eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 37/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
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Narr Verlag Tübingen
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2008
371 Gnutzmann Küster Schramm

Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im fremdsprachlichen Literaturunterricht

2008
Eva Leitzke-Ungerer
* Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Eva L EITZKE -U NGERER , Martin-Luther-Universität Halle, Institut für Romanistik, 06099 H ALLE . E-mail: eva.leitzke-ungerer@romanistik.uni-halle.de Arbeitsbereiche: Kreative und offene Unterrichtsformen, Film im Fremdsprachenunterricht, Mehrsprachigkeitsdidaktik, Regionalkulturen der Romania im Fremdsprachenunterricht. 37 (2008) E VA L EITZKE -U NGERER * Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im fremdsprachlichen Literaturunterricht Hörspielarbeit mit französischen, spanischen und italienischen Texten Abstract. The attractiveness of literary texts in the foreign-language classroom can be increased by asking students to transform them into plays, or more specifically, into radio plays. This method can be applied not only to dramatic texts and narrative prose, but also to poetry. The transformation is straightforward if the poem contains the outline of a plot, which can be turned into suitable speaking roles and supported by music and acoustic effects. In the case of lyric poetry, other types of transformation may be necessary, like creating a combination of dialogue and an interior monologue representing the lyric persona. A more radical solution ‚deconstructs‘ the poem by adding additional plot elements; this may deviate from the mainstream interpretation, but it will add an interesting creative experience for the students. 1. Einleitung Dass die Rezeption von literarischen Texten einen Prozess darstellt, in den der Leser als sprachverarbeitendes, denkendes und fühlendes Subjekt aktiv eingebunden ist, ist heute zwar allgemein anerkannt; das Problem, wie Schüler gerade im Fremdsprachenunterricht zur vertieften Auseinandersetzung mit dem literarischen Text motiviert werden können, ist damit aber noch keineswegs gelöst. Als klassische Methode gilt die Textanalyse und, daran anschließend, die Textinterpretation, ein Verfahren, das sich primär auf die intellektuellen Fähigkeiten der Lerner stützt und deshalb nicht alle Schüler einer Klasse gleichermaßen ansprechen wird. Beliebter sind kreativ-produktive Zugangsformen wie die Füllung von Leerstellen im Handlungsablauf einer Erzählung oder das Verfassen einer neuen Anfangs- oder Endpassage; diese können allerdings zu einer Verselbständigung des kreativen Verfahrens auf Kosten des zugrunde gelegten literarischen Texts führen. Eine in der Unterrichtspraxis nach wie vor unterschätzte Möglichkeit, kreative Impulse mit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Text zu verbinden, bietet die Inszenierung von literarischen Texten. Ein natürliches Endprodukt ist die Theateraufführung, die vor einem realen Publikum stattfinden oder als Videoaufnahme festgehalten werden kann; hier wird die visuelle mit der akustischen Inszenierung kombiniert. Doch auch die rein akustische Inszenierung, d.h. die Produktion eines Hörspiels auf der Basis eines literari- Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 165 1 Noch weniger aufwendig ist das Texttheater (in Anlehnung an Augusto Boals Zeitungstheater), in dem Texte collageartig verknüpft und in einer dramatischen Lesung in Szene gesetzt werden (vgl. L EITZKE -U NGERER 2006). 37 (2008) schen Texts, kann dazu genutzt werden, die Motivation der Schüler im Literaturunterricht zu steigern und zugleich eine intensive Beschäftigung mit dem Ausgangstext herbeizuführen. Dass das Hörspiel mit vier rein akustischen Mitteln - Stimme, Musik, Geräusch und Pause - im Kopf des Hörers Vorstellungen, ja sogar ‚Bilder‘ evoziert (E VERLING 1988: 12-13; H ICKETHIER 2003: 301), ist für die Lerner sowohl Anreiz als auch Herausforderung. Aus fremdsprachendidaktischer Sicht ist von Bedeutung, dass im Hörspiel das gesprochene Wort zentral ist und daher die Arbeit mit dem Text und der Sprache im Mittelpunkt steht. Gefördert werden dabei alle vier kommunikativen Fertigkeiten, wobei dem Aussprachetraining ein besonderer Stellenwert zukommt. Die Überlegungen zum Einsatz von Musik und Geräuschen stellen zudem einen für Schüler interessanten Sprechanlass dar. Aus unterrichtspraktischer Sicht ist entscheidend, dass sich ein Hörspielprojekt mit wesentlich geringerem Aufwand vorbereiten und durchführen lässt als eine Theateraufführung bzw. eine Videoproduktion 1 , auch wenn die Aufzeichnung dank entsprechender Software inzwischen gleichermaßen unproblematisch ist. Die Produktion von Hörspielen im muttersprachlichen Unterricht (stellvertretend: E VERLING 1988), aber auch im Englischunterricht (G ROENE 1980a/ 1980b) ist schon früh diskutiert und immer wieder, auch fächerverbindend mit dem Fach Musik, aufgegriffen worden (u.a. G ROENE 2001; J ENDROK o.J.; P ÖTTINGER 1997; R EHM 2003; T HIERSCH 2000). Für die romanischen Sprachen, um die es im vorliegenden Beitrag geht, gibt es bislang jedoch keine konkreten Vorschläge. Außerdem richtet sich das Augenmerk der Fachliteratur meist auf die Umsetzung von dramatischen und narrativen Texten; im Folgenden wird dieses Spektrum erweitert, indem die Eignung von Gedichten für eine akustische Inszenierung untersucht und die Ergebnisse von exemplarischen Inszenierungen vorgestellt werden sollen. Ausgewählt wurden dazu Texte aus der neueren französischen, spanischen und italienischen Literatur. 