Übergriff auf eine gleichsam metaphysische Essenz lesen, die die koloniale Landnahme bei weitem übersteigt und in Richtung eines paradoxalen going native zielt. Dieses going native steht nun aber in engem Zusammenhang mit dem Meer und wird über die zunehmend dunklere Hauttönung von Meursault und Marie isotopisch vermittelt. Gleich nach der ersten Badeszene im Hafen von Algier ruft Marie aus: „Je suis plus brune que vous.“ (35) 36 Maries von der Sonne gebräunte Haut stellt für Meursault eine wesentliche erotische Attraktion dar. Im Zuge eines neuerlichen, eine Woche später unternommenen Badeausflugs an einen Strand in der Nähe von Algier konstatiert er daher: „J’ai eu très envie d’elle [...]. On devinait ses seins durs et le brun du soleil lui faisait un visage de fleur.“ (58) Aber schon am Abend ist Marie nicht mehr die Gebräuntere. Von der diskret beschriebenen Liebeshandlung heißt es: „J’avais laissé ma fenêtre ouverte et c’était bon de sentir la nuit d’été couler sur nos corps bruns“ (58). Wie sehr die dunkle Hauttönung nicht nur mit Sommer und Meer, sondern auch mit Algerien in Verbindung steht, wird spätestens dann deutlich, wenn Meursault gegenüber Marie auf Paris zu sprechen kommt: „C’est sale. Il y a des pigeons et des cours noires. Les gens ont la peau blanche.“ (70) Die algerische Sonne wird hingegen selbst noch am Vormittag des Mordes als durchweg positiv beschrieben. Am Strand hört Meursault seinem Gesprächspartner Masson nicht zu: „parce que j’étais occupé à éprouver que le soleil me faisait du bien.“ (82). Wenig später kommt es im Wasser zu einer wiederum diskret angespielten, abermaligen Vereinigung der gebräunten Körper von Meursault und Marie: „Nous avons fait quelques brasses et elle s’est collée contre moi. J’ai senti ses jambes autour des miennes et je l’ai désirée.“ (84) Folgt man dieser Isotopie, so ließe sich für Meursault und Marie eine zunehmende Abkehr von der ‘weißen’ Metropolis festhalten, die einhergeht mit einer Einbettung in die spezifisch algerische Natur. Dieser von freier Sexualität begleiteten 169 Rückkehr zu einem gleichsam paradiesischen Naturzustand stehen nun Meursaults Alltagswelt und insbesondere die Verhältnisse in dem von ihm bewohnten Mietshaus radikal entgegen. Während für Meursault nämlich die autochthone Bevölkerung gar nicht zu existieren scheint, ist sein Etagennachbar Raymond Sinthès in die Beziehung zu einer „Mauresque“ (54) verstrickt, in der sich unschwer eine kolonialspezifische Herr/ Kecht-Struktur erkennen läßt. Sinthès gilt allgemein als Zuhälter, und die Tatsache, daß er sich als „magasinier“ (47), also als Kontorist ausgibt, bringt sein Geschäft mit den einheimischen Frauen in beträchtliche Nähe zu jenem asymmetrischen Warenhandel, wie er die koloniale Ökonomie auszeichnet. Es geht hier allerdings nicht allein um die Ausbeutung des Anderen, sondern auch, wie Albes zurecht bemerkt hat, um die Schaffung einer irreversiblen Dependenzstruktur: „Als Zuhälter schlüpft [...] Raymond in die Rolle des Unternehmers und degradiert die prinzipiell noch relativ frei über ihre Arbeitskraft verfügende Prostituierte zur völlig abhängigen und ausgelieferten Lohnarbeiterin.“ 37 Dieses Verhältnis von Ausbeutung und Abhängigkeit hat seine außenpragmatische Entsprechung in der von Pierre Bourdieu beschriebenen Situation der algerischen Bauern, die im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft ihrer traditionellen Existenzform beraubt sind und entweder zu sozial entwurzelten Billiglohnarbeitern der europäischen Agrarkonzerne oder zu Industriearbeitern in den Ballungszentren werden. 38 Die Tatsache, daß der Bruder der Mauresque „en bleu de chauffe“ (86) gekleidet ist und damit ganz offenbar dem Stadtproletariat angehört, unterstreicht diesen Aspekt. Verkörpert der magasinier Sinthès ein wesentliches Moment kolonialer Herrschaftspraxis, so kann man das Verhältnis von Salamano zu seinem Hund als Schwundstufe, aber auch als Kommentar zu dieser Struktur lesen. Meursaults zweiter Etagennachbar, in dessen Namen die sale main des Kolonialherren aufscheint, beschimpft seinen Spaniel auf den täglichen Spaziergängen bezeichnenderweise stets mit „Salaud! Charogne! “ (47). Diese bereits onomastische Abhängigkeit von Herr (sale main) und Hund (salaud) kommt in der von dem Hund auf den Herrn übergegangenen Hautkrankheit, der Räude, noch deutlicher zum Ausdruck, und als der Spaniel eines Tages verschwunden ist, bricht für Salamano eine Welt zusammen. Wie sicher er sich seiner (vermeintlichen) Herrschaft gefühlt hatte, wird offenkundig, wenn er Meursault gegenüber einräumt: „Mais je n’aurais jamais cru que cette charagone pourrait partir comme ça.“ (64) Daß Sinthès dieser Ungläubigkeitsbekundung ebenfalls beiwohnt, scheint mir dabei alles andere als zufällig. Ebensowenig, daß es bei der Begegnung von Sinthès und Salamano zu einer (ironischen) Adressatenvertauschung kommt: Quand Raymond lui [sc. Salamano] a demandé ce qu’il avait, il n’a pas répondu tout de suite. J’ai vaguement entendu qu’il murmurait: ‘Salaud, charogne’, et il continuait à s’agiter. (63) Die sich damit auftuende Parallele zwischen Hunde- und Hurenhalter wird umso offensichtlicher, wenn man bedenkt, daß Sinthès seinerseits mit einer Situation der 170 Abkehr konfrontiert ist - einer Abkehr, die er als „tromperie“ (50) auffaßt und die darin besteht, daß sich die Mauresque der in sie getätigten Investition unwert erweist und sich weigert zu arbeiten bzw. für Sinthès zu arbeiten: „Je lui ait dit que tout ce qu’elle voulait, c’était s’amuser avec sa chose.“ (51) Die damit verbundene Emanzipationsbewegung bezeichnet Sinthès in der Folge mit dem Verb manquer, das ja sowohl auf die Verfehlung zielen als auch einen Mangel beschreiben kann: „Tu m’as manqué, tu m’as manqué. Je vais t’apprendre à me manquer.“ (59) In der Verfehlung der Mauresque scheint also bereits jener Mangel auf, den Salamano zu erleiden hat. Dementsprechend hart und exemplarisch soll die Bestrafung der Abtrünnigen auch ausfallen: Après quand elle reviendrait, il coucherait avec elle et ‘juste au moment de finir’ il lui cracherait à la figure et il la mettrait dehors. (53) Nun kann man die Doppeldeutigkeit des Wortes manquer, wie dies Robert Silhol getan hat, in Anlehnung an Lacan ausdeuten und auf den L’Etranger rahmenden Mangel der Mutter beziehen. Die Bereitschaft Meursaults, seinem Etagennachbarn bei der Umsetzung des Racheplans behilflich zu sein, hätte ihre Ursache dann in einem verdrängten Haß auf die schweigsame, also immer schon ‘fehlende’ Mutter. 39 Der Mord an dem ‘Araber’ wäre schließlich das Resultat einer Identifikation mit dem phantasmatischem „père idéal et fort“, die es Meursault/ Camus erlaube, seine „mère mal-nourritrice et castratrice“ symbolisch zu töten. 40 Ein solche Lektüre ist ein Stück weit durchaus plausibel, zumal der im kolonialen Export/ Import- Handel beschäftigte Meursault seinerseits eine Art magasinier und damit in gewisser Weise auch ein Doppelgänger von Sinthès ist. Hinzu kommt, daß Meursault, wie Guido Rings zurecht bemerkt hat, einem „patron“ untersteht, der ausschließlich an seiner Arbeitskraft interessiert ist, 41 Sinthès indes durch die Ausbeutung seiner „maîtresse“ selbst ein patron wird und damit in symbolischer Hinsicht einen starken Vater darstellt. Gegen eine solche Identifikation spricht dennoch dreierlei: Meursaults Beziehung zu Marie, seine Weigerung, mit Sinthès die Demütigung der Mauresque im Bordell zu feiern, und schließlich seine Obsession für das Händewaschen, die sich nicht nur in Beziehung zu der Schmutz-Isotopie (sale main, salaud, sale Paris) setzen läßt, sondern auch deutlich genug auf Matthaeus 27.24 verweist: Quand Pilate vit qu’il n’arrivait à rien [...], il prit de l’eau, se lava les mains devant la foule et dit: / - Je ne suis pas responsable de la mort de cet homme! C’est votre affaire! 42 Meursault sagt über sich zu Beginn des III. Kapitels: Avant de quitter le bureau pour aller déjeuner, je me suis lavé les mains. A midi, j’aime bien ce moment. Le soir, j’y trouve moins de plaisir parce que la serviette roulante qu’on utilise est tout à fait humide: elle a servi toute la journée. J’en a fait la remarque un jour à mon patron. Il m’a répondu qu’il trouvait cela regrettable, mais c’était tout de même un détail sans importance. (43sq.) 171 Meursault reinigt sich die Hände also immer dann, wenn er das Büro verläßt, und der letzte Satz macht deutlich, daß die Unmöglichkeit, dies korrekt zu tun, für ihn keineswegs ein „détail sans importance“ darstellt. Ist man gewillt, die Handwaschung im Sinne von Matth. 27.24 als symbolische Reinigung eines Statthalters von seiner (Mit-)Schuld zu lesen, so ergäbe sich für die Badeszenen mit Marie wohl ein analoger Befund - und das umso mehr, als ja die Tage am Strand deutlich antinomisch zur Arbeitswelt und dem Alltag im Mietshaus stehen. Nichtsdestoweniger macht sich Meursault die Hände schmutzig, wenn er jenen Brief niederschreibt, mit dem Sinthès die Mauresque zu sich lockt, um sie zu bestrafen. Gleiches ließe sich für den Mord an dem „type de Raymond“ (92) sagen, der ja in gewisser Weise in einer Handlangerschaft besteht. Es ist daher auch symptomatisch, daß die zu Anfang antinomischen Bereiche Strand und Mietshaus durch die Verbindung zu Sinthès dekonstruiert werden und der gemeinsame Strandausflug zu den Massons nun seinerseits im Zeichen der kolonialen Herr/ Knecht-Struktur steht. Letzteres wird noch durch Maries Reaktion auf die erste Auseinandersetzung mit den ‘Arabern’ unterstrichen. Die Tiefgebräunte wird nämlich schlagartig blaß. Dieses „[e]lle était très pâle“ (88) ist eine unmögliche und damit bewußt zeichenhafte Reaktion, denn Marie verliert ihre Farbe genau in dem Moment, wo die tatsächliche Kolonialsituation in den Raum der Unschuld einbricht. Jetzt hat sie jene „peau blanche“ (70), die sie zweifelsfrei als Französin und Angehörige der Kolonialmacht ausweist. Nun könnte man hieraus folgern, daß Meuraults ‘Sündenfall’ in der Abfassung des Briefs bestehe und er eben deshalb seines littoralen Paradieses verlustig gehe. Das wäre aber nur die halbe Wahrheit, denn der Strand steht, wie Bourdieu bemerkt hat, immer schon im Zeichen der Kolonialsituation: Le ‘Pied-Noir’ se définit [par] [...] le culte du corps, c’est à dire de la jouissance, de la force et de la beauté physique, culte dont le temple est la plage.43 Die von Marie und Meursault am Meer erfahrene Annäherung an die algerische Natur erweist sich damit von vornherein als illusionär. Das erscheint mir umso wichtiger, als die Ausflüge ja zunächst in deutlicher Antinomie zur Alltagswelt stehen und die daraus entstehende körperliche jouissance Meursaults ansonsten bestehende Indifferenz aufzuheben in der Lage ist. Diese sich nicht zuletzt in freier Sexualität niederschlagende jouissance hat auf der Seite der Alltagswelt ihr Gegenstück im Weingenuß, für den Meursault von sich aus zwar nicht empfänglich ist, zu dem er jedoch in zwei Schlüsselmomenten des Romans durch Dritte verleitet wird. Hierzu gilt es sich zweierlei in Erinnerung zu rufen: Zum einen ist der Wein ein Hauptexportartikel des kolonialen Algerien und steht damit semantisch auf Seiten des pied-noir. 44 Zum anderen rät der Koran vom Weingenuß ab, und das vor allem wegen der dadurch hervorgetriebenen destruktiven Affekte. So heißt es etwa in Sure 5,91: „Der Satan will ja durch Wein und Glücksspiel Feindschaft und Haß zwischen euch erregen [...].“ 45 Dieser ursprünglich nur auf die Gläubigen - also die Muslime - bezogene Satz gewinnt für L’Etranger beträchtlich an Relevanz, 172 wenn man bedenkt, daß Meursault während der Abfassung des Briefes an die Mauresque und bei den Massons exzessiv trinkt. Der Brief, dessen Zweck ja die endgültige Demütigung der Mauresque ist, ist nicht nur das Produkt eines (kolonialspezifischen) Hasses, er fördert auch jene Feindschaft, die sich in der Strandszene am Ende des ersten Romanteils gewaltsam entlädt. So in Anschlag gebracht, ergäben sich zwei wiederum antinomische Isotopieketten: hier jouissance, freie Sexualität und Ganzheitserfahrung, dort Rausch, sexuelle Unterwerfung und ethnische Feindschaft; Sinthès wäre dann der Satan des Korans. