eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 46/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
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2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2017
462 Gnutzmann Küster Schramm

Frühe Fremdsprachenlerner – Prädispositionen und Potenziale

2017
Heiner Böttger
F rü he F rem dsp rachenlerner - Prä disp ositionen und Potenziale 9 46 (2017) • Heft 2 46 Regel auch die Muttersprache(n), als ein sich langsam verfeinerndes grobes Muster erworben. Nachsprechen, h pothetische Konstruktion von Sprache mit Selbstkorrektur, intelligente Fehler und Sprachexperimente ohne zeitliche Vorgaben spielten in dieser Zeit eine wichtige Rolle. „Je nach individueller Voraussetzung, z.B. der Entwicklung der Sprachorgane, Motivation sowie den sozialen und kommunikativen Rahmenbedingungen war es möglicherweise in der Sprachentwicklung ganz normal auch zu zeitlich begrenztem Stillstand, zur Verzögerung oder sogar zu einem zeitweisen Rück s c h r i t t g e k o m m e n “ (B ÖTTGER 2013 : 44). Abweichungen von einer solchen Entwicklung sind mangelnder Förderung durch Eltern und frühkindliche Institutionen geschuldet mangelnde Sozialisierungen und damit einhergehende defizitäre sprachvorbildliche Kommunikati o n s g e l e g e n h e i t e n spielen eine große Rolle. Nicht zuletzt sind es u.a. auch klinische Befunde wie unentdeckte Schädigungen der Hör- und Sprechorgane sowie neurologische Abweichungen von einer in der Regel weit gefassten Entwicklungsnorm, die besonders bei der Entwicklung des kindlichen Gehirns teils sehr individuelle Stände berücksichtigt. 2. Spracherwerbliche Prädispositionen Sich die Details der sprachlichen Möglichkeiten eines Kindes zu Beginn seiner Schulkarriere anzusehen und sie zu berücksichtigen, sollte eine obligatorische, berufsfeldspezifische Kompetenz aller beteiligten Lehrkräfte sein. 2.1 S prachentwi cklung i m Vorschulalter Im Vorschulalter ist die Entwicklung des kindlichen Gehirns in Bezug auf Sprache extrem sensibel. Ein besonderer Vorteil gegenüber anderen Altersstufen liegt dabei in der Sprachaufnahme bekannter und fremder Laute (vgl. W ERKER / H ENSCH 201 ). Biologische Entwicklungen im kindlichen Gehirn lassen etwa im Alter von v i e r J a h r e n k o g n i t i v -anal tische und auch intuitive Fähigkeiten reifen, was ein Kind verständiger und neugierig erscheinen lässt. Die Kontrolle über die Sprache als auch die Zunahme intellektueller Sprachleistungen wie Grammatikverwendung und intelligentes Fragen/ Nachfragen lassen spätestens ab dem . Lebensjahr auch die Beschäftigung mit weiteren Sprachen als günstig erscheinen (vgl. B ÖTTGER 2016: 1 f.). Es ist auch die Zeit der sprachlichen H pothesen, in der sprachliche Regeln vor allem aus gehörtem Input identifiziert und kommunikativ ausprobiert werden. Erweisen sie sich als richtig, werden sie weiterverwendet, sonst nahezu selbstständig verbessert. Regeln weiterer Sprachen werden ebenso unbewusst reflektiert und verglichen, und es wird immer wieder hin und her übersetzt - der Ausgangspunkt für d en beginnenden Englischunterricht. Hierin liegt ein weiterer Hauptgrund für die fremdsprachendidaktische Forderung, der ersten Fremd- oder Zweitsprache schon 10 Heiner Bö ttger 46 (2017) • Heft 2 46 mindestens ab Klasse 1, günstigstenfalls aber schon in der Vorschulzeit 1 zu begegnen. 