eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 46/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2017
462 Gnutzmann Küster Schramm

Sabine HOFFMANN : Mündliche Kompetenz und Bewusstsein beim unterrichtlichen Fremdsprachenlernen. Tübingen : Narr 2014

2017
Dieter Wolf
144 Buchbesp rechungen • Rezensionsartik el 46 (2017) • Heft 2 46 kognitiv orientierten Spracherwerbsmodellen stellt einen innovativen Zugang auf das weite Feld des Sprachenlernens dar der Bezug zu Motivation und Volition vertieft diesen Zugang und lässt die Bezüge zwischen dem affektiven und den kognitiven Aspekten beim Lernen deutlich aufscheinen. Das Zweitsprachenlernen bei Erwachsenen, das in den Diskussionen um den L2-Erwerb in den letzten beiden Jahrzehnten schon immer eine wichtige Rolle gespielt hat, wird in der Untersuchung von H OFFMANN aus einer neuen Perspektive gesehen. Während man dieses bisher als bewusstes Lernen charakterisiert, dem eine Phase der Automatisierung folgt, verschiebt die Verfasserin diese Perspektive, indem sie die Unterscheidung zwischen inzidentellem, implizitem und bewusstem Lernen aufgreift, die in der L2-Forschung nicht die Rolle g e s p i e l t hat, die ihr gebührt. Dem inzidentellen Lernen wird von der Verfasserin für das Sprachlernen bei Erwachsenen kaum eine Bedeutung beigemessen, bei Kindern wird der Lernwert höher angesetzt. Das implizite Lernen schließt das im Vorbewusstsein Wahrgen o m m e n e mit ein, während beim bewussten Lernen der Anteil der Kognition ansteigt. Richard W. S CHMIDTS Aussage „adult humans do not learn without awareness“ (S. ) führt zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit dieser Theorie des L2-Erwerbs. S CHMIDT s Überlegungen führen H OFFMANN dazu, den Begriff der Aufmerksamkeit als einen wichtigen Faktor beim L2-Erwerb einzuführen. Aufmerksamkeit und noticing kommt gerade beim Sprechen in der Fremdsprache eine relevante Rolle zu, weil sie erwachsenen Lernenden die Möglichkeit geben, sich automatisierte Prozesse bewusst zu machen und sich damit korrigieren zu können. Und Aufmerksamkeit ist gleichzeitig ein Konzept, das in der Motivationsforschung eine zentrale Rolle spielt. H OFFMANN baut also an dieser Stelle eine Brücke hinüber zu den von ihr so genannten willentlichen Lernhandlungen, die neben Motivation Konzepte wie Wille und Interesse einschließen. Die Gliederung des Buches entspricht der aufgezeigten Thematik. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der kognitiven Seite des Fremdsprachenlernens, hebt neben einer umfassenden Diskussion des Begriffs Bewusstsein auf die Sprachbewusstseinsforschung und die Sprachlernbewusstseinsforschung ab und behandelt dann ausführlich die kognitiv orientierten Theorien zum Zweitsprachenerwerb, die für das Erwachsenenlernen von so großer Bedeutung sind. Nach einer Erläuterung des Begriffs der mündlichen Sprachkompetenz greift die Verfasserin die methodisch-didaktische Frage nach den Möglichkeiten, Bewusstmachungsprozesse zu initiieren, auf. Sie unterscheidet zwischen selbst- und fremdinitiierter Bewusstmachung und differenziert bei letzterer zwischen der Sprachlernberatung des einzelnen Lerners und der Bewusstmachung im Klassenverband. Die erste Forschungsfrage wird im Anschluss an dieses Ka pitel formuliert. Sie lautet: Inwieweit hat Bewusstmachung auf den fremdsprachlichen Lernprozess Einfluss und in welchem Maße lässt sich daraus eine Verbesserung der mündlichen Kompetenz festmachen? (vgl. S. ) Im zweiten theoretischen Kapitel geht es Sabine H OFFMANN um die andere Säule ihrer Untersuchung, die so genannten willentlichen Lernhandlungen. Sie behandelt zunächst ausführlich die verschiedenen Strömungen der Motivationsforschung und widmet sich dann dem Interessenbegriff und der Interessenforschung. Die verschiedenen Motivationskonstrukte der Fremdsprachenforschung (D ÖRN EI , R IEMER ) werden im letzten Abschnitt dieses Kapitels beschrieben, bevor die zweite Forschungsfrage formuliert wird, die sich in drei Fragen aufteilt: „1. Ist von expansiv orientiertem Lernen eher auf eine Speicherung im LZG zu schließen? 