2. Die Ausgangstexte: Erzählungen und Gedichte Fragt man sich, welche literarischen Gattungen als Vorlage für die Hörspielproduktion am besten geeignet sind, so wird man sich, wie schon angedeutet, zunächst für Theaterstücke und andere dramatische Texte entscheiden; diese Texte haben den Vorteil, dass sie bereits in szenischer Form vorliegen und nur noch den Besonderheiten des auditiven Mediums Hörspiel angepasst werden müssen. Als zweite Gattung wird man an narrative Texte denken (Romane und Erzählungen), die Figuren und eine Handlung aufweisen und sich deshalb gut in eine szenische Form umsetzen lassen. Diese Prioritäten gelten für die außerschulische kommerzielle Hörspielproduktion (Rundfunk; Hörbuchmarkt), im unterrichtlichen Kontext aber nur dann, wenn man in erster Linie das Hörspiel als Endprodukt im Auge hat, nicht aber die sprachliche Leistung, die mit der Erstellung der 166 Eva Leitzke-Ungerer 2 Weitere Beispiele narrativer Texte, deren Umsetzung in ein Hörspiel z.T. mit Studierenden erprobt wurde, sind: Kriminalgeschichten von V ARGAS (Französisch) und García P AVON (Spanisch), kürzere Novellen von M AUPASSANT und L E C LÉZIO (Französisch), lateinamerikanische cuentos des magischen Realismus und seiner Vorläufer (Q UIROGA ; B ORGES ; F UENTES ; G ARCÍA M ÁRQUEZ ; A LLENDE u.v.a.), für das Italienische weiterhin R ODARI (Favole al telefono: bereits ab dem 2. Lernjahr), aber etwa auch Erzählungen von P IRANDELLO , M ORA - VIA , S CIACIA u.v.a. 3 Vgl. z.B. die Hörspielfassung von G OETHE s Ballade Der Zauberlehrling (in R EHM 2003: 22-29). 4 Weitere geeignete narrative Gedichte sind z.B.: für Französisch: C HARPENTREAU , La Rue Mouffetard, L A F ONTAINE , La cigale et la fourmi, P RÉVERT , La grasse matinée; für Spanisch: C ELAYA , Biografia, G OYTISOLO , Autobiografia, H IERRO , Requiem; für Italienisch: R ODARI , Ferragosto, L’accelerato, Il paese dei bugiardi. 37 (2008) Textvorlage für die Hörspielfassung verbunden ist. Diese sprachliche Leistung ist im Fall von narrativen Texten sehr viel mehr gefordert, da bei der Überführung in eine szenische Fassung, die nur akustisch dargeboten wird, zahlreiche Änderungen am Text vorgenommen werden müssen. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich daher zunächst auf narrative Texte. Aus unterrichtspraktischen Gründen ist es ratsam, die Textauswahl auf kürzere Erzählformen (Novellen, (Kurz-)Geschichten, Märchen, Fabeln) zu beschränken. Günstig ist es außerdem, wenn der Ausgangstext bereits Dialoge enthält; diese sollten auf nicht mehr als vier bis fünf Figuren verteilt sein, die sich auch stimmlich gut differenzieren lassen. Schließlich sollte eine personale Erzählsituation vorliegen. Denn im Gegensatz zum Ich-Erzähler und zum auktorialen Erzähler ist der personale Erzähler als Erzählinstanz am wenigsten dominant; gleichzeitig erzählt er aus der Innenperspektive der Figuren. Beides zusammengenommen ermöglicht es, narrative Passagen des Ausgangstexts entweder auf ein Minimum zu beschränken oder sie in Dialoge und Monologe der handelnden Figuren aufzulösen. Ein Text, der diese verschiedenen Bedingungen erfüllt, ist die Kurzgeschichte La canzone del cancello von Gianni R ODARI ; dieser Text weist zudem - wie sich noch zeigen wird - die im Hinblick auf die akustische Inszenierung reizvolle Besonderheit auf, dass er das Abspielen einer Melodie, also einen musikalischen Effekt, als Teil der Handlung thematisiert. 2 Das Hauptinteresse des vorliegenden Beitrags gilt jedoch nicht den narrativen Prosatexten, sondern der Frage, in welchem Maß sich auch Gedichte für die akustische Inszenierung eignen. Dass man auch hier zunächst an diejenigen Gedichte denkt, in denen handelnde Figuren auftreten, eine Geschichte erzählt wird und bereits Dialoge vorhanden sind, versteht sich von selbst. Als Prototyp dieses narrativen Gedichts gilt in der deutschen Literatur die Ballade, die viele der Qualitäten aufweist, die oben für hörspielgeeignete narrative Prosatexte angeführt wurden. 3 In der neueren französischen, spanischen und italienischen Literatur sind es eher einzelne Autoren, die in ihren Gedichten Geschichten erzählen, darunter der schon erwähnte italienische Schriftsteller Gianni R ODARI oder Jacques P RÉVERT in Frankreich, dessen Gedicht Page d’écriture aus der Sammlung Paroles hier als Beispiel ausgewählt wurde. 4 Neben diesem Sonderfall des narrativen Gedichts eignen sich aber auch Texte, die als typische Vertreter ihrer Gattung gelten können, da sie im eigentlichen Sinn ‚lyrisch‘ sind, d.h. einen Eindruck, eine Stimmung, ein Gefühl des lyrischen Ich zum Ausdruck bringen, Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 167 37 (2008) dabei vordergründig oft handlungsarm wirken und viele semantische Leerstellen aufweisen. Dass sich ein solcher Text nicht schematisch in das Hörspielformat umsetzen lässt, verwundert nicht. Die akustische Inszenierung wird hier viel freier sein: Die Dialoge müssen nicht explizit aufeinander bezogen sein, sie werden ergänzt durch innere Monologe, die stimmlich abgesetzt sind, die Musik wird versuchen, nicht nur die Stimmung der Personen, sondern auch die Atmosphäre und die Musikalität des Gedichts als Ganzem einzufangen. Zumindest für den Einstieg in die Hörspielproduktion bieten sich Gedichte an, deren Gehalt sich - bei aller lyrischen Subjektivität - zumindest an der Oberfläche relativ konkret fassen lässt. Hier kommen etwa Stadt- und Naturgedichte in Frage, die Ansatzpunkte für eine szenische Gliederung und für unterschiedliche Sprecherrollen bieten und außerdem eine Untermalung durch spezifische Geräusche und Musik suggerieren. Beide Themenbereiche werden im Folgenden exemplarisch aufgegriffen, das Stadtgedicht anhand von Guillaume A POLLINAIRE s Le Pont Mirabeau, die Naturthematik durch das Gedicht La playa des Spaniers Eloy S ÁNCHEZ R OSILLO . 