2.2 A n d er S chwelle z ur Grund schule Mit dem bevorstehenden Abschluss des Erwerbs der Muttersprache in Bezug auf Lauts stem und Grammatik ist auch der Vorgang der Begriffsbildung erfolgt, der so später nie mehr wiederholbar ist: Alle weiteren Sprachen werden ab diesem Z e i t punkt vor dem muttersprachlichen Hintergrund gelernt (W ALTER 1 81: 2 ). Der Wortschatz hat sich idealerweise bis zu diesem Zeitraum sprunghaft vergrößert und steigt nun weiter steil an. Erste fremdsprachliche Lese- und Schreibversuc h e s i n d bereits vor der 1. Klassenstufe möglich, das kognitive Potenzial ist bzw. wäre vorhanden (vgl. B ÖTTGER 201 ). Die Fähigkeit, schriftliche S mbole zu verstehen, markiert einen Meilenstein in der kindlichen Sprachentwicklung: Es kann abstrakt und folgerichtig denken und zeitliche Dimensionen wie Vergangenheit und Zukunft einordnen. A b b . 1: Erste h pothetische Schreibversuche Vierjähriger (aus B ÖTTGER 2016: 149 ) Werden Kinder besonders gefördert, beispielsweise mit dem Jolly Phonics-Verfahren, ist gar eine zweisprachige Alphabetisierung möglich, wenn diese motorisch, visuell, auditiv und kognitiv gestützt wird ( V AN W ASSENHOVE et al. 200 ). B e i zweisprachig aufwachsenden Kindern s p i e l e n zu diesem Zeitpunkt, dem Eintritt in die Grundschule, sowohl der Prozess des Erwerbs der Muttersprache(n ) a l s auch der Kontakt mit deutschen Sprechern eine wichtige Rolle für den erfolgreichen 1 Die Vorschulzeit bezieht sich meist auf das letzte Jahr im Kindergarten bzw. der Kindertagesstätte. Ein weiter gefasster Begriff umfasst mindestens zwei Jahre vor Eintritt in die Grundschule. F rü he F rem dsp rachenlerner - Prä disp ositionen und Potenziale 11 46 (2017) • Heft 2 46 Spracherwerb. Die Erstsprache bildet die Referenzsprache für das Erlernen weiterer Sprachen, bei bilingualen Kindern in der Regel beide Erstsprachen. Wird diese schon früh abgebrochen, unterbrochen oder vernachlässigt oder das Erlernen der deutschen Sprache aufoktro iert, sind defizitäre Entwicklungen beider Sprachen nicht ausgeschlossen. Dieser insuffiziente Entwicklungsstand in den zwei Sprachen macht das Vergleichen, Korrigieren, Konstruieren und unabhängige Verwenden aller weiterer Sprachen auf einem Minimalstandardniveau nahezu unmöglich, da vergleichende kognitive Leistungen nicht möglich sind (vgl. B ÖTTGER 200 : 1 ff.). Einen Vorteil beim Sprachlernprozess scheinen bilingual aufwachsende Kinder jedoch generell zu besitzen: Werden zwei Sprachen, also Muttersprache und Deutsch, parallel gelernt, sind diese Kinder gemäß relevanter neurodidaktischer Forschung (vgl. u.a. F RANCESCHINI et al. 200 ) geradezu prädestiniert zum effizienten, raschen und weitgehend natürlichen Erwerb weiterer Sprachen, insbesondere eben auch im gerade beginnenden Englischunterricht in 1 Ländern der Bundesrepublik Deutschland. 2 Mit dem Beginn der Schulzeit, im Alter von etwa s e c h s Jahren, beherrscht ein Kind Lauts stem und Grammatik seiner Erstsprache in den Grundzügen, bereits fast vergleichbar mit der Sprache der Erwachsenen - wenn es dieser durch die Bezugspersonen oft und lange genug modellhaft ausgesetzt war. Mit dieser Zunahme an sprachlicher Kompetenz wachsen spracherwerbs- und kommunikationsrelevante Kompetenzen wie Empathiefähigkeit und Werteverstehen, die Grundlagen für interkulturelles Lernen. 