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die vermeintliche Antinomien aber als die zwei Seiten einer Medaille, und man könnte wohl mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß die illusorische jouissance, wie sie Meursault mit Marie erfährt, nur um den Preis einer Verdrängung des Anderen - und damit der Kolonialsituation überhaupt - zu haben ist. Durch das Einwirken von Sinthès beginnt das Verdrängte langsam wiederzukehren, was zur Folge hat, daß sich Meursault, der ja den weißen Burgunder im Namen trägt, unweigerlich der Position des pied-noir annähert. Diese Bewegung gipfelt in der finalen Strandszene des ersten Teils, in der der trunkene Meursault dem „type de Raymond“ gegenüber steht. Jetzt ist der Strand nicht mehr wie zuvor ein locus amoenus, sondern ein locus horribilis: Die vitalisierende Sonne hat sich in eine apokalyptische Feuerglut, das zuvor so erfrischende Meer zu einem „océan de métal bouillant“ (93) verwandelt. Wie in „A Madman’s Diary“ zerbricht die Oberfläche illusionärer Ganzheit zugunsten einer „terrifying objective real world“, die sich unschwer als der ‘andere Schauplatz’ des Psychischen zu erkennen gibt. Dieser ‘andere Schauplatz’ kennt nur noch zwei Koordinaten: die „source fraîche derrière le rocher“ (92) und den Blick des Anderen: Je devinais son regard par instants, entre ses paupières mi-closes. Mais le plus souvent, son image dansait devant mes yeux, dans l’air enflammé. [...] A l’horizon un petit vapeur est passé et j’en ai deviné la tache noire au bord de mon regard, parce que je n’avais pas cessé de regarder l’Arabe. [...] J’ai fait quelques pas vers la source. L’Arabe n’a pas bougé. [...] Peut-être à cause des ombres sur son visage, il avait l’air de rire. (93) Sicherlich, man kann das alles sensu litterali lesen. Die übersteigerte Sinneswahrnehmung und der Wunsch, an die Quelle zu gelangen, wären dann dem übermäßigen Weingenuß und der Hitze zuzuschlagen, die darauf folgenden fünf Schüsse auf den ‘Araber’ dem Absurden. Wenn ich dennoch für eine allegorische Lektüre plädiere, so einerseits aufgrund der Funktion des Weins in der Ökonomie des Texts, anderseits aufgrund der Bedeutung des zurückgeworfenen Blicks in der kolonialen Kommunikationssituation. Steht der Wein auf der Seite des französischen Selbst und der asymmetrischen Abgrenzung vom Anderen, so setzt der zurückgeworfene Blick Bhabha zufolge einen Prozeß in Gang, by which the look of surveillance returns as the displacing gaze of the disciplined, where the observer becomes the observed and ‘partial’ representation rearticulates the whole notion of identity and alienates it from essence.46 173 Der Blick des colonisateur, der ansonsten den colonisé im Stereotyp arretiert und an seinen Platz bannt, wird hier durchkreuzt von einem Blick, der das eurozentrische Subjekt in seiner narzißtischen jouissance trifft und es seinem spekularen Selbst entfremdet. Der solchermaßen Angeblickte erfährt sich als déplacé - und das einmal hinsichtlich seines Ortes, einmal hinsichtlich einer essentialistisch gedachten Identität. Meursaults Schritt auf die Quelle zu läßt sich in dieser Hinsicht als ein Versuch der Rückgewinnung lesen: Je voyais du loin la petite masse sombre du rocher entourée d’un halo aveuglant par la lumière et la poussière de la mer. (92) Der Begriff des „halo“, der ja sowohl die Aureole als auch den Heiligenschein meinen kann, gibt der Quelle einen religiösen Beigeschmack, der sich noch deutlich verstärkt, sobald Meursault einen Schritt auf die Quelle zu tut und der ‘Araber’ sein Messer zieht. Zunächst noch ein gewöhnlicher „couteau“, verlängert sich das Messer alsbald in eine „longue lame étincelante“, bis es sich schließlich unter den Zymbelschlägen der Sonne zu einem riesigen „glaive éclatant“ auswächst (94). In welche Richtung diese paranoide Rekonstruktion der Wirklichkeit weist, mag ein Blick 1. Mose 3.23sq. belegen: Le Seigneur Dieu renvoya donc l’homme du jardin d’Eden [...]. Puis, après l’en avoir expulsé, le Seigneur plaça des chérubins en sentinelle devant le jardin d’Eden. Ceuxci, armés de l’épée flamboyante et tourbillonnante, devaient garder l’accès de l’arbre de la vie. Im „displacing gaze“ des Anderen kollabiert die Paradiessemantik der Badeszenen. Blick und Feuerschwert sind Medien einer Ausgrenzung, der Meursault nur noch die Vernichtung des Anderen entgegensetzen kann. Der Schuß ist dabei Äquivalent des Blicks: Er zerstört das (vermeintlich) intakte Selbst des Anderen. Zugleich ist der tödliche Schuß aber schwächer als der ‘entortende’ Blick, denn Meursault gewinnt den Zugang zum Paradies und damit zu einem unverbrüchlichen Selbst nicht mehr zurück: J’ai compris que j’avais détruit l’équilibre du jour, le silence exceptionnel d’une plage où j’avais été heureux. Alors j’ai tiré encore quatre fois sur un corps inerte où les balles s’enfonçaient sans qu’il y parût. Et c’était comme quatre coups brefs que je frappais sur la porte du malheur. (95) Es ist bezeichnend, daß die Kugeln hier gar nicht in den Körper einzudringen scheinen. Der Körper ist inert - und das nicht etwa, weil er bereits tot ist. In der Wahrnehmung Meursaults verkörpert er die undurchdringliche „porte du malheur“, die sich nun endgültig vor jener illusorischen „plage où j’étais heureux“ geschlossen hat. Die vier Schüsse sind daher auch alles andere als absurd: Sie sind vielmehr das Produkt einer Aggression, die deswegen überschüssig geworden ist, weil sie nicht zum Ziel führen kann. So bleibt der tote Körper intakt, während das Selbst des Mörders endgültig in die Brüche geht. Nur vor diesem Hintergrund, so scheint mir, läßt sich der zweite Romanteil hinreichend beleuchten. Meursaults völlige Indifferenz seiner (durchaus möglichen) 174 Rettung gegenüber ist das Resultat einer „Weltkatastrophe“ im Sinne Freuds - also des Zusammenbruchs der für Meursault konstitutiven Welt, in dessen Folge er „den Personen seiner Umgebung und der Außenwelt überhaupt die Libidobesetzungen“ entzieht. 47 Die Wiederkehr der verdrängten Kolonialsituation bewirkt also nicht nur eine Wiederholung der gewaltsamen Urszene, sondern zugleich die Abkehr von der nunmehr unheimlich gewordenen Heimat. 48 Hierin liegt meines Erachtens die spezifisch algerien-französische Dimension von L’Etranger, wird doch so aus dem anfänglich durch Meursault und Sinthès verkörperten, jedoch zusehends entropischen Entweder/ Oder ein radikales Weder/ Noch. Dies scheint mir um so pertinenter, als ja Meursault gerade in diesem Weder/ Noch zu einem neuen Selbst findet, das nun in klarem Antagonismus zu Frankreich und zur symbolischen Ordnung der Kolonie steht. Beispielhaft hierfür ist die Befragung durch den Untersuchungsrichter, die das nachgerade idealtypische Beispiel einer Interpellation im Sinne Althussers darstellt. Es geht daher auch nur vordergründig um die Reue Meursaults. Der Mord an dem ‘Araber’ spielt hier wie auch während des Gerichtsverfahrens eine untergeordnete Rolle. Was vielmehr zur Debatte steht, ist Meursaults freiwilliges assujettissement unter das christliche Sujet Absolu - eine Unterwerfung also, die sowohl in einer Anerkennung der christlichen Gemeinschaft seitens Meursaults bestünde als auch die Anerkennung Meursaults durch diese Gemeinschaft mit sich brächte. 49 Daß dabei noch etwas anderes auf dem Spiel steht als Meursaults individuelles Seelenheil, wird an der „façon déraisonnable“ deutlich, mit der der Untersuchungsrichters auf Meursaults dezidierten Atheismus reagiert: Il [sc. le juge d’instruction] m’a dit que c’était impossible, que tous les hommes croyaient en Dieu, même ceux qui se détournaient de son visage. C’était sa conviction et, s’il devait jamais en douter, sa vie n’aurait plus de sens. „Voulez-vous, s’est-il exclamé, que ma vie n’ait pas de sens? “ A mon avis, cela ne me regardait pas et je le lui ai dit. Mais à travers la table, il avançait déjà le Christ sous mes yeux et s’écriait d’une façon déraisonnable: „Moi, je suis chrétien. Je demande pardon de tes fautes à celui la. Comment peux-tu ne pas croire qu’il a souffert pour toi? “ [...] Comme toujours, quand j’ai envie de me débarrasser de quelqu’un que j’écoute à peine, j’ai eu l’air d’approuver. A ma surprise, il a triomphé: „Tu vois, tu vois, disait-il. N’est-ce pas que tu crois et que tu vas te confier à lui? “ Evidemment, j’ai dit non une fois de plus. Il est retombé sur son fauteuil. (108sq.) Daß ein Jurist und Vertreter kolonialer Gerichtsbarkeit mit solcher Vehemenz auf die Existenz Gottes pocht, ist weit weniger „déraisonnable“ als es den Anschein hat. Die Anrufung durch den Untersuchungsrichter legt vielmehr jenes Legat politischer Theologie bloß, auf dem das Pädagogische aufruht und ohne das die Kolonialsituation ihre Legitimität verlöre. Es entspricht somit durchaus der Wahrheit, wenn der Untersuchungsrichter ausruft, daß sein Leben - und d.h. auch sein Berufsleben - ohne die Existenz Gottes sinnlos würde; denn ohne Gott - und das damit verbundene Missionsnarrativ - entbehrt die von ihm verkörperte koloniale Gewalt der Rechtfertigung. 175 Unter der oberflächlichen Konversionsthematik und der damit verbundenen Entsühnung individueller Gewalt verbirgt sich mithin die Frage nach der Berechtigung einer auf Gewalt gegründeten Rechtsordnung. Welch grundlegende Problematik darin aufscheint, mag ein kurzer Seitenblick auf eine zentrale Stelle von Walter Benjamins 1921 entstandener Schrift „Kritik der Gewalt“ beleuchten: Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich zwiefach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht aber die Gewalt nicht abdankt, sondern nun erst im strengen Sinne und zwar unmittelbar zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation von Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung.50 Benjamin versteht Gewalt und Recht nicht als oppositionelle Begriffe, sondern als konkomitant: Gewalt, indem sie Recht setzt, ist konstituierende Gewalt; Recht indem es von der Gewalt gesetzt wird, konstituierte Gewalt. Da jede Rechtssetzung im Zeichen der Macht steht, ist sie „unmittelbare Manifestation“ von Gewalt. Jede Rechtsanwendung, da sie dem Erhalt der einmal gesetzten Macht dient, ist mithin eine mittelbare Manifestation von Gewalt. Diese Konkomitanz von Gewalt und Recht bezeichnet Benjamin als das Prinzip der „mythischen Rechtsetzung“. Ihr entgegen stellt er die „göttliche Zwecksetzung“, die im Zeichen der Gerechtigkeit und nicht mehr im Zeichen der Macht steht. Damit ergeben sich klare Binäroppositionen: Auf der einen Seite Macht, mythische Gewalt und mythisches Recht, auf der anderen Gerechtigkeit, göttliche Gewalt und göttlicher Zweck. Ich will hier nun nicht die These vertreten, daß sich Camus direkt auf die „Kritik der Gewalt“ bezieht. Betrachtet man jedoch Meursaults Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsrichter vor dem Hintergrund der Benjaminschen Begrifflichkeiten, so zeigt sich, daß es dabei wesentlich um die gleichen Binäroppositionen geht. Der Untersuchungsrichter möchte sie verwischen und (mythisches) Recht in (göttliche) Gerechtigkeit überführt wissen, während Meursault durch seine Leugnung des theologischen Bedingungsgrundes die Antinomie von „mythischer Rechtsetzung“ und „göttlicher Zwecksetzung“ hervortreibt. Meursaults Position ist also gerade deswegen so skandalös, weil sie die „innige“ Verbindung kolonialen Rechts mit der von diesem verschleierten rechtsetzenden (Gründungs-)Gewalt aufzeigt und somit das durch den Untersuchungsrichter verkörperte Recht und die von ihm selbst begangene Gewalt ununterscheidbar werden läßt. In welchem Maß dies einen Angriff auf das Selbstverständnis der kolonialen Gesellschaft bedeutet, wird spätestens an der bizarren Anklagestrategie des Staatsanwalts deutlich, der Meursault ja zuvörderst wegen dessen sozialer Verstöße angreift und die „insensibilité“ der toten Mutter gegenüber auf schlechterdings aberwitzige Weise mit dem Straftatbestand des Vatermordes kurzschließt. Daß mit diesem metaphorischen „meurtre du père“ weniger die ödipale Neigung Meursaults 176 als vielmehr ein Attentat auf die patrie gemeint sein dürfte, zeigt sich, sobald der Staatsanwalt feststellt, „[qu’]un homme qui tuait moralement sa mère se retranchait de la société des hommes“. Daran, wie sehr dieser Rückzug aus der (Kolonial-)Gesellschaft den Keim der Revolte in sich birgt, läßt die conclusio des Arguments keinen Zweifel; denn „le premier [sc. tuer moralement sa mère] préparait les actes du second [sc. le meurtre symbolique du père], il les annonçait en quelque sorte et il les légitimait“ (156). Gegen diese gleichsam performative Legitimität des politischen Vatermordes bietet das Gericht nun alle Macht des Symbolischen auf, und Meursault muß schließlich vom Gerichtspräsidenten erfahren, „que j’aurais la tête tranchée sur une place publique au nom du peuple français“ (164). Meursault, den der Untersuchungsrichter bereits als „monsieur l’Antéchrist“ (111) bezeichnet hatte, wird auf diese Weise zu einem Staatsfeind, in dessen Vernichtung die konstituierte Gewalt ihr konstituierendes Moment - die nackte Gewalt - öffentlich zur Schau stellt und ihre Souveränität damit zugleich performativ bestätigt. So betrachtet erweist sich der zweite Romanteil als direkt antithetisch zum ersten: Während Meursault in diesem dem onomastische Programm seines Namens nicht entkommt und als meurtre saoul die konstituierende Gewalt der Kolonialordnung wiederholt, wendet er sich in jenem gegen die Legitimität der konstituierten Ordnung und gewinnt durch diese Abkehr ein neues Selbst als homme révolté. Inwiefern er damit die „Weltkatastrophe“ des Selbstverlusts durch die Identifikation mit der Rolle des Antichrist und absoluten Staatsfeinds kompensiert, zeigt sich ganz am Schluß des Romans, wo er in einem Anflug manischer Euphorie bekennt: [E]nfin, j’ai senti que j’avais été heureux, et que je l’étais encore. Pour que tout soit consommé [...], il me restait à souhaiter qu’il ait beaucoup de spectateurs le jour de mon exécution et qu’ils m’accueillent avec des cris de haine. (186) Die Bekundung „j’avais été heureux, et [...] je l’étais encore“ schlägt noch einmal den Bogen zurück zur „plage où j’étais heureux“ (95) und verbindet dieses auf immer verlorene Glück mit dem Moment der öffentlichen Guillotinierung, in dem sich der Haß des „peuple français“ offenbart. Die Fügung „pour que tout soit consommé“ sollte man dabei nicht überlesen, verweist sie doch unmißverständlich auf Joh. 19.29, wo es nach der Vulgata heißt: „Cum ergo accepisset Iesus acetum dixit / consummatum est / et inclinato capitem / tradidit spiritum.