3. Vom literarischen Text zum Hörspiel: Die methodischen Schritte Als Rahmen für die Hörspielarbeit im Literaturunterricht empfiehlt sich das in der Forschung bereits mehrfach beschriebene Vier-Phasen-Modell, bestehend aus Texterschließung, Skripterstellung, Tonaufnahme und Präsentation der Produkte (vgl. u.a. G ROENE 2001: 349-351; N ÜNNING / S URKAMP 2006: 291-294). Hörspielunerfahrene Schüler sollten in einer vorgeschalteten Phase in die Spezifik der Gattung eingeführt werden. Abb. 1 gibt einen Überblick über den methodischen Ablauf, der von mir jedoch modifiziert und erweitert wurde. P HASEN DER H ÖRSPIELPRODUKTION 1. Einführung in die Hörspielproduktion (Plenum) C Erarbeitung der Merkmale des Hörspiels anhand von Hörbeispielen C Sammlung von Strategien und Tipps für die Hörspielproduktion (insbes. zu: Gestaltungsidee, Skripterstellung, Rollengestaltung und Tonaufnahme) 2. Erarbeitung der literarischen Ausgangstexte (Gruppenarbeit und/ oder Plenum) C (nach vorheriger Lektüre der Texte) Sammlung erster Eindrücke zu Inhalt und Form C Einsatz besonderer Formen des lauten Lesens wie z.B. kommentierendes Lesen (Gedichte) und Rollenlesen (Erzählungen) C Einigung auf eine Interpretation in den Gruppen bzw. im Plenum 3. Entwicklung der Gestaltungsidee (Gruppenarbeit) C Hörspiel als Vorgeschichte bzw. Fortsetzung des literarischen Texts oder Text als zentraler Bestandteil des Hörspiels C Verstärkung der Intention des literarischen Texts oder Gegenentwurf (kritische/ ironische Umgestaltung, Dekonstruktion) 168 Eva Leitzke-Ungerer 37 (2008) 4. Erstellung des Skripts: Umsetzung des literarischen Texts in einen Hörtext (Gruppenarbeit) C Gliederung in einzelne Szenen oder szenenartige Blöcke C Festlegung der Sprecherrollen C Textbearbeitung (Kürzungen, Erweiterungen, Umformungen) C Festlegung der Regieanweisungen für den Sprechtext C Festlegung von Geräuschen und Musik C Dokumentation: Das fertige Skript 5. Erstellung der Tonaufnahme (Gruppenarbeit) C Mehrmaliges Probelesen des Skripts C Aufnahme in Echtzeit (gleichzeitige Aufnahme von Text, Musik und Geräuschen) oder getrennte Aufnahme von Sprechtext, Musik und Geräuschen (mit späterer Bearbeitung durch Softwareprogramm) 6. Präsentation der Tonaufnahme und Evaluation (Plenum) C Anhören der Tonaufnahmen C Evaluation: Bewertung der Hörspiele, ggfs. auch des gesamten Hörspielprojekts Abb. 1: Erweitertes Phasenmodell der Hörspielproduktion zu literarischen Texten So trägt z.B. Phase 2, die Erarbeitung der literarischen Ausgangstexte, dem auditiven Charakter des späteren Hörspiels dadurch Rechnung, dass mit dem kommentierenden Lesen von Gedichten (vgl. N ÜNNING / S URKAMP 2006: 98) und dem Rollenlesen von Erzählungen besondere Formen des lauten Lesens zum Einsatz kommen. Ferner betrachte ich, gerade im Hinblick auf die akustische Inszenierung von Gedichten, die Entwicklung der Gestaltungsidee als eine zentrale und daher separate methodische Phase. Die folgenden Detailerläuterungen beziehen sich auf die wichtigsten Arbeitsschritte, beginnend mit der Gestaltungsidee. 3.1 Entwicklung der Gestaltungsidee Wie aus Abb. 1 (oben) hervorgeht, folgt auf die einleitende Vorstellung des Mediums Hörspiel und die erste Erschließung der Ausgangstexte die Entwicklung einer Regie- oder Gestaltungsidee für die akustische Inszenierung. Dabei ist zunächst die grundsätzliche Entscheidung zu treffen, ob der Text nur als Anlass für die Erstellung eines Hörspiels dienen soll, in dem dann aber eine mögliche Vorgeschichte oder eine zum Text passende Fortsetzung entworfen wird; diesen Vorschlag macht etwa T HIERSCH (2000: 426) in Bezug auf ein englisches Gedicht. Ein solches Konzept gewährt zwar den Schülern das größte Maß an kreativer Freiheit; der durch eine derartige Hörspielarbeit geleistete Beitrag zum Verständnis des literarischen Ausgangstexts ist jedoch relativ gering. Wählt man die Alternative und versteht man die akustische Inszenierung als einen Weg, den vorhandenen literarischen Text besser zu verstehen, wie dies hier beabsichtigt ist, so kann dies auf zweierlei Weise geschehen: Durch eine Verstärkung der Textintention oder durch eine kritische Auseinandersetzung mit ihr, die bis zur Dekonstruktion reichen kann. Der erste Weg, auf schulischem Niveau sicher der einfachere und hier Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 169 37 (2008) bereits ab dem zweiten oder dritten Lernjahr möglich, bietet sich vor allem dann an, wenn der Text durch einen deutlichen Kontrast gekennzeichnet ist, wie dies für P RÉVERT s Page d’écriture (als Beispiel des narrativen Gedichts) und für R ODARI s Erzählung La canzone del cancello zutrifft. In Page d’écriture stehen die Phantasie des Kindes und die ursprüngliche Natur (verkörpert durch den Vogel am Fenster des Klassenzimmers) im Gegensatz zur Monotonie des Schulalltags (repräsentiert durch eine Mathematikstunde). Beides ist im Text durch das Gespräch des Kindes mit dem Vogel bzw. durch die schematischen Rechenübungen des Lehrers schon szenisch angelegt und fordert zur Untermalung mit Vogelgesang, Musik und Geräuschen geradezu heraus. In La canzone del cancello wird die Phantasie des Kindes, das im Klang der Eisenstäbe des Zauns die schönsten Melodien hört, mit der nüchternen Perspektive der Erwachsenenwelt konfrontiert, in der dieser Klang nur als störender Lärm empfunden wird. Auch hier sind beide Perspektiven bereits in den in die Erzählung eingebetteten Dialogen und inneren Monologen angelegt und lassen sich auch musikalisch gut kontrastieren (vgl. Abschnitt 4.2). Von den beiden verbleibenden Beispielen weist S ÁNCHEZ R OSILLO s Gedicht La playa zwar ebenfalls einen Gegensatz auf, dessen erster Pol - ein Vater erzählt von einem glücklichen, zeitenthobenen Sommermorgen, den er mit seinem Kind am Strand verbringt - sich durchaus für eine dialogische Gestaltung anbietet. Der Gegenpol - das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit angesichts des „schrecklichen Lärms der rasenden Zeit“ (Z. 24-25) - ist jedoch szenisch weniger leicht zu fassen, auch wenn der Text (vgl. Zitat) Hinweise zur klanglichen Untermalung enthält. Hier wird sich zeigen müssen, mit welchen Mitteln der akustischen Inszenierung die Verstärkung der Textintention zu erreichen ist. Während La Playa aufgrund der narrativen Ansätze eher im Randbereich des lyrischen Gedichts anzusiedeln ist, handelt es sich bei A POLLINAIRE s Le Pont Mirabeau um ein recht prototypisches Beispiel dieser Gattung. Hier ist die melancholische Stimmung der Vergänglichkeit, in der das lyrische Ich beim Anblick der Seine bis zur Verzweiflung versinkt, die dominante Textaussage, die man durch Geräusche wie z.B. das Fließen des Wassers oder eine passende musikalische Untermalung durchaus verstärken könnte. Wie aber lässt sich die Inszenierung als ‚Spiel‘ fiktiver Charaktere, die im Konzept des Hörspiels nun einmal impliziert ist, hier verwirklichen? Dies ist der Punkt, an dem sich die Frage nach der Zulässigkeit einer ‚Dekonstruktion‘ des Gedichts stellt, denn nur so können, wie sich in Abschnitt 4.4. zeigen wird, Sprecherrollen und damit eine szenische Fassung geschaffen werden. Für Oberstufenschüler würde dies sicher eine reizvolle Herausforderung darstellen und sie zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Text veranlassen; allerdings bringt eine solche Inszenierung eben auch eine gewisse Umdeutung des Gedichts mit sich. 3.2 Umsetzung des literarischen Texts in einen Hörtext: Die Skripterstellung In der Phase der Skripterstellung geht es um die Transformation des literarischen Texts in einen Hörtext. Wichtig ist, dass sich die Bearbeiter darüber im Klaren sind, dass der Sprecher im Hörspiel ‚körperlos‘ ist, dass er, wie eingangs erwähnt, nur durch seine 170 Eva Leitzke-Ungerer 37 (2008) Stimme existiert und dass darüber hinaus als Ausdrucksmittel wirklich nur Geräusche, Musik und Pausen zur Verfügung stehen. Dies muss schon beim ersten Arbeitsschritt, der Gliederung des Ausgangstexts in einzelne Szenen (bei den lyrischen Gedichten wird es sich eher um szenenartige Blöcke handeln), berücksichtigt werden. Ein Szenenwechsel (E VERLING 1988: 57-58) kann explizit nur durch verbale Vorankündigung in der vorhergehenden Szene oder durch verbale Neufixierung von Ort, Zeit oder Personen unmittelbar zu Beginn der neuen Szene ausgedrückt werden, implizit außerdem durch Pausen sowie das Aus-, Ein- und Überblenden von Geräuschen und Musik (in den Beispielen in Abschnitt 4 wird der zweite Weg gewählt). Bei der Festlegung der Sprecherrollen als nächstem Arbeitsschritt geht es im Fall von narrativen Texten darum, bereits vorhandene, in die Erzählung eingebettete Dialoge zu nutzen und die narrativen Passagen durch Rückgriff auf diese Dialogrollen umzuformen; die für das szenische Spiel untypische Rolle des Erzählers sollte entfallen oder auf ein Minimum reduziert werden. Gute Ansatzpunkte hierfür bieten die Skripts zum narrativen Gedicht Page d’écriture (vgl. 4.1) und zur Erzählung La canzone del cancello (vgl. 4.2). Etwas anders liegt der Fall bei Gedichten, die sich als Aussage eines lyrischen Ich verstehen. Hier müssen unterschiedliche Sprecherrollen oft erst geschaffen werden, und zwar so, dass sie den Gedichttext dialogisch-szenisch lebendig gestalten, gleichzeitig aber mit der intendierten Gestaltungsidee konform gehen. In Frage kommen Rollen, die unterschiedliche Facetten des lyrischen Ich repräsentieren (wobei die Erzählerfunktion wiederum nicht überstrapaziert werden sollte), aber auch Personen, die im Gedicht explizit genannt werden, sowie neu hinzu erfundene Figuren. Viele dieser Hinweise sind in den Hörspielskripts zu den Gedichtbeispielen La Playa und Le Pont Mirabeau verwirklicht (vgl. 4.3 und 4.4). Was die Details der Textbearbeitung betrifft, so lassen sich bei Erzählungen aus praktischen wie dramaturgischen Gründen Kürzungen nicht vermeiden. Dies gilt auch für La canzone del cancello, wobei die Kürzungen hier eher zu verschmerzen sind, da sie zum Teil durch die handlungstragende Musik ersetzt werden. Bei den lyrischen Gedichten dagegen sollte die Textvorlage mehr oder weniger vollständig beibehalten werden. Kleinere Änderungen im Zuge der Überführung in die szenische Form (Anpassung von Pronomina und Tempora; Wechsel der Satzart etc.) sind jedoch gestattet, ebenso wie die Einfügung neuer Textteile, sofern sie dazu dienen, die Gestaltungsidee umzusetzen. Wenn in solchen dramaturgisch bedingten Einschüben Passagen oder Wörter aus dem Ausgangsgedicht wieder aufgenommen werden (wie dies in den Skripts zu La Playa und Le Pont Mirabeau vorgesehen ist; vgl. 4.3 und 4.4), mildert dies den Eingriff in die Substanz des Texts. Eng verbunden mit der Erstellung des Sprechtexts sind die Regieanweisungen für die Sprecher, die neben der Lautstärke die emotionale Komponente (freudig, traurig, wütend, ängstlich, gleichgültig etc.) berücksichtigen. Dabei sollten die Schüler nicht nur den einzelnen Dialogbeitrag im Auge haben, sondern sich auch bemühen, wirksame Regiesequenzen zu schaffen - etwa die Steigerung von ‚melancholisch‘ zu ‚verzweifelt‘ (Rolle des Mannes in Le Pont Mirabeau, vgl. 4.4) oder auch in sich kontrastierende Sequenzen wie ‚spannungsvoll - monoton - laut - spannungsvoll‘ (Szene 3 in Page d’écriture, 4.1). Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 171 5 Aus Platzgründen musste in den Skripts auf entsprechende Hinweise verzichtet werden. 6 Wie z.B. http: / / voyard.free.fr/ textes_audio/ bruitage.htm für Französisch. 