2.3 S prachenlernen i m S chulki nd alter We n n das strukturierte, institutionalisierte und bereits progressionale Sprachenlernen in der Schule beginnt, gilt es entwicklungsps chologisch gesehen, die bis dahin g e m a c h t e n Spracherfahrungen - in allen Kontaktsprachen - i n t e n s i v zu stärken. Neuronal geseh e n g e h t d i e s e i n h e r m i t d e r e i n s e t z e n d e n Stärkung der S napsen, den Verbindungen zwischen den Gehirnzellen. U se it or lose it - was nicht benützt wird, wird biologisch nach einer Phase der Stabilisierung ab dem 10. Lebensjahr zurückgebaut (vgl. H ERRMANN / F IEBACH 2007). Aus höchster Plastizität des Gehirns wird ein zunehmend stabiles Netzwerk. Insgesamt entwickeln sich die sprachlichen Fähigkeiten sowie die räumliche Orientierung rasant weiter. Es gibt bei dieser Entwicklung nur wenige Einschränkungen, sehr komplexe und schwierige Grammatikstrukturen sowie Satzkonstruktionen werden sprachenunabhängig häufig falsch verstanden bzw. interpretiert (vgl. F RIEDERICI 2011: 2 ff.). Der Wechsel vom intuitiven Erwerb der Erst-, Mutter- oder Umgebungssprache uasi „im Vorbeigehen“ hin zum eher bewussten, expliziten Lernprozess basiert zusätzlich auf einem erheblichen aktiven und passiven Wortschatz, bis zu etwa 2 Das Saarland beginnt als einziges Bundesland in der Grundschule nicht mit Englisch, sondern Französisch. 12 Heiner Bö ttger 46 (2017) • Heft 2 46 1 000 Wörter in der Muttersprache. Am Ende der Schulzeit wird dieser n o c h m a l s deutlich angewachsen sein, auch um eine erhebliche Zahl an fremdsprachlichen Begriffen. Mit der Reifung des Gehirns während der Grundschulzeit, insbesondere des Stirnhirns, reift auch die Konzentrations- und Fokussierungsfähigkeit. Zielgerichtetem, aktivem Sprachenlernen inklusive der Entwicklung von fremdsprachlichen Schreibfertigkeiten steht eigentlich nichts im Wege. Die s stematische Unterweisung insbesondere bei letzteren ist nun notwendig, da das Schriftbild nicht selbstständig bzw. impl i z i t erworben werden kann. 2.4 P otenz i ale d es S pracherwerb s am Ü b ergang i n d i e S ekund arstufe Der unterschiedliche Beginn des frühen Fremdsprachenlernens in den Bundesländern in der ersten, zweiten oder dritten Jahrgangsstufe der Grundschule (s . L OH - MAN N i n d i e s e m B a n d ) führt am Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe zu ungleichen Ausgangssituationen. Die unterschiedlichen Umfänge des Englischunterrichts in den Stundentafeln der Grundschulen führen anschließend zu einem s t a r k d i v e r g i e r e n d e n fremdsprachlichen Kompetenzaufbau, der am Ende der . Jahrgangstufe zwar zu einem generellen erfreulichen Status uo führt (vgl. E NGEL 2008 BIG-K REIS 201 M ÜLLER 2017), jedoch auch länderspezifisch unterschiedlich ausfallen muss. Aus diesen heterogenen Voraussetzungen leiten sich wiederum heterogene . Klassen in den Sekundarstufen ab, die eine Herausforderung für das diversity m anagem ent der Lehrkräfte dort bedeuten. Insbesondere die BIG-Studie von 201 sowie deren Auswertung von M ÜLLER (2017) h i n s ichtlich der Einflussfaktoren sind aufschlussreich, wenn die Potenziale der zukünftigen Fünftklässler eingeschätzt werden sollen. Entwicklungsps chologische oder neurobiologische Entwicklungen verlaufen ab dem Zeitpunkt des Übertritts derart heterogen, dass diese für einen Vergleich der Altersgruppe nicht generalisiert werden können. Anders jedoch die vom BIG-Kreis (201 ) durchgeführte bundesweite Erhebung, die bezüglich der fremdsprachlichen Kompetenzentwicklung zu klaren Aussagen zum Sprachpotenzial der Viertklässler kommt (ebd. 201 ) 3 : 1. Die Studie zeigt einen signifikanten Zusammenhang zwischen einer hohen Sprachkompetenz der Lehrkräfte und den ualitativen Ansprüchen an das eigene Lehrerhandeln sowie den sprachlichen Herausforderungen an die Kinder. 