“ 51 In der sich an ihm vollstreckenden Gewalt, verwandelt sich der Antichrist Meursault damit in das Sühneopfer einer heillosen Ordnung. Will man mit Freud argumentieren, so läge hierin zweifellos die paranoide Rekonstruktion des Selbst, die Meursault in umso größere Nähe zum Senatspräsidenten Schreber rückt, als er wie dieser die psychische „Weltkatastrophe“ mit einer narzißtischen Welterlösungsgewißheit bewältigt. 52 Verbindet man jedoch dieses psychische Moment mit dem politischen zu einer allegorischen Lektüre, so wird man die in der paranoiden Rekonstruktion aufscheinende typologische Struktur des Romans nicht außer Acht lassen dürfen. 53 Der erste Teil des Romans wäre dann insofern Vorankündigung des zweiten, als Meursault im consummatum est 177 seines imaginären Kreuzesopfers den von ihm wiederholten Sündenfall sühnt und als Figura Christi zugleich für die Erlösung von der kolonialen Gewalt bürgt. Daß dies um einiges weniger paranoid ist, als es vielleicht zunächst den Anschein haben mag, liegt vor allem in der ‘frohen Botschaft’ Meursaults begründet, die ja in der radikalen Abkehr von der kolonialen Ordnung besteht. Diese Abkehr ist die Antithese zur Indifferenz und würde, sofern sie kollektive Nachfolge fände, in der Tat bewirken, „que tout soit consommé“. Aus dieser Warte betrachtet, scheint mir nun auch die von Ahmed Taleb Ibrahimi vorgebrachte Kritik, Camus schreibe in L’Etranger nur die Ideologie des pied-noir aus, kaum haltbar. 54 Damit soll freilich das grundlegende Problem einer solchermaßen passiven Revolution nicht unterschlagen werden; zumal Camus ja in noch weit stärkerem Maß als Benjamin in seiner „Kritik der Gewalt“ die Antwort schuldig bleibt, wie aus der radikalen Verweigerung die neue, gewaltlose Ordnung hervorgehen soll. Bei Benjamin, der messianisch denkt, bewirkt der (proletarische) Generalstreik idealiter einen absoluten Ausnahmezustand, in dem schließlich die göttliche Gewalt die konstitutive und sich immer neu konstituierende mythische Gewalt ‘entsetzt’. 55 Für Camus, der trotz seines vordergründigen Atheismus einer christlichen Dialektik verpflichtet ist, bleibt nur die Hoffnung auf die konstitutive Kraft des Opfers. Einer genuin marxistischen Dialektik, wie sie während des Unabhängigkeitskriegs von Frantz Fanon vertreten wird und der zufolge das algerische Volk die historische Trägerinstanz seiner Befreiung ist, 56 weicht Camus aus. III „Indépendance de l’Algérie, écrit Lakhdar, au couteau, sur les pupitres, sur les portes.“ (217) 57 Nedjma steht im Zeichen dieses Messers. Es handelt sich dabei um ein Tauschobjekt, das zwischen den Figuren zirkuliert und stets wiederkehrt. Doch anders als man es vielleicht erwarten möchte, schließt es keinen revolutionären Bund, sondern stellt vielmehr das Medium einer nach innen gerichteten Gewalt dar, die dem Muster des Wiederholungszwangs zu gehorchen scheint. Das Messer erweist sich damit als ein doppeldeutiges Zeichen, bei dem Semantik (Zeichenbedeutung) und Pragmatik (Zeichengebrauch) auseinandergehen: Wo es also Unabhängigkeit bedeuten will, beschreibt es soziale Desintegration. Daß es sich bei dem solchermaßen ‘gespaltenen’ Signifikanten um eine durchaus bedeutsame Spaltung handelt, möchte ich nun in meiner Lektüre des Romans plausibilisieren. Ich beginne hierzu mit dem dahingehend programmatischen ersten Romanteil, in dem das zweischneidige Messer seinen ersten Kursus durchläuft. Der Konflikt ist zunächst in einer nicht näher benannten Ortschaft in der Nähe von Bône angesiedelt und kreist um zwei Pole: Auf der einen Seite stehen vier junge Algerier - Lakhdar, Mourad, Mustapha und Rachid -, auf der anderen Seite die Algerienfranzosen M. Ernest und M. Ricard, die bei der Bevölkerung beide gleichermaßen verhaßt sind. M. Ernest ist der zu Gewaltmaßnahmen neigende Polier 178 einer Baustelle, M. Ricard ein reicher Fuhrunternehmer, der Suzy, die Tochter von M. Ernest, heiraten möchte. Die vier Algerier sind Fremde in der Ortschaft und auf der Baustelle von M. Ernest beschäftigt. Der Roman setzt nun damit ein, daß Lakhdar, der aufgrund von Handgreiflichkeiten gegenüber M. Ernest inhaftiert worden war, aus seiner Zelle ausgebrochen ist und bei seinen Freunden untertaucht. Das Messer - es gehört hier Mourad - wird für Wein eingetauscht. Darauf folgen fragmentarische Sequenzen, die zwischen den beiden Polen hin und her springen und diese miteinander in Beziehung setzen. So scheint etwa zwischen Mourad und Suzy eine gewisse physische Attraktion zu bestehen, doch aufgrund der ethnischen Differenz zeigt sich Suzy Mourad gegenüber abweisend und herablassend. Eine ähnliche Asymmetrie herrscht im Hause Ricard, wo der trunksüchtige Witwer seine algerische bonne beständig des Diebstahls verdächtigt und Leibesvisitationen unterzieht, die er nach Gutdünken mit einem Würgegriff kombiniert. Damit sind die Fronten abgesteckt, und wie Mourad bemerkt, scheint die einzige Kommunikation zwischen den beiden Welten in „la bagarre et le viol“ (17) zu bestehen. In welchem Maß dies in der Tat zutrifft, zeigt sich emblematisch auf dem Höhepunkt der Hochzeitsfeierlichkeiten von Suzy und M. Ricard, als die Gäste damit beginnen, das Haus des volltrunken im Ehebett darniederliegenden Fuhrunternehmers zu plündern, und die bonne ihnen beherzt entgegentritt: Au commencement de l’orgie, la bonne était dans la cuisine inondée de soleil; elle en sortit au crépuscule pour s’opposer au pillage. Aussitôt empoignée, elle fut traînée dans la chambre nuptiale. La femme du receveur des Postes prit la bouteille de rhum à moitié vide et l’appliqua aux lèvres de la servante. „Quelle blague! jubilait l’huissier. On lui fera rater son paradis avant sa mort.“ La bonne était raidie. La femme du receveur lui cogna les gencives avec le goulot, et le tout coula en une fois. Huit hommes tenaient solidement la bonne, sans parler des enfants. Enfin la femme du receveur jeta la bouteille vide. La bonne tomba, puis se redressa les yeux exorbités. Ce fut sa première et sa dernière imprécation: „Vous êtes des mécréants.“ (24) Die ‘Vergewaltigung’ der bonne besteht darin, daß man sie dazu zwingt, eine mit ihrem Glauben unvereinbare Substanz in sich aufzunehmen. Man könnte deshalb insofern von einem kataklystischen Sujet im Sinne Lotmans sprechen, als hier ja ein (spezifisch muslimischer) Innenraum - der Körper der bonne - durch den (französischen) Außenraum - die die bonne umringenden pieds-noirs - profaniert und symbolisch zerstört werden soll: 58 Nicht umsonst heißt es: „On lui fera rater son paradis [...]“ Daß der Zusatz „avant sa mort“ dabei nicht unbedingt auf weite zeitliche Ferne verweisen muß, zeigt sich sobald die bonne ihren Peinigern vorwirft, sie seien Ungläubige. Dann erwacht nämlich M. Ricard aus seinem Rausch und greift zu seiner Peitsche, mit der er so lange erbarmungslos auf die wehrlose Frau eindrischt, bis sich der hinzugetretene Mourad auf ihn stürzt und ihn durch nicht näher spezifizierte „coups“ (25) zu Tode bringt. Wie man sieht, hat sich der Konflikt von L’Etranger bei Kateb beträchtlich verschärft. Daß es sich dabei in der Tat um ein writing back im intertextuellen Sinne handelt, zeigt sich bereits an der Alkohol-Isotopie, für die der nach dem beliebten 179 französischen Anislikör benannte M. Ricard onomastisch bürgt. Die in L’Etranger an Sinthès und der Mauresque durchgespielte Demütigungsthematik kehrt ebenfalls wieder - diesmal allerdings als kollektiver Akt mit dezidiert antimuslimischer Stoßrichtung. Das Gefangenschaftsmotiv nimmt Kateb gleich zu Anfang auf. Wie sehr er dabei Camus’ Roman im Blick hat, zeigt sich spätestens an der Erzählung des Amezine, die sich unschwer als Replik auf Meursaults Prozeß lesen läßt: Amezines Vater hat einen colon getötet, weil dieser seine Viehherde konfiszierte und ihn damit seiner Lebensgrundlage beraubte. Um den Vater zu retten, beschäftigt Amezine zwei angesehene Rechtsanwälte, die den erfolgreichen Ausgang des Prozesses garantieren und lange Verteidigungsreden halten: Trois heures entières, surtout quand maître Gauby a commencé, les juges ont baissé la tête. Ils se sont parlés tout bas. J’ai cru qu’ils avouaient l’innocence de papa. A chaque démonstration, je mettais un billet de cent francs sur le pupitre des défenseurs. Les gendarmes voulaient m’évacuer. L’interprète traduisait fidèlement les nobles paroles arrachées à mon père. L’assistance ne cachait pas son émotion. Après la plaidoirie, les juges ont quitté la salle, d’un pas lourd. Je les trouvais angéliques, avec leurs robes, et leurs bonnets fripons. Maître Gauby souriait à mon père de telle manière qu’il était sauvé. Puis les juges sont revenus. Condamné à mort. (42) Camus beschreibt die Schlußphase des Prozesses auf nahezu identische Weise: Mon avocat est venu me rejoindre: il était très volubile et m’a parlé avec plus de confiance et de cordialité qu’il ne l’avait jamais fait. Il pensait que tout irait bien et que je m’en tirerais avec quelques années de prison ou de bagne. [...] Je n’ai pas regardé du côté de Marie. Je n’en ai pas eu le temps parce que le président m’a dit dans une forme bizarre que j’aurais la tête tranchée sur une place publique au nom du peuple français. (162fsq.) Hier wie dort folgt auf die finale Versicherung seitens des Verteidigers das Todesurteil. Der signifikante Unterschied besteht freilich darin, daß es sich bei Camus um ein in der Lebenswelt höchst unwahrscheinliches, bei Kateb indes um ein nur zu wahrscheinliches Todesurteil handelt. Durch die Inversion der Situation zeigt Kateb zudem die grundlegende Schutzlosigkeit des Kolonisierten auf. Das gilt umso mehr, als ja das Todesurteil den ersten Übergriff - die Beschlagnahme der Herde durch den colon - legitimiert und damit Gewalt in Recht übersetzt. Wenn sich nun im Gegenzug die Unterworfenen zur Wehr setzen, dann heißt das noch lange nicht, daß die Algerier eine gemeinsame Front gegen die Kolonialmacht bildeten. Zwar halten die vier Freunde zusammen und auch wird Lakhdar in einer Spelunke zunächst für seinen Angriff auf M. Ernest beglückwünscht, doch nachdem Mourad M. Ricard getötet hat und inhaftiert worden ist, wendet sich das Blatt: Aus Angst vor den französischen Autoritäten, die die „expulsion“ der „étrangers“ fordern (27), versagt die muslimische Bevölkerung des Ortes den drei Verbliebenen jede Unterstützung und zwingt sie zu einer Flucht, die zugleich die Auflösung der Gruppe bedeutet: Jeder der jungen Männer wird einen anderen Weg in die Nacht nehmen, und am Ende bleiben nur noch Schatten, „[qui] se dissipent sur la route.“ (31). 180 Die solchermaßen anschaulich gewordene Figur der Desintegration eignet nun aber nicht allein den drei aus der Ortschaft Vertriebenen. Sie hat ihr Gegenstück in der Ortschaft selbst, deren muslimischer Gemeinschaft unter der Maske der Normalität deutliche Züge sozialen Zerfalls aufweist. So betrachtet, muß es auch nicht wunder nehmen, daß die Jugendlichen, die ja diese ‘Normalität’ empfindlich stören, geächtet werden, denn durch sie wird die tatsächliche Desintegration offenkundig. 