eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 47/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2018
471 Gnutzmann Küster Schramm

Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie im Kon- text des institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts

2018
Barbara Schmenk
© 2018 Narr Francke Attempto Verlag 47 (2018) • Heft 1 B ARBARA S CHMENK * Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie im Kontext des institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts Abstract. Autonomy is one of the most prominent notions in general educational discourses and in L2 research. Yet, debates about learner autonomy in the field of foreign/ second language learning and teaching rarely take into consideration general eduational discourses of autonomy, many of which focus critically on the modernist ideal of the sovereign, autonomous subject. This article argues that the critique of autonomy voiced in educational philosophy can contribute to a more differentiated understanding of the notion of autonomy in foreign/ second language learning. It gives an overview of autonomy discourses in both fields and highlights some of the commonalities and differences. In conclusion, it is argued that a more sophisticated concept of autonomy is pivotal if one wants to realistically assess the degree and the kind of independence learners of languages can develop in the context of institutionalized learning, and avoid an unreflected idealization, as well as an unreflected rejection of autonomy. 0. Einleitende Überlegungen Autonomie gehört zu denjenigen Begriffen, die sowohl in fachdidaktischer als auch in allgemein-erzieherischer Hinsicht seit geraumer Zeit diskutiert werden. Dennoch gibt es bislang nur wenige Versuche, diese beiden Autonomiediskurse miteinander in Bezug zu setzen und auf ihre gegenseitige Kompatibilität hin zu befragen. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen zu skizzieren, inwiefern bildungswissenschaftliche Autonomiediskurse dazu beitragen können, die fachdidaktische Diskussion zur Lernerautonomie zu differenzieren. Dabei erweist sich v.a. die kritische Reflexion des Autonomiepostulats in bildungswissenschaftlicher Perspektive als hilfreich, wenn es um die Konkretisierung von Vorstellungen zur Lernerautonomie geht. Dies erscheint auch insofern notwendig, als unreflektierte Autonomiebegriffe, wie sie einseitigen Idealisierungen, aber auch Verurteilungen von Autonomie zugrunde liegen, mit Hilfe allgemein-erzieherischer Überlegungen korrigiert und differenziert werden können. * Korrespondenzadresse: Barbara S CHMENK , Professor of German/ Applied Linguistics, Department of Germanic and Slavic Studies, University of Waterloo, W ATERLOO , ON N2L 3G1, Kanada. E-Mail: bschmenk@uwaterloo.ca Arbeitsbereiche: Deutsch als Fremdsprache, Cultural Studies, Lehrerbildung. Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 11 47 (2018) • Heft 1 1. Auf den Lehrer kommt es an! Abrechnungen mit dem Autonomiepostulat „Lehrer? Deren Zeit ist vorbei“. So die ersten Worte von Christoph T ÜRCKE in seinem 2016 erschienenen Buch mit dem reißerischen Titel Lehrerdämmerung, in dem er mit dem pädagogischen Zeitgeist abrechnet, der Lernende in den Mittelpunkt und Lehrer - so Türckes Diagnose - ins Abseits stellt. Auch Michael Felten, Lehrer und Autor der Kolumne „Schulfrage“ in der Zeit sowie Verfasser von Büchern und Artikeln zur Situation der Schule und insbesondere der Lehrenden, moniert regelmäßig und publikumswirksam „die immer noch grassierende Überschätzung individualisierender Lernformen“ (F ELTEN 2015). In seinem Buch mit dem Titel Auf die Lehrer kommt es an (2011) ruft er nach einer Rückkehr der starken Lehrerfigur: Forderungen wie „Das Führen beleben“ (ebd.: 21) oder „Lob der Lehrersteuerung“ (ebd.: 66) lassen sich als direkte Angriffe auf diejenigen Ideale und Bildungsziele lesen, die Pädagog(inn)en und Didaktiker(innen) seit Jahren versuchen, unter dem Stichwort „Autonomie“ zu propagieren. Felten hingegen möchte explizit „vor der offenen Flanke der Selbstlerneuphorie warnen“ (ebd.: 17) und setzt - angespornt durch einige aus der H ATTIE -Studie (2008) abgeleitete Thesen zur Bedeutung von Lehrenden - stattdessen auf den starken Lehrer. „Wir brauchen eine Renaissance der Lehrerpersönlichkeit“, so formuliert er in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung (2012), denn die „Lehrerin, der Lehrer ist der Begleiter auf dem Lernweg, Brückenbauer in neue Wissenswelten, Antreiber in den Mühen des Lernens und nicht zuletzt Bändiger der Unlustanwandlungen“. Und auf seiner Homepage (www.elternlehrer-fragen.de) klagt er unter der Rubrik „Problemfeld Schule“ den pädagogischen Zeitgeist an, gegen den er sich so vehement zur Wehr setzt: Auf den Unterricht kommt es an! Unterricht? Die Zeichen der Zeit klingen heute anders: Individualisierung, Eigenverantwortlichkeit, Selbststeuerung - so einige beliebte Mantras. Der Lehrer als Führungsfigur erscheint als zunehmend bedrohte Art, das Unterrichten „des ganzen Haufens” als Relikt einer auslaufenden Epoche. (http: / / www.eltern-lehrer-fragen.de/ problemfeld-schule.html) Ganz offensichtlich werden wir hier Zeugen einer intentional konstruierten Konfrontation von zwei (ebenso intentional) polarisierten pädagogischen Ausrichtungen. Im Post-Hattie Diskurs in den deutschen Feuilletons herrscht zweifellos eine Tendenz zu Vereinfachungen und Schnellschüssen. Pauschale Verurteilungen von Individualisierungs- und Eigenverantwortlichkeitspostulaten sind rasch zur Hand, wenn es um Rehabilitierungsversuche der Führungsfigur des Lehrers 1 geht. 1 Die überwiegende Verwendung des Maskulinums zur Bezeichnung von Lehrpersonen ist sehr auffällig im Rahmen der Wiederbelebungsversuche des starken Lehrers und scheint mir nicht als generische Personenbezeichnung intendiert zu sein. Es ist sicher kein Zufall, dass „der starke Lehrer“ als Führungsfigur selten auch in femininer Form daherkommt - da es sich hier um ein Konstrukt handelt, das mit stereotypen Attributen wie „Bändiger, Führender, Antreiber“ expliziert wird, scheinen ebenso stereotype Bilder von Männlichkeit besonders geeignet, um die intendierte Beschreibung der vom Untergang bzw. der „Lehrerdämmerung“ bedrohten Lehrerpersönlichkeit wirkungsvoll zu charakterisieren. Die Feuille- 12 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 Was hier schwarz-weiß einander gegenübergestellt wird, sind die zu Polen zugespitzten Begriffe Eigenverantwortlichkeit, Selbstlernen, Individualisierung, Selbststeuerung einerseits und Lehrerpersönlichkeit, Führungsfigur, Unterricht, Lehrende als Antreiber, Steuerer, Bändiger, Begleiter, Brückenbauer andererseits. Diesem binären Schema liegt ein Denken zugrunde, das sich auf ein ganz bestimmtes Verständnis von Autonomie als Bildungs- und Erziehungsziel stützt (wie auch von Lehre und Lehrern); genauer: auf ein verkürztes und unreflektiertes Autonomiekonzept. Im Folgenden ist deshalb der Frage nachzugehen, was hier wie verkürzt wird und was infolge dessen unreflektiert bleibt. 2. Autonomie als Lern- und Bildungsziel Der Begriff der Autonomie wird sowohl im Sinne eines fachlichen Lernziels als auch zur Bezeichnung eines Erziehungsbzw. Bildungsziels verwendet, wobei hier durchaus Unterschiede, allerdings auch Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Begriffsbedeutungen auszumachen sind. Beide werden im Folgenden kurz dargestellt. 2.1 Autonomie als Erziehungsziel Als Erziehungsziel wird Autonomie i.d.R. im Sinne von personaler Autonomie verstanden, also als Autonomie der Person. Wenn von Autonomie als einem Bildungsziel die Rede ist, dann geht es entsprechend um individuelle Selbstbestimmung. Nicht zufällig werden in der Pädagogik und Erziehungsphilosophie die Begriffe Autonomie, Emanzipation und Mündigkeit als Synonyme gesetzt (vgl. B AST 1989; R IEGER -L ADICH 2002; S PANHEL 2006), wobei speziell die Autonomie unmittelbar an neuzeitliche Subjektbegriffe gebunden erscheint: Wenn behauptet wird, der Mensch der Neuzeit sei wesentlich Subjekt, so bedeutet das: Er ist seiner selbst bewusst, selbstbestimmungs- und ausdrucksfähig. [...] [D]ie Moderne [bezweifelt] die Gültigkeit absoluter, unbezweifelbarer Normen und Werte und bindet die Gültigkeit nicht mehr an die einem Subjekt vorgängige Ordnung, sondern an die Zustimmung und Autonomie des Subjekts selbst (Z IRFAS , 2004: 153). Autonomie, so macht dieses Zitat deutlich, ist eine wesentliche Eigenschaft, die dem modernen Subjektbegriff eingeschrieben ist, das sich seiner selbst bewusst ist und Ordnungen nicht einfach hinnimmt, sondern aktiv mitgestaltet. Hier schimmern deutlich Kants Vorstellungen des mündigen Subjekts durch, das zu wissen wagt, selbst entscheidet, kritisch denkt und sich nicht bevormunden lässt. Erinnert sei in ton-Diskussionen würden mit hoher Wahrscheinlichkeit andere Vorstellungen evozieren, wenn hier von der „Rückkehr der starken Lehrerin“ oder einer „Lehrerinnendämmerung“ die Rede wäre. Ich überlasse der Leser(innen)schaft von FLuL, hieraus ihre Schlüsse zu ziehen, und verwende deshalb die maskulinen Formen in derselben Weise, wie sie in den breitenwirksamen Beiträgen zu Hatties Visible Learning erscheinen (z.B. A RP 2013; K ERBEL 2013; T ÜRCKE 2016; V OLTZ 2013; W ERNER 2013). Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 13 47 (2018) • Heft 1 diesem Zusammenhang auch an Adornos programmatische Aussagen zur „Erziehung nach Auschwitz“, in denen er Autonomie zum höchsten und unverzichtbaren Bildungsziel erklärt: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (A DORNO 1971: 93). Diese und ähnliche Aussagen zur Autonomie umreißen ein übergreifendes Bildungs- und Erziehungsziel, dessen Stellenwert speziell in bundesrepublikanischen Diskussionskontexten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht zu unterschätzen ist. Dennoch ist diesen Idealsetzungen von Autonomie sowie der Synonymsetzung von Autonomie und Mündigkeit im Kant’schen Sinne (die sich ja auch in Adornos Text findet) mit Vorsicht zu begegnen, denn Autonomie ist in vieler Hinsicht nicht deckungsgleich mit Mündigkeit (was von Kant selbst auch durchaus gesehen wurde 2 ). Festzuhalten ist in jedem Fall, dass Autonomie im Sinne eines übergeordneten Erziehungsziels auf die Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtet ist, und zwar dahingehend, dass Schüler/ -innen lernen sollen, eigene Standpunkte zu entwickeln und zu vertreten sowie selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Dass diese Ziele mit dem Begriff der Autonomie nicht optimal erfasst werden können, sei an dieser Stelle schon angedeutet. Bevor das aber genauer erörtert wird, sei dem hier kurz umrissenen allgemein-erzieherischen Autonomiebegriff eine Skizzierung des fachlichen Lernziels Autonomie an die Seite gestellt, wie es speziell in der Fremdsprachendidaktik entwickelt wurde. 