2. Die Mehrheit der Lehrkräfte ist davon überzeugt, dass der aktuell verwendete fachdidaktisch-methodische Zugang für die spezifischen Bedingungen der Grundschule angemessen und motivierend i s t . . Die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler verfügt am Ende von Kl a s s e 4 i n den einzelnen Fertigkeitsbereichen über ein Sprachniveau, das im Bereich von 3 Die aufgeführten, zusammenfassenden Punkte wurden vom BIG-Kreis 201 und 201 als F actsheets der regionalen und überregionalen Presse übermittelt und an die Kultusministerien der Länder versendet. F rü he F rem dsp rachenlerner - Prä disp ositionen und Potenziale 13 46 (2017) • Heft 2 46 A1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) und zum Teil darüber liegt. . Das Verstehen gesprochener Sprache als die für den Spracherwerb grundleg ende und im Anfangsenglischunterricht vorrangig entwickelte Fertigkeit ist bei drei Vierteln der Kinder sehr gut bis gut entwickelt. . Im Leseverstehen liegt der Wert sogar bei 82 richtiger Lösungen für das V e r s t e h en von Einzelsätzen und einfachen, kurzen Texten. . B e i m Schreiben weisen die insgesamt erfreulichen Ergebnisse im Vergleich zu den anderen Fertigkeitsbereichen eine große Bandbreite auf. Hier ist e i n Handlungsbedarf zu erkennen, verbindliche Standards vorzulegen. . Die Sprechleistungen zeigen, dass über 80 der Kinder in der Lage sind, zum Alter, zur Familie, zum Wohnort, zu den Hobb s und zu anderen Themen aus der kindlichen Lebenswelt selbstständig Fragen zu beantworten und Gespräche zu führen. Die Einflussfaktoren auf ein erfolgreiches frühes institutionalisiertes Sprachenlernen sind im Überblick (vgl. M ÜLLER 201 ) folgende: 1. Das Lernalter: Je früher begonnen wird und je häufiger Englischunterricht stattfindet, desto bessere Ergebnisse erzielen die Schülerinnen und Schüler in allen untersuchten Kompetenzbereichen (ebd.: 18 ff.). 2. Die Lehrkräfte: Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte sowie vor a l l e m d i e i m fremdsprachigen Ausland verbrachte Zeit spielen eine entscheidende Rolle beim Sprachlernerfolg von Schülerinnen und Schülern. Dazu kommt i h r V e r t rauen in die eigene Sprachkompetenz, das einen signifikanten Einfluss auf den Lernerfolg der Klassen hat (ebd.: 2 2ff.). . Die Kooperationsbereitschaft von Lehrkräften: Arbeiten im k o l l e g i a l e n Fa c h team, auch schulartübergreifend, wirkt sich positiv auf den Lernerfolg aus (ebd.: 2 ff.). . Die kindlichen Persönlichkeitsmerkmale: Nahezu alle Kinder der Studie zeigten sich hochmotiviert, das Fach Englisch genießt höchste Akzeptanz (ebd.: 1 ff.). Insgesamt gilt es, den in der Regel gut ausgebildeten fremdsprachlichen Kompetenzen bei den neuen Fünftklässlern hinsichtlich Hörverstehen und elementarem Sprechen sowie ersten interkulturellen Kompetenzen mit adä uater, fördernder und anschlussfähiger Didaktik (s . F RISCH in diesem Band) zu begegnen, gleichzeitig aber auch Bedarfe im fremdsprachlichen Schreiben und Lesen durch entsprechende individualisierende