59 Hierauf verweist der lokale Don Juan, Le Barbu, während einer „dernière soirée fraternelle“ (27) mit den Jugendlichen: Le village était calme, trop calme avant votre arrivée; et naturellement tout retombe sur les étrangers. Les gens sont excédés. [...] Moi aussi, je suis gonflé de pressentiments; mes amis ici présents peuvent témoigner: tant qu’ils étaient inconnus l’un de l’autre, mes rivaux, ne me causaient aucun souci. A présent, il se sont découverts et ligués ensemble. S’ils s’étaient seulement ligués! Leurs épouses, auxquelles ils ont généreusement pardonné, redoublent d’amour pour eux! Ils me cernent, me suivent à tour de rôle, la nuit. Que l’un d’eux recouvre son honneur, et je suis perdu! (27) Was sich auf den ersten Blick wie die individuellen Furchtphantasien eines notorisch gewordenen Ehebrechers liest, hat bei näherem Hinsehen weitreichende kolonialspezifische Implikationen: Vor der Ankunft der Jugendlichen dauerte nämlich ein Status quo an, der nicht nur in der institutionalisierten Asymmetrie von colon und colonisé gründete, sondern auch in einer die einheimische Eheordnung zersetzenden Polyandrie bestand, deren Nutznießer Le Barbu war. Die solchermaßen aufscheinende Engführung von kolonialer Asymmetrie und desintegrierter Sozialstruktur ist dabei kein Zufall; sie weist vielmehr auf eine libidinöse Dynamik auf der Ebene der Kolonisierten hin, bei der Affektbindungen und Gemeinschaftlichkeit einander gegenläufig sind und die politisch-vertikale Enteignung durch die Kolonialmacht mit einer erotisch-horizontalen Enteignung des muslimischen Glaubensbruders einhergeht. Das Beispiel von Le Barbu, das man bei einer ersten Lektüre vielleicht überliest, ist dabei alles andere als ein Einzelfall. Es steht, wie sich zeigen wird, synekdochisch für die dem Roman eingeschriebene Begehrensstruktur und belegt nicht zuletzt eine erotische Kompensation politischer Ohnmacht. 60 Diese ist schließlich insofern komplizenhaft mit der Kolonialstruktur, als sie sich entdifferenzierend auf die autochthone Sozialstruktur auswirkt und eine mimetische Rivalität hervorbringt, die auf die Vernichtung des (autochthonen) Kontrahenten zielt. 61 Erst vor diesem für Nedjma so zentralen Hintergrund wird der weitere, ansonsten einigermaßen kryptische Verlauf des ersten Romanteils verständlich. Deshalb sollte man auch nicht überlesen, daß es Le Barbu ist, der am Ende der „dernière soirée fraternelle“ das - nach dem Mord an M. Ricard wiedergekehrte - Messer an Rachid weitergibt. Auf die Trennung der Jugendlichen folgt nun ein jäher Zeitschnitt. Drei Jahre sind vergangen. Der Ort ist Constantine, wo Rachid mittlerweile eine Haschischkneipe betreibt. Eines Nachts kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem algerienfranzösischen Autofahrer, in dessen Folge Rachid in einem Bordell von der Polizei aufgegriffen wird. Im Gefängnis, in das er 181 aufgrund seiner (lange zurückliegenden) Fahnenflucht verbracht wird, trifft er auf den zu zwanzig Jahren Haft verurteilten Mourad. Doch statt freudiger Begrüßung kommt es zwischen den beiden zu einer Messerstecherei, über deren Ursachen bei den Wärtern Unklarheit herrscht und die Mourad schwer verletzt zurückläßt. Dann bricht der erste Romanteil abrupt ab. Daß der Grund der gewaltsamen Auseinandersetzung in der signifikanten Nullstelle des ersten Romanteils, der titelgebenden Frauenfigur Nedjma, zu suchen ist, bleibt ausgespart. Der erste Romanteil ist Ouvertüre, Abbreviatur und Mise-en-abyme in einem. Er verbindet zentrale, motivisch ähnliche Handlungselemente zu einer Kette und übersetzt so paradigmatische Sequenzen in ein elliptisches Syntagma, das die gesamte Handlungszeit des Romans umfaßt. Der zweite Romanteil, mit der die amplificatio ihren Anfang nimmt, beginnt daher wiederum in der Ortschaft bei Bône. In den ersten drei Kapiteln wird die Vorgeschichte von Lakhdars Flucht durch den extradiegetischen Erzähler nachgetragen: Lakhdar wird von M. Ernest ungerechterweise geschlagen, schlägt zurück und landet mit Handschellen gefesselt im Gefängnis. Diese Handschellen schränken nun nicht nur Lakhdars Bewegungsfreiheit ein, sondern fungieren auch als ein dysphorisches Äquivalent zur Proustschen Madeleine, denn sie öffnen die Geschichte analeptisch auf eine ‘vergessene’ Vorvergangenheit: Il se laisse passer les menottes. „C’est pas la première fois“, se dit Lakdhar, comme s’il cherchait d’anciennes traces sur son poignet décharné. [...] „Ce n’est pas la première fois“, songe Lakhdar, en baissant les menottes vers son genou pour se gratter. „Ça fait un peu plus d’un an“ ... Lakhdar [...] est en prison avec une impression de déjà vécu; le dernier faisceau de lumière disparu au soleil couchant, fait sentir son absence sur la route devenue grise, étroite; Lakhdar y retrouve l’atmosphère perdue dans sa mémoire, de la première arrestation. „Le printemps était avancé, il y a un peu plus d’un an, mais c’était la même lumière; le jour même, le 8 mai, je suis parti à pied. [...] Mais je ne fus arrêté que le lendemain. Il y a un an. [...]“ (47sq.) Das hier gemeinte Ereignis ist das historischen Massaker im Département Constantine, das die französische Administration am 8. Mai 1945 in Sétif und Guelma unter der für ihre politische Unabhängigkeit demonstrierenden algerischen Zivilbevölkerung anrichten ließ. Auf die mit Maschinengewehren und Mörsergranaten durchgeführte Zerschlagung der Demonstrationen folgten Massenerschießungen und Folterungen, die, wie man heute weiß, etwa 30.000 Algerier das Leben kosteten. 62 Im Roman zählt Lakhdar zu den im Zuge der Repressalien Festgenommenen. Da er der nationalistischen Studentenschaft angehört, foltert man ihn, damit er die Namen der Rädelsführer preisgebe. Ob diese im Detail beschriebene Folter - Lakhdar wird gefesselt, ausgepeitscht und mit großen Mengen eiskalten Wassers vollgepumpt - zu ihrem Ziel führt, bleibt unklar. Liest man das bei Kateb dargestellte Massaker in Analogie zu L’Etranger, so stellt man wiederum eine Verschärfung kolonialer Gewalt fest, die nicht nur in einer Intensivierung (Maschinengewehre statt des Revolvers), sondern auch in einer Kollektivierung (Militäreinsatz statt Individualtat) besteht. Daß dies intratextuell 182 auch die ‘Vergewaltigung’ der bonne bezogen ist, wird daran deutlich, daß Lakhdar wie diese die „cravache“ (56) zu spüren bekommt und dazu gezwungen wird, eine ihm unzuträgliche Substanz (hier große Mengen kalten Wassers statt des Alkohols) in sich aufzunehmen. Letztere Parallele hat ihre raumsemantische Entsprechung in der kataklystischen Sujetfügung, bei der der Außenraum (das Militär) den Innenraum (die Demonstranten) nun in der Tat auslöscht. Rechtlich ist das Massaker ein Ausnahmezustand - also eine Situation hors la loi, die zugleich die souveräne Macht des Staatsapparats performativ unter Beweis stellt. Was dies näherhin bedeutet, hat Carl Schmitt in seiner berüchtigten Schrift Politische Theologie von 1922 ausgeführt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ heißt es dort gleich zu Anfang, denn er [sc. der Souverän] entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann.63 Anders als bei Schmitt, wo die souveräne Aufhebung der Rechtsnorm ihren Zweck idealiter darin hat, eine Situation zu schaffen, in der „Rechtssätze gelten können“ (19), bedeutet das Massaker für die betroffene Bevölkerungsgruppe jedoch einen Zustand absoluter Anomie. Eben diese Verknüpfung von Ausnahmezustand und Anomie hat Schmitt nicht sehen wollen. Giorgio Agamben hat indes gezeigt, daß das Massaker kein collateral damage der Souveränität, sondern deren Kehrseite ist. Agamben zufolge hat die Figur des Souveräns daher auch ihre spiegelbildliche Entsprechung in derjenigen des homo sacer - jenes tötbaren, gleichwohl nicht opferbaren Menschen, der seinerseits jenseits der Rechtsordnung steht und ihr doch zugehört, da er von ihr in Bann getan (abbandonato) ist. Der homo sacer - ein Begriff aus dem römischen Recht - ist heilig in malam partem: Er ist also verflucht, und das insofern, als seine Leben jeden rechtlichen Schutzes entkleidet und somit ‘nackt’ ist. 64 Vor diesem Hintergrund läßt sich für das Massaker von Sétif, so wie es im Roman dargestellt wird, nun zweierlei sagen: Einerseits produziert der Ausnahmezustand das nackte Leben, anderseits verweist dieses Produktion nackten Lebens zurück auf die grundlegenden Schutzlosigkeit, wie sie dem Kolonisierten immer schon eignet. Das Massaker stellt damit nicht mehr die Ausnahme von einer Norm dar, sondern der Normalfall der Kolonialsituation erweist sich seinerseits als ein auf Dauer gestellter Ausnahmezustand im Sinne Agambens. In dieser Umkehrung von Norm und Ausnahme, die sich in Ansätzen bereits in L’Etranger abgezeichnet hat, liegt meines Erachtens die politische Stoßrichtung von Nedjma. Das heißt nun aber nicht, daß der ‘Normalfall’ damit ohne weiteres zuhanden wäre. Dieser Normalfall - die Befreiung - bleibt im Gegenteil immer aufgeschoben, und die mythische Gewalt, in der sich setzende und gesetzte Gewalt stets überlagern, kann eben gerade nicht im Benjaminschen Sinne ‘entsetzt’ werden. Katebs Textstrategie ist daher auch nicht die einer messianischen Aufhebung, sondern die der Verschie- 183 bung, wie sie ja bereits durch die Zirkularität des Messers vorgezeichnet ist. Auf der Figurenebene zeigt sich diese Verschiebung zunächst an Lakhdar und Mustapha, die infolge der Ereignisse von Sétif ihres Studentenstatus - und damit jeder Zukunftsperspektive innerhalb der kolonialen Hierarchie - verlustig gehen. Auf die gesetzliche Entkleidung des Lebens folgt mithin eine soziale, und die solchermaßen ‘Gebannten’ (abbandonati) werden nach ihrer jeweiligen Haftentlassung beide nach Bône reisen, wo ihre Cousine Nedjma wohnt. Auf das kataklystische Sujet, das den Protagonisten den Außenraum des Politischen unzugänglich macht, folgt nun ein déplacement sowohl der Figuren als auch ihres Begehrens auf den Innenraum der Familie. Die Schilderung von Lakhdars Ankunft in Bône ist auf den 15. September 1945 datiert (65); sie erfolgt drei Monate nach derjenigen Mustaphas und ist zeitlich ziemlich genau zwischen dem Massaker von Sétif und den Ereignissen auf der Baustelle angesiedelt. Darüber, in welchem Geisteszustand sich der junge Mann befindet, läßt seine wiederholte Charakterisierung als „fou“ (65/ 66/ 69) kaum Zweifel. Diese psychische Desintegration spiegelt sich in seiner Bekleidung: Il portait une veste de smoking noir; sa chemise était dissimulée par un foulard de soie blanche. Il traînait un pantalon de coutil gris, en tuyau de poêle, un vrai sac. [...] Il pouvait ainsi cacher qu’il marchait sans chaussettes, et il louvoyait dans ses souliers, qu’il était obligé, pour ainsi dire, de remettre à chaque pas... (66) Die Beschreibung, die hier Mourad über seinen ihm zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Halbbruder abgibt, ist insofern aufschlußreich, als sie mit der „veste de smoking“ und dem „foulard“ zwei Kleidungsstücke aufruft, die einmal dem kolonialen, einmal dem autochthonen dress-code zugehörig sind. Daß man es dabei nicht etwa mit gelungener Hybridität, sondern vielmehr mit einer höchst prekären patch-work identity zu tun hat, zeigt sich schließlich an der Zick-Zack-Bewegung der nackten Füßen in den Schuhen sowie daran, daß Lakhdar gute drei Monate - „[jusqu’à] la fin de 1945“ (71) - in Bône herumvagabundieren wird, bevor er sich entschließen kann, seine Cousine in Beauséjour aufzusuchen. Der zweite Romanteil endet mit einer Anagnorisis zwischen Lakhdar und Mourad vor dem Hause Nedjmas. Doch sowohl die Verbrüderung als auch der Rückzug in die Familie sind trügerisch - was sich schon daran erkennen läßt, daß Lakhdar seinem Halbbruder mit aufgeklapptem Messer à cran ajusté (80) gegenübertritt. Die durch das Messer aufgrufene Zirkularität setzt sich daher auch fort: Was zeitlich direkt auf die Wiedererkennungsszene folgt, indes erst im sechsten und letzten Romanteil auserzählt wird, ist die ‘Rivalenzeit’, bei der alle vier Protagonisten um Nedjma kreisen - dies jedoch ohne ihrer je habhaft zu werden. Nedjma, das Zentrum allen Begehrens, ist das unmögliche Objekt schlechthin. Hierzu gilt es nun dreierlei zu bemerken: Zum einen sind die vier männlichen Protagonisten miteinander verwandt: Lakhdar und Mourad sind Halbbrüder und ihrerseits Cousins von Mustapha und Rachid; zum anderen sind die ersteren drei wiederum Cousins von Nedjma und der letztere - Rachid - höchstwahrscheinlich 184 sogar ihr Bruder. Alle fünf gehören darüber hinaus dem Stamm der Keblout an, der zwar von den Franzosen zerschlagen wurde, sich aber dennoch als eine - gleichwohl korrumpierte Blutlinie - fortsetzt. Keblout - so die Etymologie, die Si Mokhtar Rachid gegenüber nennt - bedeute „corde cassé“ (116), „mais aucun fil n’est jamais rompu“ (137). Nedjma, die ja schon aufgrund ihres Namens - Stern - auf Dispersion verweist, ist schließlich der Inbegriff dieser genealogischen Korruption. Gesichert weiß man nur, daß ihre Mutter eine ursprünglich in Marseille verheiratete französische Jüdin war; für die Rolle ihres Vaters kommen drei Männer in Frage: Si Ahmed, der Vater von Lakdhar und Mourad, der als erster die Französin entführt hat, der nominelle ‘Vater’ Rachids sowie Si Mokhtar, der aller Wahrscheinlichkeit seinen unmittelbaren Rivalen bei der Französin, Rachids ‘Vater’, getötet, hat, und mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit auch der wahre Vater von Rachid ist, da er mit dessen Mutter über länger Zeit eine Affäre unterhielt. 