2.2 Autonomie als fachliches Lernziel Als fachliches Lernziel verbindet man mit Autonomie vor allem die Fähigkeit, selbstbestimmt zu lernen und zu handeln, was bekanntermaßen unter dem Begriff der Lernerautonomie gefasst wird. Interessanterweise wird dieser Begriff fast ausschließlich für den Bereich des Fremdsprachenlernens verwendet, auch wenn es m.E. keinen zwingenden Grund gibt, so etwas wie Lernerautonomie nicht auch auf den Bereich mathematisch-naturwissenschaftlicher oder gesellschaftswissenschaftlicher Fächer zu beziehen. Was die Bedeutungsvarianten von Autonomie angeht, dominieren Auffassungen von Lernerautonomie als einer individuellen Fähigkeit. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang Henri Holecs berühmte Definition von Lernerautonomie: „To say of a learner that he is autonomous is […] to say that he is capable of taking charge of his own learning“ (H OLEC , 1980: 4). Und im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen heißt es: „Sobald jedoch der formale, organisierte Unterricht endet, muss das weitere Lernen autonom, d.h. selbstgesteuert erfolgen“ (E UROPARAT 2001: 140). Ähnlich auch S CHARLE / S ZABÓ (2000: 4): 2 Kants Abhandlungen zur moralischen Autonomie und dem Kategorischen Imperativ finden sich an anderer Stelle und in einem anderen Zusammenhang (K ANT 1999/ 1785) als sein Essay zur Beantwortung der Frage, was Aufklärung bzw. Mündigkeit sei (K ANT , 1977/ 1784). Vgl. hierzu auch S CHMENK (2008: 150ff. und 169ff.). 14 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 [W]e may define autonomy as the freedom and ability to manage one’s own affairs, which entails the right to make decisions as well […] Some degree of autonomy is […] essential to successful language learning. No matter how much students learn through lessons, there is always plenty more they will need to learn by practice, on their own. Diese Auffassungen von Autonomie zeigen deutliche Übereinstimmungen mit den häufig kritisch als „Mantras“ bezeichneten Emblemen desjenigen pädagogischen Zeitgeistes, gegen die sich Verfechter für „den starken Lehrer“ auflehnen. Der Fokus der zitierten fremdsprachendidaktischen Arbeiten liegt auf dem selbstgesteuerten, alleinverantwortlichen Lernen ohne Lehrende, findet sich auch häufig noch erweitert um eine technologische Komponente, da die Selbststeuerung scheinbar besonders begünstigt wird, wenn Lernende mit Hilfe digitaler Medien das eigene Lernen selbst in die Hand nehmen. Dass es sich hierbei um eine technizistisch verengte Auffassung von Autonomie handelt, ist schon seit geraumer Zeit und an vielen Orten kritisch kommentiert worden (s. stellvertretend für viele B ENSON 2001, 2007, 2013; O XFORD 2003; P ENNYCOOK 1997; R ÖSLER 1998, 2007; T OOHEY 2007). Anders verhält es sich mit Autonomiekonzeptionen, die explizit auch für unterrichtliche Kontexte entwickelt wurden. Deren Vertreter/ -innen verweisen immer wieder darauf, dass Lernerautonomie nicht mit isoliertem Alleinlernen zu verwechseln sei. Hier sind an erster Stelle die vielen Arbeiten von David Little zu nennen, der wiederholt erklärt hat, dass Autonomie eine Fähigkeit sei, die man nur im sozialen Verband erwerben könne: „learner autonomy does not arise spontaneously from within the learner but develops out of the learner’s dialogue with the world to which he or she belongs“ (L ITTLE 1994: 431). Littles Autonomiekonzept kann infolge dessen auch als entwicklungspsychologisches bezeichnet werden. Er argumentiert insbesondere mit Bezug auf Vygotskys lerntheoretische Überlegungen, dass jedes Lernen zunächst in sozialen Kontexten stattfindet und erst im Zuge der weiteren Entwicklung verinnerlicht und somit zu individuellem Wissen bzw. Fertigkeiten wird, denn „the decisive factor will always be the nature of the pedagogical dialogue“ (L ITTLE 1995: 175). Er führt an anderer Stelle weiter aus: The child learns to perform a particular task in interaction with an adult, and the adult maintains a verbal commentary to which the child contributes (communicative speech). When the child has mastered the task, she uses her own commentary (egocentric speech) to prompt and support independent performance. In due course egocentric speech becomes inner speech: in this case the conscious process by which the child plans, monitors and evaluates task performance. (L ITTLE 1999: 24) Der Prozess der Autonomisierung, den Little hier beschreibt, stellt eine