37 (2008) 3.3 Geräusche und Musik Sind Geräusche und Musik integraler Bestandteil der Handlung, wie etwa der Schuss in einer Kriminalerzählung, oder - in den hier behandelten Texten - der Klang der Gitterstäbe in La canzone del cancello oder der Vogelruf in Page d’écriture, so sollten sie möglichst naturgetreu erzeugt und an den entsprechenden Stellen des Handlungsablaufs eingefügt werden. Doch damit sind die Gestaltungsmöglichkeiten durch Geräusche und Musik keineswegs erschöpft. Sie reichen von der realistischen Geräuschuntermalung (wie z.B. Meeresrauschen, Küchengeräusche, zerbrechendes Glas in La Playa, 4.3) über den ikonischen Einsatz (z.B. absteigende Tonleiter für den herabflatternden Vogel, Page d’écriture, 4.2) bis zur Schaffung einer positiven oder negativen, freudigen, bedrohlichen oder melancholischen Atmosphäre (z.B. La Playa, 4.3, und Le Pont Mirabeau, 4.4). In dieser letzten und wohl wichtigsten Funktion ist die Position von Geräuschen und Musik im Verhältnis zum Sprechtext nur dann festgelegt, wenn es sich um eine atmosphärische Einstimmung oder einen entsprechenden Ausklang handelt. Für den Einsatz im Lauf der Inszenierung besteht grundsätzlich die Wahlmöglichkeit, Geräusche und Musik sukzessiv, d.h. im Wechsel mit dem gesprochenem Text, simultan oder teilweise überlappend mit dem Text einzusetzen, wobei sich durch die Möglichkeit des Ein-, Aus- und Überblendens zahlreiche Varianten ergeben. 5 Über die Beschaffung der einmal ins Auge gefassten Geräusche und Musik muss man sich im Medienzeitalter wenig Gedanken machen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sich die Lerner allein auf das Internet oder auf Kauf-CDs verlassen und sich gar nicht mehr bemühen, Geräusche und Musik selbst zu erzeugen. Dies wäre bedauerlich, denn auch mit solchen Aufgaben kann man Schülerinnen und Schüler zur Auseinandersetzung mit einem literarischen Text motivieren. So lässt sich, wie für das Gedicht Page d’écriture (4.2) vorgeschlagen, das monotone Chorsprechen der Rechenaufgaben mit Rhythmusinstrumenten (Kastagnetten, Klanghölzer etc.) unterlegen und der Vogelruf mit einer Flötenmelodie wiedergeben, die auch noch variiert werden kann. Geräusche wie das Rieseln von Sand (Page d’écriture, 4.2) oder das Rauschen des Meeres in La Playa (4.3) können von den Schülern selbst produziert werden; die Beschäftigung mit einer fremdsprachlichen ‚Geräuschewerkstatt‘ 6 fördert außerdem die Sprachkompetenz. 3.4 Dokumentation: Das fertige Skript Für das fertige Skript, als Dokumentation der bisherigen Arbeitsschritte und als Rollenskript für die anschließende Tonaufnahme, hat sich eine tabellarische Form bewährt, die Spalten für die Szenen, die Rollen, den Sprechtext, Regieanweisungen für die Sprecher und eine Spalte für Musik und Geräusche vorsieht. Diese Vorlage kommt auch in den Skripts für die hier ausgewählten Texte zur Anwendung. Eine explizite Notation von Geräuschen und Musik (wie sie J ENDROK (o.J.) für ein fächerverbindendes Hörspiel- 172 Eva Leitzke-Ungerer 7 An der Hörspielproduktion waren folgende Studierende beteiligt: Julia Mokosch (von ihr stammt auch die Vogelruf-Melodie, vgl. Abb. 2 [S. 173]) sowie Constance Beck, Kristin Giolbas, Christine Kentschke, Nadine Werg, Gryzyna Werner (Page d’écriture), Katharina Glanz, Juliane Götze, Alexander Lebek, Franziska Röder, Angela Schaef (La canzone del cancello), Kati Henschler, Alla Klimenkowa, Julia Prast, Kathrin Rehfeld (La Playa), Michael Schneider (federführend), Alida Koch, Vivien Könnemann (Le Pont Mirabeau). 37 (2008) projekt Deutsch-Musik vorschlägt) kann hier nur exemplarisch für den Vogelruf im Skript von Page d’écriture (Abb. 2) gezeigt werden. 4. Das Endprodukt: Die akustische Inszenierung als Kurzhörspiel Die folgenden Vorschläge für die akustische Inszenierung der Beispieltexte wurden im Wesentlichen im Rahmen meines Seminars ‚Sprache und Musik im Fremdsprachenunterricht‘ im WS 2007/ 08 erarbeitet. 7 Vorgestellt werden hier die Skripts, die der Tonaufnahme zugrunde gelegt wurden, wobei das Skript für die Erzählung La canzone del cancello aus Platzgründen nur in Auszügen erscheint; die Skripts für die Gedichte Page d’écriture, La Playa und Le Pont Mirabeau werden vollständig wiedergegeben. 4.1 Jacques P RÉVERT , Page d’écriture Das Gedicht aus der Sammlung Paroles (1949) ist typisch für die Gedichte und Geschichten von Jacques P RÉVERT (1900-1977), die vielfach um die Flucht aus dem Alltag in die Welt der Phantasie, der Freiheit, der Träume kreisen und im Französischunterricht gerne und häufig gelesen werden. Page d’écriture erzählt von einer Mathematikstunde, in der der Lehrer die Kinder mit dem Aufsagen von Rechenaufgaben traktiert. Plötzlich aber sitzt ein Vogel, der „oiseau-lyre“ auf der Fensterbank, und die Stunde nimmt eine ungeahnte Wendung: Die Kinder spielen mit dem Vogel, sie hören sein Lied; die Zahlen geraten durcheinander und machen sich einfach davon; Tische, Fenster, das ganze Klassenzimmer löst sich auf, der Federhalter wird wieder zum Vogel. Das Gedicht kann aufgrund seiner Thematik - welcher Schüler würde einer langweiligen Schulstunde nicht auch gerne entfliehen? - und seines geringen sprachlichen Schwierigkeitsgrads bereits am Ende des zweiten Lernjahrs eingesetzt werden. Personnages Texte Ton de lecture Musique et bruitage 1 Élèves Maître Élèves Deux et deux quatre quatre et quatre huit huit et huit font seize Répétez ! Deux et deux quatre quatre et quatre huit huit et huit font seize monotone, blasé à voix forte, sévère monotone, blasé Élèves qui bavardent; sonnerie Castagnettes : rythme monotone Castagnettes : rythme monotone Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 173 Personnages Texte Ton de lecture Musique et bruitage 37 (2008) 2 Narrateur Enfant Narrateur Enfant Mais voilà l’oiseau-lyre qui passe dans le ciel l’enfant le voit Ah … ! l’enfant l’entend l’enfant l’appelle : Sauve-moi joue avec moi oiseau ! posé étonné posé surpris impératif gai Flûte : cri d’oiseau