65 Wie man sieht, bedeutet das déplacement vom Politischen ins Private, das sich nach dem Massaker von Sétif abgezeichnet hat, in Wirklichkeit eine Übertragung auf ein metonymisches Objekt; denn die sternengleiche, unerreichbare und polyethnische Nedjma ist eine deutlich nationalallegorische Figur. Kateb formuliert das folgendermaßen: „[...] Nedjma, c’est l’âme de l’Algérie déchirée depuis ses origines, et ravagée par trop de passions exclusives. 66 Bei allem Respekt vor dieser autographen Deutung sollte man aber nicht unterschlagen, daß Nedjma, die ja niemals für sich selbst zu existieren scheint und stets durch fremde Rede charakterisiert wird, weit weniger als ‘Seele’ Algeriens, denn als Projektion - um nicht zu sagen: als das erotisches Phantasma - der vier Rivalen erscheint. Diese Verbindung von Allegorie, Phantasma und Begehren scheint mir nun insofern wichtig, als sich daran sehr genau jene libidinöse Investition ablesen läßt, wie sie meines Erachtens in Nedjma zum Austrag kommt. Man könnte daher auch sagen, daß Nedjma gerade deshalb unerreichbar bleiben muß, weil auf sie die unmögliche, durch die Kolonisation enteignete Nation übertragen wird. Nedjma, von der es anderenorts heißt, sie sei „un objet quasi religieux“ (175), wäre damit ein ‘verlorenes Objekt’ im Sinne Freuds, das seine ‘Realität’ gerade aus seinem phantasmatischen Charakter - dem psychischen Einschluß in die sie begehrenden Subjekte - schöpft. 67 Komplementiert - aber auch kompliziert - wird diese politische Erotik durch eine genealogische Dimension: nämlich die im Maghreb übliche Endogamie. Diese von Jacqueline Arnaud als vivre entre soi übersetzte Praxis erlaubt, ja begünstigt die Heirat zwischen Cousins. 68 Wenn nun aber Mustapha in seinem Tagebuch schreibt: „l’inceste est notre lien, notre principe de cohésion depuis l’exil du premier ancêtre“ (187), so scheint in dem Begriff des Inzests zugleich ein Exzeß des vivre entre soi auf, der eben nicht mehr kohäsiv sondern entdifferenzierend wirkt. Dieses entdifferenzierende Moment deutet sich bereits bei der Anagnorisis à cran ajusté an und wird umso deutlicher, wenn man hinzu nimmt, daß Nedjma nicht nur verheiratet, sondern ohne es zu wissen auch mit ihrem (Halb-)Bruder Kamel verheiratet ist. Dem solchermaßen potenzierten vivre entre soi eignet mithin eine 185 doppelt Dynamik: Zum einen scheint darin eine exzessive Fixierung auf das Eigene auf, bei der alle nur die Eine wollen, zum anderen entpuppt sich die Rivalenzeit so als eine nahezu identische Reprise jenes Kampfes um die französische Jüdin, die der Geburt Nedjmas vorausgegangen war. Wie sehr das einstmals kohäsive Prinzip des vivre entre soi damit immer schon im Zeichen jener kolonialen Desintegration steht, die ich oben am Beispiel von Le Barbu diskutiert habe, zeigt sich schließlich daran, daß die zentrale Vaterfigur des Romans, der chronische Ehebrecher Si Moktar, nicht nur die illegitime Zeugung von Nedjma, Rachid und Kamel zu verantworten hat, sondern auch der Inbegriff der mimetischen Rivalität ist, die der Begehrensstruktur von Nedjma ganz wesentlich zugrunde liegt. So betrachtet, erweist sich die ‘Rivalenzeit’ als das Produkt eines genealogischerotischen Wiederholungszwangs, der auf nationalallegorischer Ebene nur in die Sackgasse führen kann. Das heißt dann aber auch, daß sowohl die Assimilation französischer Kultur, wie sie ja von den Studenten Lakhdar und Mustapha zunächst angestrebt wurde, als auch die Wiedergewinnung des Eigenen gleichermaßen unmögliche Bewegungen sind und die an Lakhdars west-östlicher Bekleidung offenkundige Hybridität nicht ohne weiteres zu überwinden ist. Auf der Geschichtsebene wird der Weg in die Sackgasse dadurch abgebogen, daß die vier Protagonisten gleichsam mit dem ‘Realitätsprinzip’ konfrontiert werden und Arbeit suchen müssen. Dies führt sie in die Ortschaft in der Nähe von Bône, in der der Roman seinen Anfang genommen hat. Die dort vorgefundene ‘Realität’ verdeutlicht ihnen jedoch nur umso mehr ihre ausweglose in-betweenness: Für die autochthone Bevölkerung sind sie „étrangers“ (241), für die Franzosen nur billige Arbeitssklaven. Eine supplementäre Übertragung des Begehrens von Nedjma auf die französische Suzy, wie sie Mourad unternimmt, ist daher auch zum Scheitern verurteilt. Es ist folglich nur zu bezeichnend, daß Nedjma wortidentisch mit jenem Absatz schließt, mit dem bereits im ersten Romanteil die Episode in der Ortschaft ihr Ende fand: Was bleibt sind Schatten, „[qui] se dissipent sur la route.“ (244) Damit ist freilich das letzte Wort noch nicht gesprochen, denn im ersten Romanteil folgt ja auf die Trennung der Vertriebenen noch ein längerer Nachspann, dessen Protagonist Rachid ist und der in der Messerstecherei mit Mourad endet. Die Ellipse, durch die diese beiden Zeitabschnitte voneinander getrennt sind, ist Gegenstand der Teile zwei und drei. Erzählt werden sie größtenteils von Rachid selbst, Zuhörer sind einmal Mourad im Gefängnis (vor oder nach der Messerstecherei), einmal ein nicht näher charakterisierter öffentlicher Schreiber, der Rachid (offenbar vor seiner Inhaftierung) im fondouk aufsucht. Dieser wesentlich orale Charakter wird in seiner Wahrhaftigkeit noch dahingehend eingeschränkt, daß Rachid zu Mourad im Fieberdelirium zu dem Schreiber im Haschischrausch spricht. Zeitlich fügen sich die Episoden, deren Protagonisten Rachid und sein Vater Si Mokhtar sind, daher auch nicht immer ohne weiteres in die Chronologie des Romans ein. Läßt sich das erste Treffen von Nedjma und Rachid in einer Klinik in Constantine noch auf das Jahr 1942 datieren, so findet die abgebrochene Mekkareise von Rachid und Si Mokhtar schon in einem um einiges 186 unbestimmteren Zeitraum vor 1945 statt. Die Entführung Nedjmas nach Nadhor, dem heiligen Ort der Keblout, ist schließlich, wie Jacqueline Arnaud im Rückgriff auf Gérard Genette zurecht bemerkt, eine narrative Paralipse, denn sie stellt zwar ein zentrales Ereignis innerhalb des Romans dar, doch scheint sie auf sonderbare Weise inkompatibel mit dessen Zeitstruktur. Bedenkt man, daß Rachid von der Ortschaft bei Bône direkt nach Constantine geht und dort auch bis zu seiner Inhaftierung bleibt, so kann sie genaugenommen gar nicht stattfinden. 69 Sie füllt also keine Ellipse, sondern ist ‘beiseite gelassen’ („omis latéralement“) und damit in gewisser Hinsicht bereits jenseits der Chronologie. 70 Über dieses ‘Beiseite-Lassen’ haben sich die Geister erhitzt. Die zur Debatte stehende Frage, ob es sich bei den Ereignissen von Nadhor nun um eine im Gefängnis geträumte Episode 71 oder um eine tatsächliche, dem Gefängnisaufenthalt vorgängige Ausfahrt Rachids 72 handele, scheint mir jedoch ein Scheinproblem darzustellen und an der Funktion dieser Rückkehr vorbeizugehen. Hierzu sei vorausgeschickt, daß Si Mokhtar Rachid seinen Plan, Nedjma nach Nadhor zu entführen, erstmals während der Mekkareise kundtut - und das exakt zum Zeitpunkt ihres Abbruchs: „Nous irons vivre au Nadhor, elle et toi, mes deux enfants [...] Et le sang de Keblout retrouvera sa chaude, son intime épaisseur.“ (121). Dieses déplacement von den heiligen Stätten des Islam auf die mythische Heimstatt der Keblout sollte man ernst nehmen. Nadhor tritt so nämlich an die Stelle Mekkas und die Rückführung Nedjmas gewinnt eine sakrale Dimension, die umso deutlicher zutage tritt, als sie im Zeichen des Eheverbots steht: „Mais sache-le“, sagt Si Moktar zu Rachid, „jamais tu ne l’épouseras“ (122). Der bereits während der Rivalenzeit drohende Inzest wird damit demonstrativ ausgesetzt und in eine Art monastisches Miteinander überführt, das, wie Si Mokhtar näherhin ausführt, in den „ruines reconquises“ (ebd.) der Moschee von Nadhor stattfinden solle. Daß auf diese Weise auch die mimetische Rivalität zu ihrem Ende kommt, zeigt sich daran, daß Si Mokhtar, der ja deren Agent gewesen ist, nunmehr endlich seiner Vaterrolle - „le vieil arbre qui [...] vous couvrira de son ombre“ (121) - gerecht werden will. Nadhor - „le secret tribal“ - wird so zu einem Ort, der wie ein Treibhaus „fruits hors de saison“ (122) hervorbringen und mithin die mythische Wiedergeburt garantieren kann. Wenn nun die dergestalt anvisierte Regeneration dennoch scheitert, so liegt das vor allem daran, daß weder Si Mokhtar noch Rachid in Nadhor willkommen ist. Bezeichnend erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß Si Mokhtar von dem schwarzen Wächter des Hains einer illegitimen Beziehung mit Nedjma verdächtigt wird, Si Mokhtar also gerade jenes Entdifferenzierungsmoment zur Last gelegt wird, das er zu überwinden sucht. Die Ahndung der vermeintlichen Profanierung ist dementsprechend drastisch: Sie besteht in aus dem Hinterhalt abgefeuerten Schüssen, an denen Si Moktar wenig später stirbt. 73 Rachid, der in der Tat nach einer körperlichen Verbindung mit seiner Schwester strebt, wird ebenfalls der „félonie“ (138) geziehen, darf jedoch am Leben bleiben. Er muß allerdings Nedjma an die Asketen von Nadhor abtreten und das Stammesgebiet verlassen. Von Nedjma 187 heißt es schließlich wenig später: „C’est comme si elle n’était plus; [...] et ceux qui la connaissent ne la distinguent plus parmi les passantes; [...] elle est voilée de noir.“ (173). Die alte, von allen begehrte Nedjma ist nun unter ihrem schwarzen Schleier gleichsam aus der Welt genommen und damit vom Bereich des profanum in denjenigen des fanum, des Heiligen, überstellt. Die raumsemantische Funktion dieser Resakralisierung ist klar, denn so wird ja die „âme de l’Algérie déchirée depuis ses origines“ dem kolonialen (Außen-)Raum entzogen. Die verschleierte, nationalallegorische Nedjma ist daher auch das genaue Gegenteil des kolonialen homo sacer und als ein dem Fremden enteignetes Eigenes in gewisser Weise die Ausnahme vom kolonialen Ausnahmezustand. Die Fügung, „[c]’est comme si elle n’était plus“ sollte man dabei allerdings nicht übergehen, denn die asketische Enthybridisierung enthebt Nedjma gleichsam ihrer selbst. Man wird sich also fragen müssen, ob die Verschleierung tatsächlich eine (Re-)Sakralisierung in bonam partem ist oder ob die solchermaßen Arabisierte nicht vielmehr doch wiederum eine Verfluchte ist. Dies führt dann auch zu der Frage nach der zeitlichen Situierung der Nadhor- Episode und mithin zur Funktion der Paralipse zurück. Wenn die Paralipse nämlich eine Figur der Nachträglichkeit, d.h. der Supplementarität, darstellt, dann ist die von ihr getragene Bedeutungsdimension eine Art Exzeß, der nicht mehr mit dem Erzählten zu verrechnen ist und dennoch zu ihm gehört. Daß die Nadhor-Episode in der Tat einer solchen Überschüssigkeit geschuldet ist, zeigt sich meines Erachtens besonders deutlich am Ende des Romans, das ja, wie bereits erwähnt, in der Dispersionsbewegung der „ombres [qui] se dissipent sur la route“ (244) besteht. Dies gilt umso mehr, als die Resakralisierung diese Dispersionbewegung umkehrt und die sterngleiche Nedjma zentriert. Ich würde daher auch dafür plädieren, die Verschleierung Nedjmas als Antithese zu der anderweitigen Romanhandlung zu lesen und damit als eine Negation von Differenz sowie der damit verbundenen wesentlich destruktiven libidinösen Dynamik. Letzteres bedeutet freilich, daß die radikale Enthybridisierung kein Ziel an sich sein kann, sondern nur die notwenige Stufe einer - im Text freilich aufgeschobenen - dialektischen Überwindung. 74 IV Vergleicht man die Schließungsbewegungen von L’Etranger und Nedjma, so ergeben sich zwei Modelle abgebrochener Dialektik. Während bei Kateb jedoch das antithetische Moment an der autochthonen Nedjma zum Austrag kommt, verankert Camus die Negation in das algerienfranzösische Subjekt. Indem Camus den Kolonisierten auf diese Weise jede historische agency entzieht, redupliziert er zugleich unweigerlich die paternalistische Struktur der Kolonie. Die Figur der passiven Abkehr, die Meursault dabei verkörpert, ist darüber hinaus kein revolutionäres Moment im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr jene Art der ‘Empörung’, wie sie Karl Marx und Friedrich Engels in „Die deutsche Ideologie“ kritisiert haben: „Es ist 188 die alte Einbildung, daß der Staat von selbst zusammenfällt, sobald alle Mitglieder aus ihm heraustreten [...].