schrittweise Internalisierung von sprachlichem Wissen und Fertigkeiten zur Bewältigung sprachlicher Aufgaben dar und ist auf der Basis von Eltern-Kind-Dialogen modelliert. Die frühkindliche Sprachentwicklung, die hier umrissen wird, lässt sich nach Little auch auf Autonomisierung in späteren fremdsprachlichen Lernprozessen übertragen: [L]earners will not develop their capacity for autonomous learning within formal contexts by simply being told that they are independent: they must be helped to achieve autonomy by processes of interaction similar to those that underlie developmental and experiential Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 15 47 (2018) • Heft 1 learning. Vygotsky’s notion of the ‘zone of proximal development’ is particularly helpful in clarifying the operation of these processes. He defines the ‘zone of proximal development’ as ‘the distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with peers’ (V YGOTSKY 1978: 86; zit. n. L ITTLE 1994: 435). Autonomie erwächst dieser Auffassung nach aus der Kommunikation mit Erwachsenen oder peers. Gemäß dieser Sichtweise gewinnt der Autonomiebegriff eine soziale Dimension, die in den oben erwähnten technizistischen Konzepten keine Rolle spielt. Auch erhält in Littles Ausführungen die Lehrperson entscheidende Funktionen im Prozess der Autonomieentwicklung - die Klage über den Untergang des Lehrers und des Unterrichts dürfte angesichts solcher Autonomiekonstrukte also gar nicht aufkommen. Darauf wird unten noch zurückzukommen sein. In den letzten Jahren ist die soziale Dimension von Autonomie in der internationalen Fremdsprachenforschung zunehmend in den Vordergrund gerückt worden, so dass inzwischen gar von einem social turn im Lernerautonomiediskurs die Rede ist: This social turn [...] represents a point of tension within research on autonomy, however, because there is a sense in which the idea of autonomy lacks meaning if it does not involve some element of individual development and some element of helping individuals to match learning activities to their own preferences and needs (B ENSON 2011: 17). Dieser social turn und seine Engführung von individuellen und sozialen Facetten von Autonomie führt allerdings bei genauerem Hinsehen in eine Aporie. Was Benson hier als point of tension bezeichnet, verdient mehr Aufmerksamkeit als in seinem Zitat anklingt: Denn solange man unter Autonomie eine individuelle Fähigkeit begreift, wertet man die soziale Dimension des gemeinsamen Lernens sowie der Hilfestellung durch Lehrende zur entwicklungspsychologisch notwendigen Phase ab (vgl. S CHMENK 2012, 2014). Soziales Lernen wird dadurch instrumentalisiert, gerät zum Mittel zum Erreichen des Zwecks, nämlich der Entwicklung individueller Autonomie durch Internalisierung von im sozialen Kontext entwickelten Wissens- und Fertigkeitsrepertoires. Solchen Internalisierungsmodellen liegt weiterhin die Auffassung von Autonomie als Selbststeuerung zugrunde, was in der Logik entwicklungspsychologischer Argumentationen zwar nur mit Hilfe von sozialem Lernen erreicht werden kann, diese sozialen Lernbzw. Entwicklungsprozesse werden jedoch lediglich hinsichtlich ihrer Funktion für das Individuum und seine zu entwickelnde Autonomie betrachtet. Dabei werden weder die komplexen Aushandlungsprozesse und Machtverhältnisse bedacht, die soziales Lernen stets charakterisieren, noch die damit verbundenen Einschränkungen personaler Autonomie aufseiten der Beteiligten. Die Engführung von Autonomie und Individualisierung verstellt gleichsam den Blick auf die real stattfindenden Lern- und Aushandlungsprozesse im Unterricht und - wie im folgenden Abschnitt noch genauer erläutert wird - trivialisiert sowohl soziale Lernprozesse als auch den Autonomiebegriff. 16 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 3. Aporien von Autonomie und Individualisierung Sowohl der eingangs geschilderten Autonomieschelte als auch den fachdidaktischen Arbeiten zur Lernerautonomie liegt die Vorstellung zugrunde, dass Autonomie eine Eigenschaft oder eine Fähigkeit des Individuums sei. Die Förderung individueller Selbstbestimmung und selbstgesteuerten Lernens wird dabei in einem immanenten Spannungsverhältnis zu sozialen Lernformen sowie zum Lernen im Klassenverband und unter Anleitung oder Beratung durch Lehrende gesehen. Was in der Fremdsprachendidaktik unter dem social turn vollzogen wird, ist der Versuch, Autonomie und soziales Lernen wie auch das Lernen durch Hilfestellung seitens einer Lehrperson in einen Zusammenhang zu bringen, indem auf die Interdependenz von Lernenden verwiesen wird und deren noch nicht abgeschlossene Entwicklung von Lernerautonomie. Will man soziales Lernen hingegen nicht lediglich als Mittel zum Zweck sehen, muss man die Engführung von Autonomie und Individualisierung problematisieren. Zwei Ansätze für eine solche Problematisierung sollen hier vorgestellt und erörtert werden: (a) eine Umdeutung des Autonomiebegriffs von individueller zu sozialer Autonomie, und (b) eine Infragestellung der Individualisierungsthese, indem ihre Prämissen und die inhärente Logik des ‚Autonomwerdens‘ beleuchtet werden. Hierbei ist auch die Zuhilfenahme allgemein-pädagogischer Autonomiediskussionen sinnvoll. 