2. Zeigt sich dabei auch eine bessere Leistung? . Prädisponiert oder koppelt sich expansives Lernen eher an bewusste Lernprozesse? “ (S.121) Das dritte Kapitel ist eine umfassende und weitreichende Auseinandersetzung mit den in der Arbeit eingesetzten methodischen Werkzeugen, die weit über das hinausgeht, was man in Buchbesp rechungen • Rezensionsartik el 1 46 (2017) • Heft 2 46 einem solchen Kontext erwarten kann. Was besonders gefällt, sind die präzisen Begründungen, welche die Verfasserin für den Einsatz bestimmter methodischer Werkzeuge gibt. Für ihre Studie entscheidet sie sich, Fragebögen, Tagebücher, Beratung und Videografien, Sprachstandserhebungen und Experteninterviews einzusetzen. H OFFMANN beschreibt in diesem Kapitel auch, wie sie die verschiedenen Forschungsmethoden in einer Pilotstudie erprobte und ihr ursprüngliches Forschungsdesign modifizierte. Im vierten Kapitel stellt die Verfasserin dar, wie sie die im Klassensatz und in Einzelfallanal sen gewonnenen Daten interpretiert. Für die Anal se im Klassensatz geht sie von einer Experimental- und einer Vergleichsgruppe aus, die aus Deutschlernern des Goethe-Instituts Palermo bestehen. Die Experimentalgruppe besteht aus zehn Lernenden, die Vergleichsgruppe aus ursprünglich acht Lernenden, die im Laufe der Untersuchung auf fünf Lernende zusammenschrumpfte. Experimental- und Vergleichsgruppe unterschieden sich dadurch voneinander, wie sie unterrichtet wurden: die Experimentalgruppe durch eine stärkere Betonung des kognitiven Bereichs, durch Lernberatung, durch Tagebücher, in welchen die Lernenden ihre Lernprozesse schildern sollten, die Vergleichsgruppe durch einen Unterricht, in welchem diese Aspekte ausgeblendet waren. Beide Gruppen erhielten im ersten Schritt Fragebögen, in welchem das Interesse am Lernen der deutschen Sprache erfragt wurde. Der zweite Teil der Untersuchung bestand aus Sprachstandserhebungen, die gesondert für jedes einzelne Mitglied der Gruppen dreimal durchgeführt wurden. Sie bezogen sich auf Ausdrucksfähigkeit, Aufgabenbewältigung, formale Richtigkeit und Aussprache. Der dritte Teil der Untersuchung bestand aus Videografien, die, allerdings nur in der Experimentalgruppe, Aufschluss geben sollten über die Fre uenz sowie die Art und ualität der Wortmeldungen. Der größte und umfassendste Teil der Untersuchung ist Einzelfallanal sen der neun Lernenden aus der Experimentalgruppe gewidmet, die den Sprachkurs beendeten. Hier kommen die Kategorien, die bei der Anal se der beiden Gruppen eingesetzt wurden, wieder zum Tragen, beziehen sich jetzt allerdings auf die einzelnen Lerner und ermöglichen es, ein recht präzises Bild von den Lernprozessen der einzelnen Probanden zu zeichnen. Neu kommen detaillierte Anal sen der drei Lernberatungen hinzu, die jeder Lernende im Laufe des Kurses zu durchlaufen hatte und die von der Verfasserin durchgeführt wurden. Das vergleichsweise kurze fünfte Kapitel, von der Verfasserin „Schlussfolgerungen und Desiderate“ genannt, fasst die Ergebnisse der Untersuchung zusammen, von welchen die folg enden besonders hervorzuheben sind: (1) Der Erwerb der Fremdsprache Deutsch vollzieht sich bei mehr als der Hälfte der erwachsenen Lernenden auf einer betont bewussten Ebene. (2) Bewusstmachungsprozesse wirken sich positiv auf die Lernergebnisse im Hinblick auf die mündliche Leistung aus, wie die besseren Ergebnisse der Experimentalgruppe zeigen. ( ) Bewusstes Lernen fördert grundsätzlich die mündliche Leistung bei Fremdsprachenlernern, verliert aber bei fortgeschrittenen Lernenden an Relevanz. ( ) H OFFMANN zieht daraus vorsichtig die Schlussfolgerung, dass die Leistungen von L2-Lernern im Mündlichen in unmittelbarer Relation zum Bewusstseinsgrad stehen. Diese umfassende, aber nicht immer leicht zu lesende Studie sollte jeder lesen, der an den Zusammenhängen von Kognition, Bewusstsein und Motivation beim Zweitsprachenlernen interessiert ist. Sie ist aber auch für den „normalen“ Sprachlernforscher von großer Bedeutung, weil sie die Kluft zwischen bewusstem, kognitivem Lernen auf der einen und implizit e m Lernen auf der anderen Seite zu überbrücken versucht, die sich bei der konkreten Umsetzung