“ 75 Nun ist es nicht die Aufgabe literarischer Texte, Revolutionen auszurufen. Dessen ungeachtet erscheint mir diese ‘Empörung’ symptomatisch für die Position von Camus, der als Algerienfranzose eben nicht soweit gehen will, die radikale Antithese zur Kolonialsituation zu denken. Bei Kateb läge die Sache ähnlich, sofern man die Verschleierung als einen Akt der Abkehr lesen möchte. Die deutlich nationalallegorische Dimension Nedjmas legt es allerdings nahe, die Verschleierung als Arabisierung des Landes und damit weniger als Abkehr denn als aktive Rückgewinnung zu lesen. Die Problematik einer solchen Rückgewinnung besteht nun freilich darin, daß es genau genommen nichts zurückzugewinnen gibt; denn die Kultur des Kolonisisierten ist, wie Fanon zurecht bemerkt hat, „figée dans le statut colonial“. 76 Das im orientalistischen Stereotyp arretierte Eigene ist also immer schon seiner selbst entfremdet. Nichtsdestoweniger stellt die ‘Rückkehr’ zu dieser Schwundkultur für Fanon den einzig gangbaren Weg dar - dies allerdings um den Preis einer grundlegenden Paradoxie: La culture encapsulée, végétative, depuis la domination étrangère est revalorisée. Elle n’est pas repensée, reprise, dynamisée de l’intérieur. Elle est clamée. Et cette revalorisation d’emblée, non structurée, verbale, recouvre des attitudes paradoxales. (51) Wie man sieht, besteht die Paradoxie gerade darin, daß ein Eigenes übernommen wird, das eben kein Eigenes mehr sein kann. Hierin liegt aber auch das dialektische Moment, sofern das solchermaßen Entfremdete eine aktive Aneignung erfährt: Le corps à corps de l’indigène avec sa culture [...] est condition et source de liberté. La fin logique de cette volonté de lutte est la libération totale du territoire national. [...] La culture spasmée et rigide de l’occupant, libérée s’ouvre enfin à la culture du peuple devenu réellement frère. Les deux cultures peuvent s’affronter, s’enrichir. (51sq.) Die Aneignung des entfremdeten Eigenen erweist sich damit nicht nur als notwendige Vorstufe der Befreiung, sondern auch als die Keimzelle einer hybriden Kultur. Diese Synthese verweigert Nedjma auf der Ebene des énoncé. Die verschleierte Nedjma ist, wie Mustapha in seinem carnet vermerkt „stérile et fatale“ (177). Die gleiche Sterilität läßt sich an Rachid feststellen: Im Gefängnis wiederholt er mit Mourad noch einmal das für den Roman konstitutive Moment mimetischer Rivalität, das nun umso sinnloser erscheinen muß, als Nedjma ja zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr zu haben ist. Wenn Rachid darüber hinaus von sich selbst sagt, „trois ans que je n’ai rien devant moi“ (31), so scheint in dieser dysphorischen Leere auch die Freudsche „Weltkatastrophe“ auf, in deren Folge Rachid sich dem dauerhaften Haschischrausch ergibt und „den Personen seiner Umgebung und der Außenwelt überhaupt die Libidobesetzungen“ entzieht. 77 Es wäre dennoch voreilig, die der Verschleierung Nedjmas analoge Selbsttilgung Rachids nur als Symptom der Abkehr zu lesen; denn der kif ist eben nicht bloß ein Betäubungsmittel, sondern auch das Stimulans poetischer Sprache. Letzteres zeigt sich spätestens, 189 wenn Rachid dem öffentlichen Schreiber seine Geschichte erzählt und fordert: „N’écris pas, écoute mon histoire.“ (179) Die damit verbundene Aufwertung einer Oralität im Zeichen des rauschhaften furor poeticus korrespondiert mit jener Äußerung Si Moktars bezüglich der Genealogie der Keblout: „L’histoire de notre tribu n’est écrite nulle part [...].“ (137) Daraus läßt sich nun folgern, daß das Wesentliche eben gerade nicht in einer Schrift festgehalten werden kann, wie sie den Chroniken eignet. „N’écris pas, écoute mon histoire“ (179) heißt daher auch, einer linearen (Ab-)Schrift zu mißtrauen, denn das, was es zu sagen gilt, liegt jenseits des Darstellbaren. In diesem Sinne hat man schließlich Rachids Sprachkritik - „Se taire ou dire l’indicible“ (179) - zu verstehen. Schweigen oder das Unsagbare sagen - das ist die Umkehrung von Wittgensteins berühmter Maxime „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“, mit der der Tractatus logicophilosophicus schließt. 78 Nur das Unsagbare ist es wert gesagt zu werden. Wie aber sagt man das Unsagbare? Eine Antwort hierauf wäre die Allegorie - allerdings eine Allegorie, die sich nicht mehr nach dem vierfachen Schriftsinn in immer schon Gewußtes übersetzten läßt, sondern eine solche, deren Bedeutung aufgeschoben bleiben muß. Daß Rachid, auch wenn man in ihm eine Art Dichter im Werden festmachen will, 79 nicht das Organon dergleichen Allegorie sein kann, versteht sich. Man könnte jedoch dafürhalten, daß der Text Nedjma selbst das Organon des Unaussprechlichen darstellt. Diese narrative Metalepse, durch die der Roman die Forderung der Figur erfüllt, 80 verlagert nun freilich die Frage nach der Bedeutung von der Ebene des énoncé auf die Ebene der énonciation und damit auf die Bewegung der signification. Letzteres führt mich dann auch zu dem Satz zurück, der den Ausgang meiner Überlegungen gebildet hat: „Indépendance de l’Algérie, écrit Lakhdar, au couteau, sur les pupitres, sur les portes.“ (217). Nach herkömmlichen Allegorieverständnis müßte man die darin verschriftlichte Unabhängigkeit als die textimmanente Allegorese des Romans verstehen 81 - und dies wohl im Sinne eines sensus anagogicus, der ja, wie Jameson zurecht dargelegt hat, immer auf die Bekräftigung einer kollektiven Sinndimension abzielt. 82 Nun hat sich aber gezeigt, daß es in Nedjma weniger um dieses énoncé geht als vielmehr um die dem Messer zugeordnete zirkuläre énonciation. Das Messer ist das Medium der Schrift, und wenn man in diesem Zusammenhang Marshall McLuhan bemühen darf, auch deren Botschaft. 83 Es zirkuliert also gerade deshalb zwischen den Figuren, weil seine Bedeutung aufgeschoben bleiben muß, und gerade weil seine Bedeutung aufgeschoben ist, verkehrt sich diese Bedeutung in ihr Gegenteil. Dies mag nun auf dem ersten Blick wie ein taschenspielerischer Syllogismus anmuten, doch denke ich, daß sich in eben diesem Umschlag die libidinöse Semiotik des Romans entfaltet. Aus zeichentheoretischer Warte läßt sich das dabei in Frage stehende Verhältnis von énoncé und énonciation als ein Aufschub des Signifikats begreifen, der eine disseminatorische Bewegung des Signifikanten in Gang setzt, die mit dem Signifikat nicht mehr zu verrechnen ist. Jacques Derrida hat dieses Phänomen 1968 mit dem Neologismus différance bezeichnet. Entschei- 190 dend ist für das Konzept dabei zunächst die Engführung von Aufschub (différer), Umschlag (différence) und Verlauf (différant). 84 Dieser semiotischen Minimaldefinition zieht nun Derrida zugleich eine psychoanalytische Dimension ein, wenn er gleich zu Anfang seiner Ausführungen von einem Moment der Verzeitlichung spricht, das einen „détour suspendant l’accomplissement ou remplissement du ‘désir’“ bedeute, und diesem Aufschub in der Zeit einen räumlichen Abstand zuordnet, der zugleich eine „persérverance dans la répétition“ (8) hervorrufe. Solchermaßen in Anschlag gebracht erweist sich die différance als ein Zeichen bzw ein Begehren, durch dessen Aufschub es zu einer differentiellen Bewegung in der Zeit kommt, die sich ihrerseits nach Maßgabe des Wiederholungszwanges artikuliert, und das deswegen, weil sie von dem Zeichen bzw. dem Begehrten räumlich getrennt bzw. von diesem semantisch unterschieden ist. Inwiefern Derrida mit dem Konzept der différance auf seine eigene in-betweenness rekurriert, kann ich hier nicht diskutieren. 85 Es dürfte jedoch deutlich geworden sein, das die libidinöse Semiotik von Nedjma eben diesem Konzept entspricht, wenn das aufgeschobene Signifikat/ Begehren (die Unabhängigkeit) in eine differentielle Bahnung des Signifikanten (das Messer) umschlägt und diese Bahnung ihrerseits das Gegenteil des begehrten Signifikats (die mimetische Rivalität) unaufhörlich wiederholt. Damit ist die différance aber zugleich die Vertextungsfigur des Romans; denn erst das aufgeschobene Signifikat - sei es die Unabhängigkeit, sei es Nedjma - setzt die Kette der Signifikation in Gang, durch die das Unsagbare zum Ausdruck kommt. In letzter Instanz bedeutet das freilich, daß die in der Lebenswirklichkeit aufgeschobene Unabhängigkeit auf einen literarischen Text verschoben wird und so die libidinöse Besetzung der Nation auf dem ‘anderen Schauplatz der Literatur’ supplementär zum Austrag gebracht wird. Das kann man nun als Abkehr lesen; ich würde jedoch meinen, daß es sich dabei um etwas anderes handelt. Meines Erachtens ist der ‘andere Schauplatz der Literatur’ der einzige Ort, an dem die Überwindung des von Fanon konstatieren Entfremdungsparadoxons überhaupt stattfinden kann. 86 Erst in dieser Literatur der différance, die im Medium des Anderen (der französischen Sprache) um das (das von der Fremdherrschaft enteignete) Eigene kreist, erst in dieser zutiefst hybriden énonciation, kann es dazu kommen, „[que] [l]es deux cultures peuvent s’affronter, s’enrichir“. 87 Eben diese Literatur bildet dann auch jenen Third Space of enunciation den Homi Bhabha von Derridas Schultern herab für die postcolonial studies ausgerufen hat. 88 Bei Kateb - und das macht vielleicht seinen größten Reiz aus - kann man miterleben, wie dieser ‘Dritte Raum’ performativ geöffnet wird, lange bevor er seinerseits zum Gemeinplatz geworden ist. 191 1 Frederic Jameson: „Third-World Literature in the Era of Multinational Capitalism“, in: Social Text, 15, 1986, 65-88. 2 Albrecht Koschorke hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, in welchem Maß die Entwicklung des neuzeitlichen Romans jener Ausdifferenzierung von einer zunächst noch höfischen - und immer auch öffentlich-politischen - ‘Erotik des Umgangs’ zu einem bürgerlichen Liebes- und Ehe-Ideal der Innerlichkeit geschuldet ist. Der empfindsam-psychologische Roman erweist sich damit als das Produkt einer Verschließung des Körpers gegen sein Außen und mithin als die Diskursivierung einer Abkehr vom Politischen und Ökonomischen. Cf. Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München, Fink, 1999, 15-35. 3 Jameson, 1986, op. cit., 69. 4 Der dem Jus Publicum Europaeum zugrunde liegende Nomos-Gedanke ist nicht unumstritten. In einer ersten Deutung übersetzt Schmitt das gr. Verb. nemein mit ‘nehmen’ und setzt so die Etablierung positiven Rechts (nomos im Sinne von ‘Ordnung’) in Kausalbeziehung zu der Landnahme (‘der Ortung’) der Griechen auf dem Peleponnes. Dieses territorial-juridische Kompositum gewinnt mit der „Raumrevolution“ der Frühen Neuzeit eine bislang ungeahnte Dimension, wenn das den nach innen hin antagonistischen europäischen Staaten gemeinsame Völkerrecht auf einer ‘Nahme’ des im Zuge der Entdeckungen in den Blick tretenden ‘freien’, d.h. nicht von Christen besiedelten Raums basiert. Diese kollektive Landnahme impliziert - so Schmitts zweite Ausdeutung des Begriffs nemein - zugleich ein ‘Teilen’ und ‘Verteilen’ der genommenen Gebiete. Die Verteilung des ‘freien’ Raums legitimiert das päpstliche Edikt Inter caetera divinae von 1494, in dem jene berühmte Linie festgelegt wird, die 100 Meilen westlich des Meridians der Azoren und des Cap Verde vom Nordzum Südpol verläuft und an der sich die, ebenfalls 1494 im Vertrag von Tordesillas ausgehandelten Rechtstitel Kastiliens und Portugals scheiden. Als dritte Bedeutung von nemein führt Schmitt schließlich das ‘Weiden’ und damit die ökonomische Ausbeutung des ‘leeren Raums’ an, wodurch sich für die europäische Weltordnung der anbrechenden Neuzeit der Dreischritt von „Nehmen-Teilen-Weiden“ ergibt. Cf. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum (1950), Berlin, Dunker & Humblot, 3 1988, 36-48, 53-111, 156-184. Schmitts Analyse der europäischen Kolonialgeschichte von ihren Ursprüngen in Griechenland bis zum 20. Jahrhundert ist vielfach auf Widerstand gestoßen und nicht zuletzt mit der Rolle des Staatsrechtlers im Dritten Reich zusammengebracht worden. Nichtsdestoweniger liegt die Stärke der Studie - wie auch immer man zu ihrem Verfasser stehen mag - in einer rechtsgeschichtlichen Perspektivierung des historischen Materials, die auch heute bedauerlicherweise kaum an Aktualität eingebüßt hat. „Bedenkenswert bleibt“ Jörg Dünne zufolge daher an Schmitts Nomos-Denken, daß es „gleichsam wider Willen auf die komplexen territorialen und machtpolitischen Implikationen aktueller Konflikte verweist, die sich, anders als viele (neo)liberale Globalisierungstheorien annehmen, mitnichten zu einer ent-territorialisierten globalen Weltordnung auflösen lassen.