und differenzierende Fördermaßnahmen zu befriedigen. Mit dem Einsetzen der Adoleszenz (vgl. B ÖTTGER / S AMBANIS 2017) schon zu Beginn des Übertritts in die weiterführenden Schulen n e h m e n Heterogenität und Individualität der jungen Lerner enorm zu. Dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, kann weder aus entwicklungsps chologischer noch aus neurobiologischer oder aus fachdidaktischer Sicht in einem konträren Streben nach Homogenisierung von Lern- 14 Heiner Bö ttger 46 (2017) • Heft 2 46 gruppen bestehen. Dass eine wünschenswerte Individualisierung aber auch 201 immer noch nicht flächendeckend der unterrichtlichen Realität entspricht, zeigt die Studie von J AEKEL et al. (201 ), die darauf hinweist, dass in den Jahrgangsstufen und weiterhin versucht wird, die unterschiedlichen Kompetenzentwicklungen der ehemaligen Viertklässler zu nivellieren, auch um Vergleichbarkeit in Tests und Bewertungen zu schaffen. Schulkindgerechtes, individuelles Sprachenlehren und -l e r nen scheint aktuell weiterhin ein Desiderat zu sein. 3. Zweisprachig aufwachsen Zweisprachigkeit k a n n in einer entwicklungsförderlichen Umgebung bereits früh v o m kindlichen Hirn effizient verarbeitet werden (vgl. P IERCE et al. 201 ). Gleiche neuronale Verarbeitungsmuster wie beim monolingualen Aufwachsen, erhöhte Hirnplastizität und frühe kognitive Entscheidungsfähigkeiten (vgl. P OULIN -D UBOIS et al. 2011) belegen dies. Besonders stark ausgeprägt sind höhere Konzentrationsleistungen beim Ausblenden von Störfaktoren (vgl. A N TÓ N et al. 201 ). Dies hat nicht unerhebliche Auswirkungen auf die schulische Performanz, die sich bei 8bis 11-jährigen mehrsprachigen Schulkindern durch sich entwickelnde, klare Vorteile gegenüber monolingualen Altersgenossen bei sprachlichen Lernleistungen (vgl. P OARCH / B IAL STOCK 201 ) manifestiert. Auch für das weitere Sprachenlernen in höheren Klassen bildet frühe Bilingualität eine bessere Ausgangssituation: Durch die Verarbeitung neuer Sprachen an gleicher neuronaler Stelle werden diese a n s c h e i n e n d leichter, schneller und effizienter integriert und gelernt (vgl. W ATTENDORF et al. 2001 N ITSCH 200 ). Bilingualität im institutionalisierten Lernkontext der Grundschule prägt sich anders aus als im natürlichen Spracherwerbskontext, z.B. zuhause. Der natürliche, frühe Erwerb einer zweiten Sprache weist starke hnlichkeiten mit dem Erstspracherwerb auf. Die Begegnung mit einer zweiten Sprache muss j e d o c h im Vorschulalter liegen, soll der Erwerb dieser neuen Sprache i d e n t i s c h m i t d i e s e m verlaufen. Werden zwei Sprachen parallel und in gleicher Intensität gelernt, spricht man von echter Bilingualität. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn die Umgebungssprache und die elterliche Sprache nicht identisch sind. Gleiches gilt für unterschiedliche Sprachen der Erziehungsberechtigten oder wichtigsten Bezugspersonen. Grundlegende Voraussetzungen für echte Bilingualität sind, dass die beid e n betreffenden Sprachen in der Umgebung des Kindes regel mäßig gesprochen werden, dass das Kind sie außerdem selbst regelmäßig hört und spricht und für jede Sprache mindestens eine muttersprachliche Bezugsperson hat. Sprachliche Inkonseuenz oder fehlerhafter Sprachgebrauch führen allerdings zu Sprachverwirrung. Von partieller Bilingualität wird gesprochen, wenn eine der beiden Sprachen zwar noch