3.1 Soziale Autonomiebegriffe Eine Alternative zum dominierenden Autonomieverständnis stellen soziale Autonomiebegriffe dar. Diese gehen zurück auf das antike Verständnis von Autonomie als Selbstgesetzgebung seitens einer Gruppe (z.B. Gesellschaft, Stadt, Gemeinde). Mit einem solchen Autonomiebegriff arbeitet Diana F EICK (2016) in ihrer Studie zu Gruppenaushandlungsprozessen im projektorientierten Fremdsprachenunterricht. Sie definiert die soziale Autonomie in Abgrenzung zu individueller Autonomie: Soziale Autonomie wird in dieser Untersuchung in ihrer Ausprägung als Autonomie der Gruppe, also Gruppenautonomie verstanden […]. Sie unterscheidet sich von der Autonomie des Einzelnen […]. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Gruppenautonomie nicht die Summe der individuellen Autonomien der Gruppenmitglieder darstellt, sondern die Gruppe als Gesamtgefüge als autonom betrachtet werden kann, wenn Gruppenentscheidungen konsensbasiert ausgehandelt werden (ebd.: 32). Feicks detaillierte Analysen von Gruppenentscheidungsprozessen machen deutlich, dass jede Konsensfindung zahlreiche Einschränkungen und Kompromisse seitens aller Beteiligten erfordert. Was die oben skizzierte instrumentalisierende Sichtweise von sozialem Lernen zwecks individueller Autonomieförderung völlig außer Acht lässt, wird in Analysen von Konsensfindungsprozessen evident: Individuelle Autonomie erweist sich als hinderlich für soziales Lernen und kann auch nicht einfach als Resultat dieses Lernens gesehen werden. Feick erläutert dies folgendermaßen: Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 17 47 (2018) • Heft 1 Erfolgreiche Gruppenaushandlungsprozesse und insbesondere die dabei vollzogene Entscheidungsfindung zeichnen sich durch Interdependenz sowie Kooperations- und Kollaborationsprozesse aus, in denen der Einzelne als Teil der Gruppe seine persönlichen Bedürfnisse und Ziele immer wieder neu zur Aushandlungsdisposition stellt und mit den Gruppenzielen und -handlungsplänen konsensbasiert in Einklang bringt. In diesem Fall stellen Gruppenmitglieder bewusst die Ausübung personaler Autonomie zugunsten der Gruppenautonomie zurück und erfahren sich durch ihre Mitbestimmung im Gruppenaushandlungsprozess als autonom handelnd (ebd.: 73). Solche minutiös erfassten und analysierten Gesprächseinheiten, in denen Lernende an einem fremdsprachlichen Produkt arbeiten, lassen erahnen, wie komplex das Verhältnis von Selbst-, Fremd- und Mitbestimmung ist und wie unzureichend der pauschale Begriff der Internalisierung ist, wenn es darum geht zu verstehen, was in sozialen Lernprozessen abläuft und was da wohl wie internalisiert werden könnte, das schließlich auf die Herausbildung von individueller Autonomie hinauslaufen soll. 3.2 Das Konstrukt der individuellen Autonomie und seine blinden Flecken Es ist kein Zufall, dass sich Autonomie dann als problematisches Konstrukt erweist, wenn man es im Kontext gemeinsamen Lernens und Arbeitens beleuchtet, wie es für schulischen FSU typisch ist. Der Kunstgriff, hier zu argumentieren, dass Lernen im Klassenverband oder in Kleingruppen ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur individuellen Autonomie ist, kann das Problem allerdings nicht lösen, denn in solchen sozialen Lernsituationen erfahren Lernende nicht nur, dass ihre eigenen Ideen und Vorstellungen gefragt sind, sondern sie müssen sich zugleich mit anderen Vorschlägen und Perspektiven auseinandersetzen, auf die Beiträge anderer reagieren, Kompromisse eingehen, mitunter die eigenen Ideen zurückstellen. Was hat das mit Autonomie zu tun? Nicht viel. Wenn ich meine eigenen Vorlieben und Wünsche zwar äußern kann, sie dann aber aushandeln und ändern oder sogar verwerfen muss, dann ist das sicher nicht einfach Zeichen meiner individuellen Autonomie. Vielmehr geht es hier um etwas anderes: die stetige komplexe Verwobenheit von Autonomie und Heteronomie, von Selbst- und Fremdbestimmung. Heteronomie wird im Lernerautonomiediskurs kaum je genannt, entsprechend auch nicht reflektiert, und doch stellt sie das immer präsente Gegenbild von Autonomie dar. Beide treten nicht in Reinform auf, sondern greifen immer ineinander, sind bisweilen sogar kaum noch unterscheidbar. Die Erziehungsphilosophin Käte M EYER -D RAWE (1990) hat dieses Oszillieren des Subjekts „jenseits der Ohnmacht und Allmacht des Ich“ (so der Untertitel ihres Buches) folgendermaßen beschrieben: „Wir wissen, daß menschliche Existenz weder nur autonom noch nur heteronom ist, und diese Einsicht ist erhellend, ohne daß wir abschließend bestimmen müßten, was diese Existenz denn positiv ist. Autonomie kann auf diesem Wege erkennbar werden als von Heteronomie durchzogen“ (M EYER -D RAWE 1990: 11). Und sie führt weiter aus, dass es 18 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 einen praktischen Sinn von Autonomie gibt, der sich theoretisch nicht adäquat ausweisen läßt. Als Chiffre für eine humane Gesellschaft bleibt Autonomie unverzichtbar, weil