“ Cf. „Politisch-geographische Räume. Einleitung“, in: ders. u. Stephan Günzel (eds.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosopie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2006, 371-385. Hier 378. 5 Benedict Anderson: Imagined Communites. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 2. erw. Aufl., London u. New York, Verso, 1991. Zum Verhältnis von Buchdruck und Nationalbewußtsein cf. 37-46. Zum post-kolonialen Amerika ibid. 52-65. 6 Doris Sommer: „Love and the Country: An Allegorical Speculation“, in: dies., Foundational Fictions. The National Romances of Latin America, Berkeley u. a., University of California Press, 1991, 30-51. 192 7 Wie man weiß, hat Lacan das Konzept des ‘Spiegelstadiums’ zunächst an dem motorisch noch unausgereiften Kleinkind entwickelt, dessen durch die Abhängigkeit von der Mutter bedingte Selbstwahrnehmung er als „corps morcelé“ bezeichnet hat. Der Blick in den Spiegel auf ein visuell erfaßbares ganzes Selbst - das Spiegelbild - läßt nun an die Stelle der problematischen Selbstwahrnehmung ein Ich-Ideal treten, mit dem sich das Subjekt imaginär-narzißtisch identifizieren kann. Das ‘Spiegelstadium’ entfremdet damit das Subjekt dahingehend, daß es die Imago illusorischer Ganzheit für die Ganzheit selbst nimmt. Cf. „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“ (1949), in: Jacques Lacan, Ecrits, Paris, Seuil 1966, 93-100. 8 Jameson 1986, op. cit., 71, sowie Sigmund Freud, „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia“ (1911), in: Studienausgabe, Bd. VII, ed. Alexander Mitscherlich, Frankfurt/ M., Fischer, 1973, 133-204. Es sei darauf hingewiesen, daß Freud die Analogie zur Literatur selbst herstellt, wenn er im Nachtrag von 1911 feststellt: „Dieser kleine Nachtrag zur Analyse eines Paranoiden mag dartun, [...] daß die mythenbildenden Kräfte der Menschheit nicht erloschen sind, sondern heute noch in den Neurosen dieselben psychischen Produkte erzeugen wie in den ältesten Zeiten.“ (203) Sein wesentlich allegorisches Verständnis des Psychischen legt Freud bekanntermaßen am Traum dar, wo er von einem vermittels Metapher („Verdichtung“) und Metonymie („Verschiebung“) im „Trauminhalt“ verschlüsselten bzw. zensierten „Traumgedanken“ ausgeht. Cf. Traumdeutung (1900), in: Studienausgabe, op. cit., Bd. II, 305sqq. 9 „A Madman’s Diary“ funktioniert nach dem Prinzip des aufgefundenen Manuskripts, wobei dem hypodiegetischen Tagebuch eine Rahmenerzählung (die Überreichung des Manuskripts durch den Bruder des abwesenden Verfassers) vorausgeht, jedoch kein Text mehr folgt. 10 Cf. Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature phantastique, Paris, Seuil, 1970, 28-45. 11 Freilich funktioniert auch Lu Xuns Erzählung mutatis mutandis nach dem Prinzip der phantastischen Ambivalenz, wenn es gleich zu Anfang heißt: „This morning when I went out cautiously, Mr. Zhao had a strange look in his eyes, as if he were afraid of me, as if he wanted to murder me. There were seven or eight others who discussed me in a whisper. And they were afraid of my seeing them. So, indeed, were all the people I passed. The fiercest among them grinned at me; whereupon I shivered from head to foot, knowing that their preparations were complete.“ Diese Ambivalenz wird - zumindest innerhalb des intern fokalisierten hypodiegtischen Berichts - nicht aufgelöst. Wenn dieser jedoch mit dem deutlichen Appell „Perhaps there are still children who haven’t eaten men? Save the children...“ endet, dann tritt eben jene (national-)allegorische Komponente in den Vordergrund, die Todorov (1975, op. cit., 63sqq., zufolge nicht mehr mit dem Phantastischen zu verrechnen ist. Cf. Lu Xun: Selected Works, Bd. I, übers. v. Yang Xianyi u. Gladys Yang, Peking, Foreign Languages Press, 1956, 40 u. 51. 12 Cf. hierzu das Kapitel „DissemiNation: Time, Narrative and the Margins of Modern Nation“, in: The Location of Culture, London u. New York, Routledge, 1994, 139-170. 13 In diesem Sinne wird auch bei Lu Xun 1956, op. cit., 39, die ‘Gesundung’ des paranoiden Bruders beschrieben: „[M]y brother recovered some time ago and has gone elsewhere to take up an official post.“ Da nun der Erzähler den Bruder nicht zu Gesicht bekommt, bleibt freilich offen, ob dies den Tatsachen entspricht oder ob der nur vermeintlich paranoide Bruder in Wirklichkeit doch das Opfer seiner Familie geworden ist. 14 Cf. hierzu das Kapitel „Du prétendu complexe de dépendence du colonisé“, in: Peau noire, masques blancs, Paris, Seuil, 1952, 69-89. 193 15 Cf. hierzu Frantz Fanon: „Racisme et culture“, in Pour une révolution africaine. Ecrits politiques (1964), Paris, La Découverte, 2006, 37-52. 16 „J’appelle stratégie le calcul (ou la manipulation) des rapports de forces qui devient possible à partir du moment où un sujet de vouloir et de pouvoir [...] est isolable. Elle postule un lieu susceptible d’être circonscrit comme un propre [...], c’est-à-dire le lieu du pouvoir et du vouloir propres.“ Cf. Michel de Certeau: L’Invention du quotidien. I. Arts de faire (1980), ed. L. Giard, Paris, 1990, 59. 17 Louis Althusser: „Idéologie et appareils idéologiques d’état (notes pour une recherche)“, in: ders., Sur la réproduction, Paris, P.U.F., 1995, 269-314. Althusser veranschaulicht das Wesen der Interpellation zunächst an der Anrufung durch die Polizei („hé, vous, là-bas“), die das Individuum dazu zwingt, sich um 180 Grad zu drehen und über sich selbst im Sinne des Gesetzes Auskunft zu geben (305). Eine komplexere Form besteht in der Interpellation durch die christliche Religion, die eine freiwillige Unterwerfung unter das ideale christliche Sujet (le Sujet Absolu) voraussetzt, zugleich aber auch die Anerkennung (reconnaissance) als Christ und die Eingliederung in die Gemeinschaft mit sich bringt (307sqq.). Letzteres ist Althusser zufolge auch die wesentliche Funktion jedweder Ideologie. Unabdingbar ist hierzu das spekulare Moment der Identifikation: „Nous constatons que la structure de toute idéologie est spéculaire, c’est á dire en mirroir, et doublement spéculaire [car] le Sujet Absolu […] interpelle autour de lui des individus en sujets, dans une double relation spéculaire telle qu’elle assujettit les sujets en Sujet, tout en leur donnant, dans le Sujet où tout sujet peut contempler sa propre image […], la garantie [...] qu’à condition que les sujets reconnaissent ce qu’ils sont et se conduisent en conséquence, tout ira bien“ (310). 18 Žižek verweist darauf, daß es gerade diese Uneinholbarkeit ist, die den Erfolg der Interpellation garantiert, da sie dem Subjekt die Möglichkeit läßt, zur ideologischen Identifikation eine - wiederum imaginäre - Distanz einzunehmen: „[I]deological identification succeeds precisely inasmuch as I perceive myself as ‘a full human person’ who ‘cannot be reduced to a puppet, to an instrument of some ideological big Other’.“ Cf. The Ticklish Subject. The Absent Centre of Political Ontology, London, 1999, 259. Kurs. v. Verf. 19 Cf. Certeau 1990, op. cit., 60sq.: „[J]’appelle tactique l’action calculée que détermine l’absence d’un propre. Alors aucune délimitation de l’extériorité ne lui fournit la condition d’une autonomie. La tactique n’a pour lieu que celui de l’autre. Aussi doit-elle jouer avec le terrain qui lui est imposé tel que l’organise la loi d’une force étrangère.“ 20 Zum Begriff der Konterdiskursivität als einer ‘Ausbettung’ literarischer Texte aus ihren diskursiven Kontexten cf. Rainer Warning: „Poetische Konterdiskursivität: Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault“, in: ders., Die Phantasie der Realisten, München, 1999, 313-345. 21 Cf. hierzu das Kapitel „The Other Question: Stereotype, Discrimination and the Discourse of Colonialsm“, in: Bhabha 1994, op. cit., 85-93. Bhabha geht hier von der Freudschen Fetisch-These aus, wonach der Fetisch einen Mangel - den fehlenden Penis der Mutter - substituiert und deshalb libidinös besetzt ist, weil er damit das männliche Subjekt vor der Kastrationsangst - also der Furcht, so zu werden wie die Mutter - bewahrt. Vgl. Sigmund Freud, „Fetischismus“ (1927), in: Studienausgabe, op. cit., Bd. III, 379-388. Die Hautfarbe des Anderen ist Bhabha zufolge nun deshalb ein Fetisch, weil sie jenen Mangel an Substanz auf Seiten des Stereotyps substituiert, der die privilegierte Position des eurozentrische Subjekts bedroht. 194 22 Orientalism. Western Conceptions of the Orient (1978), London, Penguin, 1995. Hier bes. das Kapitel „Imaginative Geography and its Representations: Orientalizing the Oriental“, 49-110. 23 „Can the Subaltern Speak? “, in: Cary Nelson u. Lawrence Grossberg (eds.): Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana u. Chicago, University of Illinois Press, 1980, 271- 313. Zur epistemic violence s. näherhin 281sqq. 24 Cf. hierzu das Kapitel „Of Mimicry and Man: The Ambivalence of Colonial Discourse“, in: Bhabha, 1994, op. cit., 85-92. 25 In diesem Sinne, gleichwohl mit anderem Vorzeichen, argumentiert Alec G. Hargreaves, wenn er nach einer längeren Betrachtung der kolonialen Asymmetrie zu dem Schluß kommt, daß es gerade die Ethnizität des ‘Arabers’ war, die dazu beitrug, daß das Todesurteil von Camus und dem europäisches Publikum des Jahres 1942 als absurd empfunden werden konnte. Cf. „History and Ethnicity in the Reception of L’Etranger“, in: Adele King (ed.): Camus’s L’Etranger: Fifty Years on, New York, St. Martins Press, 1992, 101- 112. Hier 109. 26 So schreibt 1967 etwa der damalige Bildungsminister des unabhängigen Algerien, Ahmed Taleb Ibrahimi: „En tuant l’Arabe, Camus réalise de manière subconsciente le rêve du pied-noir qui aime l’Algérie mais ne peut concevoir cette Algérie que débarrassée des Algériens.“ De la décolonisation à la revolution culturelle (1962-1972), Algier, Société Nationale d’Edition et Diffusion, 1981, 198. 27 Der Begriff des writing back („...the Empire writes back to the Center...“) wurde ursprünglich von dem indischen Romancier Salman Rushdie geprägt. In das theoretische Arsenal der postcolonial studies eingegangen ist er durch die von Bill Ashcroft u. a. verfaßte Studie, The Empire Writes Back. Theory and Practice in post-colonial literatures, London u. New York, Routledge, 1989. 28 Cf. hierzu knapp Kristine Aurbakken: L’étoile d’araignée: une lecture de Nedjma de Kateb Yacine, Paris, Publisud, 1986, 49sq. 29 Cf. Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben (1995), übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2002, 18-22. 30 Obzwar selbst in Algerien gebürtig hat Derrida sein Konzept ursprünglich nicht in einem postkolonialen Kontext verortet. Brückenkopf zwischen Derrida und den postcolonial studies ist zweifellos Gaytari Spivac, die seinerzeit die englische Übersetzung von De la grammatologie besorgt hat. Das Werk Bhabhas steht schließlich unbestreitbar im Zeichen des französischen Philosophen. Cf. hierzu auch unten Anm. 85 31 Cf. hierzu überblicksweise Brian T. Fitch: L’Etranger d’Albert Camus. Un texte, ses lecteurs, ses lectures, Paris, Larousse, 1972, 78-89. 32 Cf. „Trauer und Melancholie“ (1917), in: Studienausgabe, op. cit., Bd. III, 193-212. Hier bes. 211sq. Eine Deutung in diese Richtung findet sich erstmals bei Arminda A. de Pichon-Rivière u. Willy Baranger, „Répression du deuil et intensification des mécanismes et des angoisses schizo-paranoïdes (notes su L’Etranger de Camus)“, in: Revue Française de Psychanalyse, 23, 1959, 409-420. 33 Aus diese Spannungsfeld ergibt sich dann auch eine Interpretation der Affektstruktur, wonach Marie, die ja schon durch ihren Namen auf die Muttergottes verweist, ein auf der Textebene weitgehend entsexualisiertes Liebesobjekt sein muß. Cf. Christine Margerrison: „The Dark Continent of Camus’s L’Etranger“, in: French Studies, 55, 1, 2001, 59-73. 34 Wolf-Dietrich Albes: Albert Camus und der Algerienkrieg. Die Auseinandersetzung der algerienfranzösischen Schriftsteller mit dem „directeur de conscience“ im Algerienkrieg (1954-1962), Tübingen, Niemeyer, 1990, 18-22. 195 35 Zum ‘künstlerischen Raum’ als einem sekundär modellbildenden System, das, topologisch-topographisch ausgerichtet, in disjunkte, semantisch oppositionell codierte Teilbereiche gegliedert ist cf. Die Struktur literarischer Texte (1970), übers. R.-D. Keil, München, Fink, 3 1989, 311-340. Hinsichtlich der tatsächlichen Raumordnung sei darauf hingewiesen, daß die littoralen Gebiete spätestens seit den 1880er Jahren von den großen französischen Weinkonzernen in Beschlag genommen waren und (die Städte eingeschlossen) etwa 80 % der europäischen Bevölkerung beherbergten. Cf. Pierre Bourdieu: Sociologie de l’Algérie (1961), Paris, PUF, 8 2006, 111. 