im Vorschulalter, aber später als die Erstsprache auf das sprachliche Leben des Kindes Einfluss nimmt. Auch bei zeitlich unterschiedlichen Anteilen der Sprachen, z.B. durch längere berufliche Abwesenheit eines Elternteils, das eine F rü he F rem dsp rachenlerner - Prä disp ositionen und Potenziale 1 46 (2017) • Heft 2 46 Sprache vertritt, kommt es zu dieser teilweisen Zweisprachigkeit mit deutlicher Ausprägung der Dominanz der häufiger gebrauchten Sprache. Zu partieller Bilingualität kann sich jedoch auch das frühe schulische Fremdsprachenlernen entwickeln. Problematisch hingegen ist neben den knappen Kontaktzeiten von wenigen Wochenstunden mit der neuen Sprache der in der Regel weitgeh e n d n i c h t -authentische sprachliche Input im Klassenzimmerkontext. Die Lehrer- Schülerbzw. Schüler-Schüler-Kommunikation bleibt weitgehend sprach-, nicht inhaltsbezogen, wenn ausschließlich eine s stematische, geplante Unterweisung bezüglich der Progressionen im Wortschatz und in den grammatikalischen Struktur e n v o r h e r r s c h t . Regelmäßige Anwendungsmöglichkeiten müssen fehlen, wenn sie nicht über außerschulische Kontakte oder bilinguale Angebote ergänzt werden. Imm e r s i o n s k o n z e p t e m i t Einbezug einer s stematischen Alphabetisierung sind bei der Entwicklung von partieller Bilingualität ebenfalls bedeutend (vgl. P LIATSIKAS et al. 201 ). Im frühen schulischen Fremdsprachenunterricht erhalten die Schüler nach fremds p r a c h e n d i d a k t i s c h e n As p ekten selektiertes, auch authentisches Sprachmaterial in Lehrgangsform und auf einer wesentlich schmaleren Basis, als dies beim natürlichen bilingualen Aufwachsen möglich ist. Dies hängt zusammen mit der divergierenden Begriffsentwicklung in den beiden Sprachen: In der Zweito d e r Fr e m d s p r a c h e k a n n nicht immer auch schon ausgedrückt oder sprachlich erfasst werden, was in der (dominanten) Muttersprache s p r a c h l i c h bereits möglich ist. S stematisch gesteuertes frühes Fremdsprachenlernen in zeitlich begrenzten Lernkontexten ist a n d e r e r s e i t s effizient, da das Sprachmaterial durch Selektion und Anordnung für die zur Verfügung stehende Zeit strukturiert und im Hinblick auf bestimmte Kompetenzen v e r m i t t e l t wird, was die Einordnung in bereits vorhandene Wissensstrukturen erleichtert. Fehlerkorrekturen der Lehrkräfte tragen dazu bei, sprachliche H pothesen schnell zu überprüfen, wofür beim natürlichen Spracherwerb mehr Zeit zur Verfügung steht. 4. Fazit Zweisprachiger Unterricht bietet Schulkindern klare Vorteile. Sie zu berücksichtigen bedeutet auch, wichtige kindliche Potenziale und Prädispositionen zu nützen (vgl. F RANCESCHINI 2008): Individuelle Lernstrategien und sprachliche Problemlösungsbzw. Entscheidungskompetenzen sind möglich durch den kognitiven Vorteil, der sich auch in anderen Bereichen, wie beispielsweise beim Rechnen, auswirkt Er führt auch dazu, dass eine parallele Alphabetisierung noch im Vorschulalter stattfinden kann (vgl. B URMEISTER / P ASTERNAK 200 : 2 W ODE et al. 2002: 1 ff.) und die Aufnahme weiterer Sprachen vorbereitet wird. Diese werden dann mit den gleichen Strategien verarbeitet und erlernt. Die aktive Verwendung von zwei Sprachen wirkt sich förderlich auf die Wahr- 16 Heiner Bö ttger 46 (2017) • Heft 2 46 nehmung sprachlicher Muster und d e r e n ualitative, kogn i t i v e Verarbeitung aus , beispielsweise im Bereich der Aussprache und dem Satzbau (vgl. F RANCESCHINI 2008). Alle vorhandenen bekannten und bewiesenen Prädispositionen und Potenz i a l e r e l a t i v i e r e n im Grunde die Frage nach Über- oder Unterforderung von Schulkindern beim frühen Fremdsprachenlernen. Sie weisen darauf hin, dass alle Voraussetzungen für ein erfolgreiches frühes Fremdsprachenlernen gegeben wären und genützt werden können. Dies geschieht auch institutionalisiert in der Grundschulzeit. In der Regel, d.h. ohne krankheitsbedingte Veränderungen, Retardierungen oder klinische Befunde, sind darüber hinaus d i e individuellen ph sischen und mentalen Voraussetzungen für ein natürliches, zwei- oder mehrsprachiges Aufwachsen vorhanden. Die Aufgabe aller am kindlichen Spracherwerb Beteiligten ist, Angebote, Aufgabenformate und Kontexte zu schaffen, in denen dies auch möglich ist. Literatur A N TÓ N , Eneko et. al. (2014): „Is there a bilingual advantage in the ANT task? Evidence from child r e n “. In: F rontiers in Psychology , 8. DOI: 10. 8 / fps g.201 .00 8. 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Special emphasis is laid on earl attempts during the time of pedagogical reform movements at the end of the 1 th centur . This proved to be without conse uences for further developments and a new start after the Second World War was necessar . From the 1 0s onwards there were numerous successful experiments in primar school foreign language teaching. Although positive reports from schools were published in the relevant educational journals, foreign language learning in the primar schools was not introduced on a large scale. Onl with the beginning of a growing European unification movement towards the end of the last centur , motivation for earl language learning became a major pedagogical and political concern. This led to an extensive introduction of foreign language learning in schools, combined with interesting research projects. Finall , in 2001 foreign language teaching, mainl English, became obligator in all 1 German federal states. 1. Anfänge bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 1.1 F remd sprachenunterri cht Die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland ist wissenschaftlich relativ gut aufgearbeitet worden (vgl. R EINFRIED 201 , DE C ILLIA / K LIPPEL 201 , L EHBERGER 2007). Bezogen auf das frühe Fremdsprachenlernen steht für eine gründliche historische Gesamtdarstellung allerdings lediglich der erste Band der zweibändigen Monografie von Angelika K UBANEK -G ERMAN (2001) zur Verfügung. Der Erwerb einer neueren Fremdsprache spielte vom Mittelalter bis in die zweite Hälfte des 1 . Jahrhunderts kaum eine Rolle. Latein galt als lingua franca und internationale Bildungssprache und war „alleiniges Kommunikationsmittel in den Schul e n “ (L EHBERGER 2007: 0 ). „Die in den Klosterschulen s stematische Unterweisung des für Liturgie und Verwaltung notwendigen Lateins ist der erste Fremdsprachenunterricht auf deutschsprachigem Boden“ (ebd.). Unterricht in den lebenden Fremdsprachen gab es für Französisch und Italienisch z.B. in deutschen Handelsstädten im 1 ./ 1 . Jahrhundert, angeboten von Sprach- * K orrespond enz ad resse: StD. a.D. O tfri ed B Ö R N E R , Fahrenkrön e, 221 H AMBURG . E- Mail: ogb arcor.de Arbeitsbereiche: Fremdsprachen in der Grundschule, Lehrwerkentwicklung, Umgang mit Heterogenität.