sie protestiert gegen reale Fremdbestimmungen, wenngleich deren vollständige Beseitigung aussichtslos ist. Aber auch dem Denken bleibt vollständige Autonomie vorenthalten, weil es über das Was des Gedachten eingebunden bleibt in eine dichte Erfahrungswelt voller heteronomer Bestimmungen (ebd.: 64). Meyer-Drawes erziehungsphilosophische Ausführungen helfen nicht nur, das soziale Lernen als komplexes Ineinander von Autonomie und Heteronomie zu verstehen, sondern ermöglichen darüber hinaus, die Aporien von individueller Autonomie zu durchdringen, die sich durch den Lernerautonomiediskurs ziehen. Im Anschluss an ihre Gedanken ist die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Heteronomie zu stellen, das in Vorstellungen von Lernerautonomie impliziert ist: Wie autonom sind eigentlich autonome Lernende? Da wird rasch erkennbar, dass die vermeintliche Autonomie der Lernenden, die die Verantwortung für das eigene Lernen übernommen haben und geeignete Strategien und Materialien auswählen, um möglichst erfolgreich (und effizient) eine Fremdsprache zu lernen, doch tatsächlich eher das Resultat von Internalisierungen ist - und zwar Internalisierungen von überwiegend fremdbestimmten Elementen. Der Einsatz von Lernstrategien etwa oder die Bewertung von Lernmaterial und Auswahl von Lernmethoden kann überhaupt nur gelingen, wenn man zuvor Wissen und Fertigkeiten erworben hat, die zu solcherart autonomem Lernen notwendig sind. Das dürfte wohl kaum einfach selbstbestimmt erfolgt sein. Auch die sprichwörtlich sich selbst und das eigene Lernen steuernden Lernenden stellen ein paradoxes Konstrukt dar - denn sie sind zugleich Steuernde und Gesteuerte, Subjekt und Objekt der Steuerung, und als solche natürlich nicht lediglich autonom, auch wenn man der Selbststeuerung das Etikett der Autonomie überstülpt und so die Heteronomie einfach ausblendet und gleichsam unsichtbar macht. Ein Beispiel aus der Automobilindustrie kann dieses Paradoxon noch präziser illustrieren. Dort wird in jüngster Zeit das so genannte autonome Fahren für den Einsatz im Straßenverkehr geprüft. Was darunter zu verstehen ist, wird u.a. auf der Homepage von Daimler Benz erklärt: „Autonomes Fahren bedeutet das selbständige, zielgerichtete Fahren eines Fahrzeugs im realen Verkehr, ohne Eingriff des Fahrers“ (https: / / www.daimler.com/ innovation/ autonomes-fahren/ special/ definition. html). Unterschieden werden dabei die drei Autonomiestufen „teilautomatisiert“, „hochautomatisiert“ und „vollautomatisiert“. Diese Unterscheidung ist aufschlussreich zum Verständnis des Autonomiebegriffs, der dem autonomen Fahren zugrunde liegt: Teilautomatisiert: Der Fahrer muss die automatischen Funktionen ständig überwachen und darf keiner fahrfremden Tätigkeit nachgehen. Dazu zählen die Fahrerassistenzsysteme, die Mercedes-Benz unter dem Begriff ‚Intelligent Drive‘ […] anbietet. Hochautomatisiert: Das automatische System erkennt seine Grenzen selbst und fordert in diesem Fall die Übernahme durch den Fahrer rechtzeitig an. Fahrfremde Tätigkeiten des Fahrers sind begrenzt möglich […]. Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 19 47 (2018) • Heft 1 Vollautomatisiert: Das System kann alle Situationen autonom bewältigen; eine Überwachung durch den Fahrer ist nicht erforderlich. Fahrfremde Tätigkeiten sind dem Fahrer erlaubt. Ebenso ist in dieser Stufe fahrerloses Fahren möglich. (https: / / www.daimler.com/ innovation/ autonomes-fahren/ special/ definition.html#tabmodule-15000812836323 ) Neben der Tatsache, dass intelligent drive offenbar dasjenige Fahren kennzeichnet, bei dem der Mercedes-Fahrer selbst nicht mehr viel denken muss, ist unübersehbar, dass das intelligente Auto eines ist, das so programmiert wurde, dass es genau das tut, was zuvor 100% präsente, kompetente und konzentrierte Fahrer/ -innen getan hätten. Hier wird die Autonomie des Fahrzeugs als Ergebnis von Programmierungs- und Automatisierungsprozessen definiert. Autonomie ist dann die Eigenschaft der Fahrzeuge, die so programmiert wurden, dass sie sich selbst steuern können. Ein Schelm, wer hier Ähnlichkeiten mit der fremdsprachendidaktischen Internalisierungsthese von Lernerautonomie sieht. Dergleichen Vorstellungen von Selbststeuerung und Autonomie haben gemeinsam, dass Selbst- und Fremdbestimmung ununterscheidbar werden. Nur weil ein Auto fahrer/ -innenlos fährt oder eine Lernende ohne fremde Hilfe eine Fremdsprache lernt, Sprachlernstrategien anwendet oder fremdsprachliche Aufgaben bewältigt, ist das Etikett „Autonomie“ für diese Form der Selbststeuerung irreführend. Mehr noch: Das Etikett blendet, und es blendet die fremdbestimmten Elemente aus, die zur Ausübung von Selbststeuerung entwickelt werden mussten. Auf den fremdsprachlichen Autonomisierungsprozess bezogen, liest sich das folgendermaßen: [C]learly, the exercise of responsibility for one’s own learning […] and as members of a group [...] implies that the acceptance of responsibility is constantly renewed […]. From this it should be clear that the first task of the teacher intent on fostering learner autonomy is to introduce her learners to their responsibilities as individuals. In due course, the aims and objectives of the official curriculum must become the learner’s personal aims (L ITTLE 1997: 237). Das Sollen muss zum Wollen werden: Curriculare Vorgaben gilt es zu persönlichen Aufgaben und Zielen zu machen. Eine Reflexion darüber, wie es in solchen Prozessen mit der Selbst- und Fremdbestimmung steht, würde zumindest allzu vollmundige Beschreibungen von Lernerautonomie relativieren helfen. Diese Gedanken machen zugleich deutlich, inwiefern allgemeinpädagogische und erziehungsphilosophische Überlegungen zum Autonomieproblem als Korrektive im Rahmen fachdidaktischer Diskurse wirken können. 