Flûte : cri d’oiseau 3 Narrateur Élèves Maître Narrateur Alors l’oiseau descend et joue avec l’enfant Deux et deux quatre … Répétez ! et l’enfant joue l’oiseau joue avec lui … avec suspense monotone à voix forte avec suspense Flûte : gamme descendante - Cri d’oiseau Castagnettes : rythme monotone Flûte : cri d’oiseau 4 Élèves Maître Enfant Narrateur Quatre et quatre huit huit et huit font seize et seize et seize qu’est-ce qu’ils font ? Ils ne font rien seize et seize et surtout pas trente-deux de toute façon et ils s’en vont. monotone interrogatif affirmatif têtu triomphant Castagnettes : rythme monotone Flûte : notes de musique en désordre Flûte : gamme montante 5 Narrateur Élèves Narrateur Élèves Narrateur Maître Et l’enfant a caché l’oiseau dans son pupitre et tous les enfants entendent sa chanson et tous les enfants entendent la musique et huit et huit à leur tour s’en vont h-u-i-t et h-u-i-t et quatre et quatre et deux et deux à leur tour fichent le camp q-u-a-t-r-e et q-u-a-t-r-e et d-e-u-x et d-e-u-x et un et un ne font ni une ni deux un à un s’en vont également. Quand vous aurez fini de faire le pitre ! à voix basse, mais insistante plus fort triomphant à voix basse ; lent triomphant à voix basse ; lent triomphant énervé Pupitre qui se rabat Flûte : chant de l’oiseau Effet d’écho Flûte : chant d’oiseau L’enfant chante « Le coq est mort » 6 Narrateur Mais tous les autres enfants écoutent la musique et les murs de la classe s’écroulent tranquillement. posé incantatoire, avec suspense Flûte : chant de l’oiseau 174 Eva Leitzke-Ungerer Personnages Texte Ton de lecture Musique et bruitage 37 (2008) Narrateur - Enfant N: Et les vitres redeviennent E: … sable N: l’encre redevient … E: … eau N: les pupitres redeviennent E: … arbres N: la craie redevient … E: … falaise N: le porte-plume redevient E: … oiseau Enfant : enthousiaste Sable qui s’écoule Clapotement d’eau Bruit de feuilles Bruit d’une chute d’eau Flûte : chant de l’oiseau Abb. 2: Skript zur akustischen Inszenierung von P RÉVERT , Page d’écriture Wie das Skript (Abb. 2) zeigt, lässt sich vor allem der erste Teil des Gedichts mühelos in Redebeiträge der Schulklasse, des Lehrers und des Kindes umsetzen. Für den Lehrer und das Kind wird die direkte Rede explizit angekündigt („dit le maître“, Z.4, „l’enfant l’appelle“, Z. 12), ein späterer Redebeitrag des Lehrers ist sogar mit einer Regieanweisung versehen („le professeur crie“, Z. 42). Interessant ist, wie die Umsetzung in den Hörtext in den letzten beiden Szenen (Sz. 5 und 6 in Abb. 2) erfolgt, in denen die Diktion des Gedichts dominant narrativ ist. In Szene 5 wird der Bericht des Erzählers vom ‚Verschwinden‘ der Zahlenreihen aus dem Klassenraum durch die gedehnte, allmählich leiser werdende Wiederholung der Zahlwörter durch die Schülergruppe akustisch realisiert, also unter Nutzung einer schon vorhandenen Sprecherrolle, wobei durch die Auflösung des Chorsprechens in nichtsynchrone Einzelstimmen ein zusätzlicher Effekt erzeugt werden kann. Die anschließende Beschreibung des Erzählers der Auflösung der Gegenstände des Klassenzimmers in ihre ursprünglichen, natürlichen Bestandteile wird mit dem Aufgreifen der Schlüsselwörter sable, eau, arbre, falaise und oiseau durch das Kind dialogisch aufgebrochen, unterstützt von den entsprechenden Geräuschen (Sandrieseln, Wasser- und Blätterrauschen, Wasserfall) und dem Vogelruf als Flötenmelodie. Insgesamt ergibt sich eine überzeugende Symbiose der akustischen Mittel. 4.2 Gianni R ODARI , La canzone del cancello La canzone del cancello (Das Lied des Gitterzauns), publiziert in der Sammlung Il gioco dei quattro cantoni (1980), lebt von der Wiederholung einer simplen Situation: Ein kleiner Junge kommt auf dem Heimweg von der Schule an einer eleganten Villa mit einem Gitterzaun vorbei und bringt die Gitterstäbe zum Klingen, indem er mit einem Lineal darüberstreicht. Was er dabei hört, ist eine wunderbare Melodie, eben die „canzone del cancello“, und diese in vielen Variationen. Eines Tages öffnet sich ein Fenster der Villa; ein alter Mann schreit den Jungen an, dass er sofort mit dem Krach aufhören solle; das Kind wagt es nicht, sein Spiel fortzusetzen. Viele Jahre später ist aus dem Jungen ein Bankangestellter geworden. Als er wieder einmal in der Stadt seiner Kindheit ist und vor Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 175 37 (2008) der Villa steht, trifft er auf einen kleinen Jungen. Auch dieser streicht mit seinem Lineal über die Stäbe des Gitterzauns, auch dieser behauptet, ganz unterschiedliche Melodien zu hören. Aber der Bankangestellte hört nur ein monotones „dlèn-dlèn-dlèn“ - die Welt der wunderbaren Melodien, der kindlichen Phantasie, bleibt dem Erwachsenen verschlossen. Personnaggi Testo Tono di lettura Musica e rumori 1 Narratore Bambino 1 Narratore Bambino 1 Narratore Bambino 1 (monologo interiore) Un bambino tornava dalla scuola sempre per la stessa strada. Ma un giorno cambiò strada. Ben presto gli apparve un grande parco, che una lunga inferriata divideva dal suo marciapiede. Che bello … che bella inferriata … Estrasse dalla cartella il righello e lo fece scorrere sulle sbarre di ferro, fin che il pilastro di pietra di un cancello interruppe la sua corsa. Suonava l’inferriata, come si può suonare uno xilofono o un pianoforte. Che bella canzone. La chiamerò «la canzone del cancello». Ma … è cosí tardi … tornerò domani. Ormai percorreva sempre la strada nuova. Inventava sempre nuove canzoni, battendo a tempo sulle sbarre. … una canzone per ciascuno degli alberi nel parco: il pino, l’abete, il cedro del Libano, lo snello cipresso puntato come un dito a far solletico alle nuvole … una canzone per il viale che saliva verso la villa, per i sentieri che si addentravano nelle verdi gallerie sotto gli alberi, una canzone