36 Ich zitiere L’Etranger nach der gängigen Folio-Ausgabe, die im Satz der Gallimard-Ausgabe Paris 1942 entspricht. Hier 35. 37 Albes 1990, op. cit., 24. 38 Bourdieu 2006, op. cit., 118sqq. Eine weiterführende Darlegung findet sich in: ders. u. Abdelmalek Sayad, Le déracinement. La crise de l’agriculture traditionelle en Algérie, Paris, Minuit, 1964. 39 Gleich zu Anfang des Romans hebt Meursault auf diesen Aspekt der Mutter/ Sohn-Beziehung ab: „Quand elle était à la maison, maman passait son temps à me suivre des yeux en silence.“ (12) 40 Cf. Robert Silhol, „L’Etranger et le desir de l’Autre“, in: Henk Hillenaar u. Walter Schönau (eds.): Fathers and Mothers in Literature, Amsterdam u. Atlanta/ Ga., Rodopi, 1994, 199- 209. Hier 204, 205 u. 209. 41 Cf. „Der konditionierte Fremde. Selbst- und Fremdbetrachtungen in Camus’ L’Etranger“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 50, 4, 2000, 479-500. Hier 491. 42 Ich zitiere nach La Bible. Ancien et Nouveau Testament. Traduite de l’hébreu et du grec en français courant, Alliance Biblique Universelle, 1988. 43 Bourdieu 2006, op. cit., 114. 44 Cf. oben Anm. 35. 45 Der Koran, übers. v. Adel Theodor Khoudry u. Muhamed Salim Abdullah, Gütersloh, GTB, 1987. 46 Bhabha 1994, op. cit., 89. 47 Freud 1911, op. cit. 192. (Cf. Anm. 8) 48 Zu einer Deutung des Unheimlichen in diesem Sinne cf. Sigmund Freud, „Das Unheimliche“ (1919), in: Studienausgabe, op. cit, Bd. IV, 242-274. 49 Cf. hierzu oben Anm. 17. 50 „Kritik der Gewalt“, in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. II.1, ed. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1977, 179-203. Hier 197sq. 51 Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, ed. R. Gryson, Stuttgart, Deutsche Bibelgesellschaft, 4 1994. Kurs. v. Verf. 52 Studienausgabe, op. cit., Bd. VII, 191-196. 53 Zur Figuraltypologie als gemeinsames Moment von Bibelexegese und allegorischer Dichtung s. den auch heute noch grundliegenden Dante-Aufsatz von Erich Auerbach, „Figura“, in: ders., Neue Dantestudien, Istambul, 1944, Basimeri, 11-71. 54 Cf. hierzu oben Anm. 26. 55 Ich kann hier nur in aller Knappheit auf die Implikate des Benjaminschen Messianismus eingehen. Die Parallele zu den Paulinischen Briefen - und näherhin zum Römerbrief - hat erstmals Jacob Taubes diskutiert. Cf. Die Politische Theologie des Paulus (1993), München, Fink, 3 2003, 100-106. Gleiches gilt für die Nähe zu Carl Schmitt und der Denkfigur des Ausnahmezustandes, die Benjamin übrigens in einem enkomiastischen Brief an den Verfasser der Politischen Theologie deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Cf. Ad Carl 196 Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin, Merve, 1987, 27. Giorgio Agamben deutet nun den Benjaminischen ‘Ausnahmezustand’ dahingehend, daß in ihm rechtssetzende Gewalt und gesetzten Rechtsnormen in die Aporie geraten und folglich mythische und göttliche Gewalt in ihrer Manifestation nicht mehr klar zu scheiden sind. Cf. Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben (1995), übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2002, 75. Eben diese Aporie hat schließlich Jacques Derrida dazu veranlaßt, Benjamins „Kritik“ als eine Art gedankliche Präfiguration der ‘Endlösung’ zu deuten. Cf. „Post-Scriptum“, in: Force de Loi. Le „Fondement mystique“ de l’autorité, Paris, Galilée, 2005, 137-146. Hier 143sqq. 56 Diesen Aspekt wiederholt Fanon, der im Unabhängigkeitskrieg aktiv für den Front de Libération National arbeitet, immer wieder in seinen Artikeln in der Zeitung El Moudjahid. So etwa in dem am 16.4.1958 erschienen Artikel mit dem Titel „Décolonisation et indépendance“: „Le FLN ne vise pas à réaliser une décolonisation de l’Algérie ou un assouplissement des structures oppressives. Ce que le FLN réclame, c’est l’indépendance de l’Algérie. Une indépendance qui permette au peuple algérien de prendre totalement son destin en main. La révolution algérienne a introduit un scandale dans les déroulements des luttes de libération nationale. En général le colonialisme, au moment où l’histoire et la volonté national le nient, parvient à se maintenir comme vérité. [...] Le colonialisme français ne sera pas légitimé par le peuple algérien. [...] C’est pourquoi il n’est jamais question dans nos déclarations d’adaptation ou d’allégement, mais bien de restitution.“ Cf. Fanon 2006, op. cit., 116-123. Hier 118. 57 Nedjma wird durchweg zitiert nach der Ausgabe der Editions du Seuil 1956, die seitenidentisch in der Points-Ausgabe von 1996 wieder aufgelegt worden ist. 58 Zur kataklystischen Sujetfügung, bei der ein Außenraum einen Innenraum auslöscht vgl. Jurij M. Lotman, „Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibung“, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronberg, Scriptor, 1974, 338- 377. Hier 359. 59 Ich argumentiere hier eingedenk René Girards These, wonach eine bestimmte Person oder Gruppe nicht deshalb den Status des Sündenbocks bekommt, weil sie für die Entdifferenzierung der Gemeinschaft verantwortlich ist, sondern weil sie Züge aufweist, die auf die bereits bestehende Entdifferenzierung bezogen werden können. Cf. Le bouc émissaire, Paris, Grasset, 1985, 34sqq. 60 Hierauf hat bereits Jacqueline Arnaud in ihrem mittlerweile kanonischen Nedjma-Kapitel hingewiesen, wo sie die Polygamie als „frustration de vaincus tournée [...] en aventures amoureuses et combats singuliers“ deutet. Cf. La littérature maghrébine de langue française. Tome 2: Le cas de Kateb Yacine, Paris, Publisud, 1986, 255-326. Hier 286. 61 Zum ‘mimetischen Begehren’ und dessen destruktiver Dynamik für die betroffene Gesellschaftsstruktur s. René Girard: La violence et le sacré, Paris, Grasset, 1979, 81sq. 62 Eine ausführliche Analyse der Ereignisse, auf die ich hier nicht im Detail eingehen kann, findet sich bei Jean-Louis Planche: Sétif 1945. Histoire d’un massacre annoncé, Paris, Perrin, 2006, 110sqq. Planche geht dort von einem Insurrektionsphantasma auf Seiten der kolonialen Administration aus, das eine Dynamik der Angst erzeugt, die schließlich die gewaltsame (Re-)Aktion hervortreibt. 63 Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922/ 33), Berlin, Duncker & Humblot, 8 2004, 13sq. 64 Cf. hierzu vor allem den zweiten Teil von Homo sacer, op. cit., 81-126. 65 Cf. hierzu Arnaud 1986, op. cit., 285-290., sowie Aubakken 1986, op. cit., 121-138. 66 Nouveau Rhin, 18. Okt. 1956, zit. n. Arnaud 1986, op. cit., 255. 197 67 Ich beziehe mich hier wie bereits in Anm. 32 auf Freuds Aufsatz „Trauer und Melancholie“. Hier bes. 211sq. 68 Arnaud 1986, op. cit., 295. 69 Cf. hierzu die einschlägigen Textstellen. Bei Rachids Rückkehr von der Baustelle bei Bône heißt es: „Deux nuits après le crime, il était revenu par le train de Constantine [...].“ (161). Ebenso: „Rachid était arrivé.... Il revenait d’une longue absence.“ (144). Bezüglich der Zeit vor seiner Inhaftierung sagt Rachid: „Longtemps que je suis revenu du chantier, longtemps que je suis sans travail, trois ans que je n’ai rien devant moi.“ (31). Diese Ortsgebundenheit wird später noch deutlicher: „L’ami [sc. Mourad] était au bagne. Rachid ne cherchait plus de travail, ne quittait plus le fondouk où il s’était aventuré après une période, qu’il avait crue salutaire, d’isolement dans la maison de sa mère, morte à son insu pendant qu’il était employé „sur les lieux de la tragédie „ [sc. le chantier] [...].“ (161) Für die Zeit nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis gilt das gleiche: „Rachid ne quittait plus le fondouk [...]. Il ne quitterait plus Constantine, mourrait probablement au balcon, dans une nuage d’herbe interdite“ (159). 70 Cf. Arnaud 1986, op. cit., 321. Genette entwickelt den Begriff der Paralipse an Proust, der zentrale affektive Ereignisse im Leben Marcels dergestalt nachträgt, daß sie sich nicht mehr in eine Lücke der Erzählung fügen, sondern das Erzählte nachträglich verändern. Cf. Figures III, Paris, Seuil, 1973, 93. 71 Arnaud 1986, op. cit., 323. Ebenso Charles Bonn, Kateb Yacine: Nedjma, Paris, PUF, 1990, 32. 72 Cf. hierzu Marc Gontard, Nedjma de Kateb Yacine. Essai sur la structure formelle du roman, Rabat, Agdal, 1975. Eine Zusammenfassung der Debatte unter Beibehaltung seiner ursprünglichen These liefert Gontard in dem Aufsatz, „A propos de la séquence de Nadhor“ in: Charles Bonn (ed.): Actualité de Kateb Yacine, Paris, L’Harmattan, 1993, 133- 144. 73 Einer Deutung, wie sich Patricia Frederic liefert, wonach es sich bei Si Mokhtar um einen Sündenbock im Sinne Girards (cf. oben Anm. 59 u. 61) handele, würde ich dennoch nicht vorbehaltlos zustimmen. Zum einen ist ja Si Mokthar - wenngleich hier unschuldig - in der Tat die zentrale Entdifferenzierungsfigur des Romans, zum anderen wird durch seine Tötung keine neue Ordnung etabliert, sondern vielmehr eine alte Ordnung in ihrer Wirkungsmacht bekräftigt. Cf. „The Triad and the Sacrifice in Kateb Yacines Nedjma“, in: Romanic Review, 82, 2, 1991, 233-239. 74 Dies gilt ebenfalls für die zur Debatte stehenden Gender-Positionen. Winifred Woodhall weist hier zurecht darauf hin, daß der Schleier den Widerstandskämpferinnen während des Unabhängigkeitskrieges dazu diente, gefährliche Missionen auszuführen und Bomben zu transportieren. Die mit der Verschleierung verbundene Rückkehr zu der überkommenen Geschlechter-Asymmetrie, erweist sich aus diesem Blickwinkel als umso anachronistischer. Ich würde mich daher Woodhall anschließen, wenn sie die Verschleierung Nedjmas als eine double-bind-Struktur deutet, in der aufscheint, „what is at stake for women in the subjective and social transformations of the Algerian revolution.“ Cf. „Rereading Nedjma: Feminist Scholarship and North African Women“, in: SubStance, 69, 1992, 46-64. Hier 53 u. 59. 75 Karl Marx/ Friedrich Engels: „Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen Propheten“, in: dies., Werke, Berlin, Dietz, 1962, Bd. III, 9-530. Hier 362. 76 „Racisme et culture“, in: Fanon 2006, op. cit., 37-52. Hier 42. 198 77 Freud 1911, op. cit., 192. 78 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus / Logisch-philosophische Abhandlung (1921), Frankfurt/ M., Suhrkamp, 22 1989, 115. 79 Cf. hierzu Arnaud 1986, op. cit., 326. 80 Zur narrativen Metalepse cf. Genette 1973, op. cit, 244sqq. 81 Etwa nach Art der permixta apertis allegoria, bei der proprium und improprium in einem Syntagma koexistieren. Cf. hierzu Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft (1960), Stuttgart, Steiner, 3 1990, § 807. 82 The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolical Act (1981), London u. New York, Routledge, 1983, 16. 83 Cf. „The Medium Is the Message“, in: Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man (1964), Cambridge/ Mass. et al., MIT, 7-21. 84 „La différance“ (1968), in: Jacques Derrida: Marges de la philosophie, Paris, Minuit, 1972, 1-30. Hier 8sq. 85 Cf. hierzu die autobiographische Schrift Le monolinguisme de l’autre, Paris, Galilée, 1996, wo sich Derrida ausführlich mit seiner sprachlichen und emotionalen Situation als assimilierter algerischer Jude auseinandersetzt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „alienation [...] qui n’ait jamais pu réprésenter sa veille“ (48) und bezieht diese „structure d’alienation sans alienation“ (49) schließlich auf das Konzept der „différance“ (50). 86 Ich wäre daher auch zögerlich, den Roman als ein ‘freies’ Spiel der Differenz zu sehen, das, wie John D. Ericson meint, „through the use of relativism“ immer schon jenseits der (Kolonial-)Geschichte stehe. Cf. „Kateb Yacine’s Nedjma: A Dialogue of Difference“, in: SubStance, 69, 1992, 30-45. Hier 42sq. 87 Fanon 2006, op. cit., 52. 88 Bhabha 1994, op. cit., 36-39. Stephan Leopold: Hégémonie problématique, investissement libidinal. Sur la formation des allégories coloniales à l’exemple d’Albert Camus (L’Etranger) et de Kateb Yacine (Nedjma). En partant de l’hypothèse que la communauté nationale est surtout imaginée (B. Anderson), on peut concevoir la littérature coloniale comme médiatrice entre une légitimation et hégémonie problématiques et des narratifs pédagogiques qui visent à normaliser et naturaliser l’asymétrie qui existe entre le colonisé et le colonisateur. Cette littérature est allégorique dans le sens qu’elle est toujours liée à la situation coloniale - ou bien l’affirmant, ou bien la questionnant. Il y a, donc, un moment libidinal - soit-il positif, soit-il négatif - dans cette littérature dont l’objet est la nation (F. Jameson). Le but de cet article sera d’examiner à l’exemple de l’Algérie comment ce moment libidinal est formateur des allégories coloniales qui s’ouvrent à un futur incertain et produisent ainsi un ‘troisième’ espace de la littérature (H. Babha).