theoretischen Gedankenguts in praktisches Unterrichtshandeln immer noch zeigt. W up p ertal D IETER W OLF F 146 Buchbesp rechungen • Rezensionsartik el 46 (2017) • Heft 2 46 Britta V IEBROCK : F orschungsethik in der F rem dsp rachenforschung. Eine system ische Betrachtung. Frankfurt/ M. [ e t c . : Peter Lang 201 , 18 Seiten , Auf dieses Buch hat die deutschsprachige Fremdsprachenforschung lange gewartet: Endlich h a t s ich in Person von Britta V IEBROCK eine empirische Fremdsprachenforscherin der Aufgabe angenommen, das Thema Forschungsethik disziplinspezifisch in einer Monographie gründlich auszuleuchten. Dabei geht die Autorin in sieben Schritten vor, von denen der erste - die Einleitung unter dem Titel „Forschungsethik in der Krise (? )“ - die in der Öffentlichkeit breit diskutierten Plagiatsfälle prominenter Politiker/ -i nnen sowie vier fiktive - und anregende - Beispielszenarien aus der Fremdsprachenforschung nutzt, um das Themenfeld aufzureißen. Das zweite Kapitel ist der „Forschungsethik in s stemischer Perspektive“ gewidmet und fragt nach dem „Ethos der Wissenschaft, das sich jede Forscherin und jeder Forscher zu e i g e n machen sollte“ (S. 2 ). Hier finden interessierte Leser/ -i nnen mit hoher Belegdichte zusammengestellte Gedankenanstöße, die sowohl die individuelle Ebene der forschenden Person und das Ethos epistemischer Rationalität betreffen als auch solche, die sich auf das auf gesellschaftlicher, häufig institutioneller Ebene angesiedelte Ethos wissenschaftlicher Folgeverantwortung beziehen. Überzeugend erscheinen mir V IEBROCKS Ausführungen zur Entscheidungsfindung integrer Forscher/ -i nnen: Zur näheren Bestimmung von Integrität greift sie auf die von M ACFARLANE angeführten Tugenden Mut, Respekt, Entschlossenheit, Ernsthaftigke i t , Bescheidenheit und Reflexivität zurück. Weniger überzeugend erscheint mir dagegen i h r e kritische Auseinandersetzung mit dem „Glaubenssatz“ der „methodischen Kontrolliertheit“, der ihr zufolge „Tendenzen einer Verselbständigung“ (vgl. S. ) aufweist und den sie in die Nähe des Positivismus rückt. Eine solch deutliche Eigenpositionierung i s t jedoch sehr gut geeignet als Zündstoff für weitergehende fremdsprachendidaktische Diskussionen zur Fo r schungsethik. Dasselbe gilt für die Aussage, dass mit der Zielsetzung von Forschung, „nach Ordnung, Erklärung, Prognose“ zu streben, „die Möglichkeit von Vielfalt, Heterogenität, Regellosigkeit von Vornherein ausgeschlossen wird “ (S. ). In Anlehnung an die Arbeiten v o n R EDWOOD e r k e n n t V IEBROCK e i n e „s mbolische Gewalt, die mit der Herstellung von Ordnung im Forschungsprozess einhergeht“ (S. ). Al s fremdsprachendidaktisches Beispiel führt sie u.a. die Redeweise a n , dass ein bestimmter Ansatz noch nicht in der Schule angekommen sei. „Deutlich wird ... , dass mit der Wortwahl in den genannten Beispielen unterschiedliche Inhalte transportiert werden, die in der Tat nicht unschuldig sind: Es wird ganz klar entschieden, wer die Theoriehoheit über den fremdsprachlichen Klassenraum hat und in welche Richtung der Wi s s e n s - und Theorietransfer geht - von der Wissenschaft zur Unterrichtspraxis. Der Wert des Alltagswissens von Lehrerinnen und Lehrern (für das es eine Vielzahl weiterer Bezeichnungen gibt) wird mit der Aussage gänzlich ignoriert. Auch kann von einer Gleichberechtigung von Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler und Forschungsteilnehmerin oder -teilnehmer durch diese Wortwahl keine Rede mehr sein“ (S. ). Im dritten Kapitel steigt die Autorin tiefer in die historischen und interdisziplinären Bezugskontexte, Konzepte und theoretischen Hintergründe ein. Aristotelische Tugendethik, feministische Ethik der Fürsorge, deontologische Ethik, Konse uentialismus und Kontraktualismus wie auch Menschenbildannahmen und Subjektmodelle werden hier genauer untersucht und mit klarem Bezug auf bisherige Überlegungen in der Fremdsprachenforschung kenntnisreich aufgearbeitet. Bemerkenswert erscheint der nachdenkliche Ton, mit dem die Autorin auch von ihr favorisierte Positionen wie die einer advocac -Forschung, bei der empowerment