4. Pädagogische Reflexionen über Autonomie und ihr Potenzial für die Fremdsprachendidaktik Neben der Korrektivfunktion, die Diskurse zur Autonomie in der Allgemeinen Pädagogik im Rahmen der Lernerautonomiediskussion haben können, helfen sie auch, den Blick für das Autonomieproblem zu schärfen, mit dem wir es im Rahmen 20 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 der Fremdsprachendidaktik zu tun haben. Die selbstkritische Haltung, die im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt, deutet eine konkrete Richtung solcher Problematisierungsversuche an: Gerade weil der pädagogische Diskurs den Menschen noch immer meist entlang einer Kette dichotomer und irreführender Gegensätze zu bestimmen versucht - etwa: Subjekt/ Objekt, Autonomie/ Heteronomie, Selbstbestimmung/ Fremdbestimmung, Freiheit/ Determination -, gelingt es ihm kaum, die Trennung von Ideal und Wirklichkeit zu überschreiten und ihn jenseits dieser Extreme in den Blick zu nehmen. Fixiert auf die verführerische Selbstbeschreibung des Menschen […], fällt es der Allgemeinen Pädagogik außerordentlich schwer, sprachliche Formen für jene Erfahrungen zu entwickeln und bereitzustellen, die dem idealisierenden Bild des Menschen widersprechen und dessen Abhängigkeit, Angewiesenheit, Endlichkeit, Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit betonen (R IE - GER -L ADICH 2002: 73). Dasselbe gilt natürlich auch für die Fremdsprachendidaktik. Auch hier wäre es wichtig, Begriffe und Zugriffe zu finden, die nicht eindimensional die Autonomie feiern, sondern die stattdessen die blinden Flecken sichtbar werden lassen, die dieser Diskurs produziert. Daneben legen die kritischen Töne auch nahe, dass der Autonomiebegriff wenig geeignet ist, reale Lernende zu beschreiben, aber vielleicht als Reflexionsfolie nutzbar wäre. Das deutet Meyer-Drawe an, wenn sie für die Allgemeine Pädagogik festhält: Eine Antwort darauf, ob man [...] nicht auf den Begriff Autonomie verzichten soll, ist [...] allerdings noch nicht gefunden. Zumindest zweierlei ist jedoch [...] zu bedenken: Autonomie könnte [...] auf eine praktische Illusion verweisen, ohne die der Mensch nicht leben kann [...]. Autonomie könnte dergestalt nicht länger als Lösung, sondern als eine moderne Problematisierungsform von Subjektivität diskutiert werden (M EYER -D RAWE 1998: 48). Im Sinne einer „Problematisierungsform von Subjektivität“ bleibt das Autonomiepostulat zentral für das Nachdenken über allgemein erzieherische wie auch fremdsprachendidaktische Ansätze und Praktiken, die zur Selbstbestimmung von Lernenden beitragen wollen. Das schließt eine kritische Betrachtung realer heteronomer Verstrickungen ebenso ein wie die Anerkennung von oft notwendigen (und keineswegs verwerflichen) Kompromissen, die die Zurückstellung oder den Verzicht auf nur dem eigenen Selbst verpflichteten Entscheidungen und Wünschen erfordern. Als Erziehungsziel wie auch als Lernziel ist der Begriff der Autonomie insofern problematisch und unrealistisch. Als Reflexionsfolie kann er hingegen dazu dienen, die einseitige Fokussierung auf Selbstbestimmung zu durchbrechen: Ein starkes Ich […] ist eines, das sich verstrickt weiß in die zahlreichen Relationen, in denen es sich bildet, ohne dieses Verkennungsschicksal annullieren zu wollen [...]. Das Ich ist Souverän und Untertan zugleich, es hat sich nicht zu entscheiden zwischen Unschuld und Gewalt, allerdings wird es damit nicht verantwortungslos, sondern hat die Aufgabe, [...] jeweils von neuem kritisch danach zu fragen, ob die Beziehung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung so sein muß, wie sie ist (M EYER -D RAWE , 1993: 200). Meyer-Drawes Vorschlag kann als Einladung zu einer Gratwanderung gelesen werden. Pauschal von Autonomie zu reden und dabei heteronome Momente einfach zu Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 21 47 (2018) • Heft 1 ignorieren, ist ebenso fehl am Platz wie der Verzicht auf ein fortwährendes kritisches Nachdenken über Grenzen und Möglichkeiten individueller Gedanken- und Handlungsspielräume. Vielmehr gilt es, überhöhte Autonomieansprüche zu relativieren und das Spannungsverhältnis von Selbst-, Mit- und Fremdbestimmung in den Blick zu nehmen. Dabei bietet der Fremdsprachenunterricht einzigartige Möglichkeiten der Reflexion und des spielerischen Ausprobierens, erhalten Lernende dort doch Zugang zu neuen sprachlichen und kulturellen Ordnungs- und Positionierungsräumen. Diese ermöglichen es ihnen, neue Selbstpositionierungen auszuprobieren. Dabei wird zugleich eine Erfahrung alternativer Möglichkeiten der Selbst-, Mit- und Fremdbestimmung impliziert, die zumindest im Ansatz auch in unterrichtlichen Kontexten zum Thema gemacht werden können. Voraussetzung dafür ist allerdings die Abwesenheit von starken Lehrern, die von vornherein wissen, wo es hingehen soll und entsprechend bändigen und führen. 