per i cespugli e per le aiuole fiorite … neutro, nel tono di un raccontatore di storie gioiosamente sorpreso gioioso, eccitato allegro, sempre più entusiasta Xilofono: canzone del cancello Cinguettio degli uccelli Canzone del cancello Orologio della torre: 3 rintocchi Variazioni della canzone del cancello Canzone del cancello 2 Narratore Il vecchio Un giorno, mentre stava provando sulle sbarre una nuova canzone, scese dalla villa una voce. Ragazzo, la smetti? È un'ora che mi rompi le orecchie con quello stupido giochetto! … Hai fatto abbastanza chiasso, impedendomi di leggere. Ora vattene a casa e non ci riprovare mai più o avvertirò la guardia! a voce alta, adirato minaccioso Sbarre di ferro: dlèn dlèn dlèn 3 Bambino 2 Impiegato […] La cameriera dice che io sono un maleducato e turbo la quiete. Ma non è vero. Io non faccio rumore, io suono. Vuole sentire? Su, sentiamo. un po’ abbattuto sicuro di sé consenziente Sbarre di ferro: dlèn dlèn dlèn 176 Eva Leitzke-Ungerer Personnaggi Testo Tono di lettura Musica e rumori 37 (2008) Bambino 2 Impiegato Narratore Bambino 2 Narratore Impiegato (monologo interiore) Bambino 2 Impiegato Ascolti, questa è «la canzone del castagno morente». Lo vede là, quell’albero? È un castagno. È malato, come quasi tutti i castagni in Europa. Questa è una cosa che abbiamo studiato a scuola. Sentiamo. Ma l'impiegato sentiva sempre la stessa nota, un po' sorda. Sente? Il castagno è malato, però non è triste, perché gli uccelli fanno ancora il nido tra i suoi rami. Capisce? … Perciò la canzone non deve finire con una nota bassa, come una campana a morto, ma con una nota alta e serena. Ora l’impiegato capiva perché il vecchio signore, quella volta, l'aveva sgridato con tanta acidità. Un orecchio adulto non è più capace di udire la musica che un bambino mette nelle sbarre con il suo righello e con la sua fresca immaginazione. Le è piaciuto? Molto. Moltissimo. spiegando con zelo impaziente, curioso convinto entusiasta spiegando sottovoce, un po’ triste curioso pensieroso Canzone del castagno Sbarre di ferro: dlèn dlèn dlèn Canzone del castagno Sbarre di ferro: dlèn dlèn dlèn (forte) in alternanza con la canzone del castagno (piano sullo sfondo) Abb. 3: Skript (Auszug) zur akustischen Inszenierung von R ODARI , La canzone del cancello Betrachtet man den Ausgangstext unter dem Aspekt der Dialogisierung für ein Hörspiel, so wird man zuerst die Passagen in direkter Rede ins Auge fassen. In der ersten Episode handelt es sich dabei um Einzeläußerungen des Jungen (der seine Begeisterung ausdrückt) und des alten Mannes (der sich den Lärm verbittet); ein Dialog zwischen den beiden kommt aber nicht zustande, da der Junge dem Mann nichts erwidert, sondern wegläuft. In der zweiten Episode ergibt sich dagegen ein echtes und auch längeres Gespräch zwischen dem Bankbeamten (dem Kind der ersten Episode) und dem Jungen, in dem beide kooperieren wollen: Das Kind will erklären, der Erwachsene will verstehen. Ebenso wichtig wie die dialogischen Elemente sind für die Inszenierung der Geschichte aber auch die inneren Monologe des Protagonisten, da erst durch sie die Diskrepanz zwischen der kindlichen Phantasiewelt und der Erwachsenenperspektive ausgedrückt werden kann. Um das Potenzial des inneren Monologs voll zu nutzen, der als Sprecherrolle auch akustisch von den Dialogen und dem ‚normalen‘ Monolog abgesetzt werden sollte (z.B. durch Sprechen in eine leere Flasche), wurden im Skript noch zwei weitere narrative Passagen in innere Monologe umgesetzt. Die erste monologisierte Passage (kursiv gesetzt im ersten Auszug aus dem Skript, Abb. 3) beschreibt die Vielfalt der Melodien, die der Junge hört (die Melodien der verschiedenen Bäume, der Wege etc.); die zweite derartige Passage (kursiv gesetzt im zweiten Auszug aus dem Skript) wendet das Resümee der Geschichte, den Verlust der Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 177 37 (2008) kindlichen Phantasie im Erwachsenenalter, von einer ursprünglich allgemeinen Erzähleraussage zu einer persönlichen Erfahrung des Protagonisten. Beide Passagen sind auch auf besondere Weise mit der musikalischen Gestaltung der Inszenierung verknüpft, die sich hier auf drei Elemente beschränkt, die sich alle gut auf dem Xylophon spielen lassen: Die monotone Klangsequenz der Gitterstäbe, die der Bankangestellte hört (in Text und Skript notiert als dlèn-dlèn-dlèn) sowie das Lied des Gitterzauns und das Lied der Kastanie, beides die musikalischen Reflexionen der kindlichen Phantasie. Dabei sollte die „canzone del cancello“ eine fröhliche, variationsreiche Melodie sein; die „canzone del castagno“ muss eher traurig und melancholisch sein, weil der Text hier auch auf die Umweltschäden anspielt, von denen die Kastanie betroffen ist. Im Wechsel mit der dlèn-dlèn-dlèn-Sequenz kann die Kastanienmelodie u.a. zur Untermalung des zweiten oben genannten inneren Monologs herangezogen werden und so die Botschaft des Texts unterstreichen. 4.3 Eloy S ÁNCHEZ R OSILLO , La playa Das Gedicht La playa aus der Feder des 1948 geborenen spanischen Literaturprofessors Eloy S ÁNCHEZ R OSILLO entstammt der Sammlung Autorretratos (1989) und kontrastiert, wie schon erwähnt, die Erinnerung des Vaters an einen Sommermorgen am Strand mit seinem Kind und das ihn dann überkommende bedrückende Gefühl der Vergänglichkeit. Dialogtechnisch besteht La Playa aus einem langen Monolog (39 Zeilen), in dem ein lyrisches Ich (der Vater) zu sich selbst und über ein „Du“ spricht, das als Kind zu identifizieren ist (z.B. „Oigo tu risa, tus palabras de niño.