5. Ausblick Meine Überlegungen zum Lern- und Bildungsziel Autonomie sollen verdeutlichen, dass verbreitete fachdidaktische Auffassungen von Autonomie als Selbststeuerung und Selbstbestimmung zu vordergründig bleiben. Auch das pauschal als erstrebenswert gesetzte Erziehungsziel Autonomie mit seinem Anspruch, das souveräne Subjekt zu fördern, erweist sich angesichts der erziehungsphilosophischen Kritik am Autonomiebegriff als problematisch. Auswege aus diesen überhöhten Autonomiebegriffen bietet eine kritisch-reflexive Herangehensweise, die Autonomie nicht als empirische Selbstbeschreibung von Lernenden oder individuellen Mitgliedern von sozialen Gruppen (z.B. Klassenverbänden, Gesellschaften, Diskursgemeinschaften) fasst, sondern die sich der Erkundung des komplexen Geflechts von Autonomie und Heteronomie in (fremdbzw. mehrsprachigen) Lern- und Erfahrungsräumen widmet. Hier ließen sich fachdidaktische Ansprüche an den Fremdsprachenunterricht mit allgemeinpädagogischen Diskursen verbinden. Voraussetzung ist allerdings der Verzicht auf einseitige Autonomiepostulate, wie sie im Lernerautonomiediskurs nach wie vor dominieren. Dabei ist es vor allem die Ausblendung von Heteronomie, die Verfechter von Lernerautonomie dazu verführt, das Etikett Autonomie vorschnell zu verwenden - und die heteronomen Verflechtungen von so genannten autonomen Lernenden zu ignorieren. Diese Kritik am Autonomiebegriff ist allerdings grundsätzlich zu unterscheiden von der eingangs skizzierten Autonomieschelte und dem Ruf nach der Rückkehr des starken Lehrers. Zwar geht es auch dort um eine Kritik an bildungspolitischen und didaktischen Forderungen nach Autonomie, Selbstbestimmung oder Selbststeuerung. Allerdings hinterfragt man diese pädagogischen Attribute nicht, sondern setzt sie pauschal als Feindbild, das als „neue Lernkultur“ charakterisiert wird und dem der starke Lehrer als Korrektiv entgegengesetzt wird. In dieser Polarisierung wird das Pendel dann lediglich mit Wucht ins andere Extrem geschleudert, was da heißt: 22 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 Lehrer führen und dirigieren, Schüler/ -innen sollen wieder ‚erzogen‘ werden, und auch das soziale Lernen wird hier durchaus als erstrebenswert gesehen - das Autonomiepostulat hingegen erklärt man für obsolet. In diesem Diskurs werden Lehrende und Lernerautonomie extrem holzschnittartig dargestellt und anschließend gegeneinander ausgespielt. Dieser Autonomieschelte liegt also eine ganze Reihe gedanklicher Kurzschlüsse zugrunde, die im Resultat dazu führen, dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet. Wer über Lehrerdämmerung und die Notwendigkeit der Rückkehr des starken Lehrers orakelt, hat offenbar das Autonomieproblem nicht verstanden. Eben diese unreflektierte Schelte mit ihrem Ruf nach dem Altbekannten wird jedoch medienwirksam inszeniert und in Feuilletons diskutiert. Von Differenzierung und Anerkennung der Komplexität von Selbst-, Mit- und Fremdbestimmung kann hier keine Rede sein. Dabei sind solche populistischen Stimmen insofern ernst zu nehmen, als der Grad ihrer Unreflektiertheit tatsächlich dazu führen kann, dass sich viele von der verteufelten „neuen Lernkultur“ abwenden, ohne sich differenzierter mit ihr auseinander zu setzen. Insofern stellt die Post-Hattie Rhetorik eine reale Gefahr für die Autonomiediskussion dar. Was einer differenzierteren Sichtweise des Autonomiepostulats allerdings ebenfalls wenig zuträglich ist, ist der im Zuge der Neoliberalisierung von Bildungsdiskursen propagierte Autonomieschub, der wieder zurückfällt in ein hypertrophes Autonomieverständnis, allerdings erweitert um ökonomische Bedeutungsdimensionen. Wenn etwa in OECD-Publikationen gefordert wird, dass die Mitglieder moderner Wissensgesellschaften „need to be able to take responsibility for their own continuing, life-long learning“ (OECD 2008: 1) und die Entwicklung von Autonomie zur Bedingung für die Vermehrung von Humankapital erklären, dann muss man sich fragen, ob der Versuch der Differenzierung des Autonomiediskurses sowie der Überlegungen zu einem reflexiven Autonomiebegriff nicht einem Kampf gegen Windmühlen gleicht. Manchmal hat es den Anschein. Literatur A DORNO , Theodor W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Hrsg. v. Gerd K ADELBACH . Frankfurt/ M.: Suhrkamp. A RP , Doris (2013): Schwerpunktthema: Auf den Lehrer kommt es an. Deutschlandfunk v. 9. 5. 2013. http: / / www.deutschlandfunk.de/ schwerpunktthema-auf-den-lehrer-kommt-es-an.1148.de. html? dram: article_id=245959 (20.07.2017). B AST , Roland (1989): „Autonomie“. 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