“, Z. 3-4 im Gedicht), vom Vater aber nicht direkt angeredet wird. Personajes Texto Tono de lectura Música y ruidos 1 Madre Narrador Madre Niño Madre Nadie podrá quitarme la ilusión de soñar que ha existido esta mañana Se ha detenido el tiempo Oigo tu risa, tus palabras de niño. Nunca he estado tan conforme con todo, tan segura de mi alegría. Juegas junto al agua, y te ayudo a recoger chapinas, a levantar castillos de arena ¡Mamá, mira mi castillo! ¡Qué maravilla! feliz, lento lento, tranquilo feliz, emocional excitado entusiasmado G. Fauré: Sicilienne Sonido del mar Sonrisa del niño Martillear de chapinas Sonido del mar 2 Narrador Padre Madre Por la noche ... Cariño ¿cómo fue en la playa? No puedes imaginarte, nuestro niño iba corriendo de un sitio para otro, chapoteaba, daba gritos, se caía, corría de nuevo y luego se detuvo a mi lado y lento abierto, curioso feliz, emocional, poco a poco más rápido Ruidos de la cocina y de la cena Sonido del mar 178 Eva Leitzke-Ungerer Personajes Texto Tono de lectura Música y ruidos 37 (2008) Padre me abrazó y yo besé sus ojos, sus mejillas, su pelo Que niñez jubilosa feliz, emocional Sonido del mar, ruidos de la playa 3 Narrador Madre El mar estaba muy azul y muy plácido. A lo lejos, algunas velas blancas. El sol dejaba su oro violento en nuestra piel. Es cierto este milagro, es verdad el inmóvil fluir de la quieta mañana, la ilusión de soñar el remanso dulcísimo en el que acontecemos como seres dichosos de estar vivos, felices de estar juntos y de habitar la luz. emocional, lento feliz, emocional G. Fauré: Sicilienne Sonido del mar (en el fondo) G. Fauré: Sicilienne 4 Narrador Madre Narrador Madre Narrador Pero se escucha, de pronto, el ruido terrible y oscuro y velocísimo que hace el tiempo al pasar, y la firmeza del sueño se rompe; se hace añicos La ilusión de estar aquí, contigo, junto al agua. El cielo se oscure, el mar se agita. Se siente en la sangre el vértigo espantoso de la edad: en un instante, transcurren muchos años El niño crece y se aleja Ya no eres el niño que jugaba conmigo en la playa. Eres un hombre ahora, y tú también comprendes que no existió, ni existe, ni existirá este día, la venturosa fábula de mis ojos mirándote, la leyenda imposible de tu infancia. Estás solo, y me buscas. Pero yo he muerto acaso. Somos sombras de un sueño, niebla, palabras, nada. emocional, nervioso emocional, ancioso excitado triste, melancólico emocional, lento, melancólico, ancioso claro y lento Música moderna rítmica (Moods) Sonido de un vaso que se rompe Sonido del mar agitado PAUSA Risa del niño (muy baja, en el fondo) Sonido del mar (muy bajo, en el fondo) Música moderna rítmica (Moods) Abb. 4: Skript zur akustischen Inszenierung von Eloy S ÁNCHEZ R OSILLO , La playa Wie aus dem Skript (vgl. Abb. 4) zu ersehen ist, wurden bei der akustischen Inszenierung folgende Änderungen vorgenommen: C Einführung zusätzlicher Sprecherrollen: Neben dem Vater sprechen nun auch die Mutter, das Kind und ein Erzähler. Es ist außerdem die Mutter und nicht der Vater, die über den Sommertag und die Vergänglichkeit reflektiert; dies ergab sich aufgrund der Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 179 37 (2008) Zusammensetzung der studentischen Gruppe, in der es mehr weibliche als männliche Sprecher gab; eine ähnliche Situation dürfte auch für viele Spanischklassen anzunehmen sein. • Der lange Monolog des lyrischen Ich wird im ersten Teil durch zwei Dialoge (im Skript kursiv gesetzt) und im Gesamtskript durch die Aufteilung der Reflexionen des Vaters aus dem Gedicht auf zwei Sprecher - die Mutter und den Erzähler - aufgebrochen. • Der erste dieser Dialoge ist ein kurzer Einschub (Niño: „Mamá, mira mi castillo.“ - Madre: „¡Qué maravilla! “); mit „maravilla“ (‚Wunder‘) wird bewusst ein Bezug zu einem Schlüsselwort des Gedichts, „milagro“ (Z. 17, ebenfalls ‚Wunder‘) hergestellt. Der zweite Dialog greift eine Passage aus dem ersten Teil des Gedichts auf, der Zeitpunkt der Äußerung ist nun aber verschoben auf den Abend des Sommertags; die Mutter schildert dem Vater rückblickend die Erlebnisse am Strand. Der im Gedicht an das Kind gerichtete Ausdruck „tu niñez jubilosa“ (Z. 12) wird dem Vater in den Mund gelegt, der ihn ins Allgemeine wendet („¡Qué niñez jubilosa! “). • Von den reflektierenden Passagen des Vaters im Originaltext werden im Skript der Mutter die Textstellen zugeordnet, in denen es um das persönliche Erleben geht (grammatisch sichtbar an Verbformen und Pronomina, z.B, „Nadie podrá quitarme la ilusión“, Z. 1); der Erzähler spricht die Passagen, die in allgemeiner Form die Schönheit des Sommertags („El mar esta[ba] muy azul …“, Z. 12-15) bzw. die Bedrohung durch die Vergänglichkeit thematisieren; persönliche Verbformen (z.B. „escucho“) wurden dazu im Skript in unpersönliche umgewandelt („Pero se escucha … el ruido terrible … que hace el tiempo al pasar“, Z. 23-25). Auch die letzte Zeile, die die Vergänglichkeit allen menschlichen Lebens in ebenso einfachen wie eindrucksvollen Worten beschreibt, wird vom Erzähler gesprochen. Mittels dieser im Grunde geringfügigen Änderungen wird der Monolog des lyrischen Ich zwar nicht in eine Folge von realistischen Sprechsituationen umgewandelt; erreicht wird aber doch eine dialogische Auflockerung, die zusammen mit den sich anbietenden Geräuschen (Meeresrauschen, Kinderlachen etc.) und dem musikalischen Kontrast zwischen der heiteren, fast schwärmerischen Sicilienne von Gabriel Fauré als Einstieg und dem harten Rhythmus der modernen Komposition Moods eine überzeugende akustische Inszenierung ermöglicht. 4.4 Guillaume A POLLINAIRE , Le Pont Mirabeau Dieses Gedicht aus der Sammlung Alcools (1913) ist nicht von ungefähr eines der bekanntesten und beliebtesten Gedichte von Guillaume A POLLINAIRE (1880-1919), geschrieben an der Schwelle zwischen Symbolismus und Surrealismus. In einfachen Worten spricht es von der verrinnenden Zeit und vom Vergehen der Liebe; Symbol für beides ist die Seine, die unter dem Pont Mirabeau dahin fließt. Die ewige Wiederkehr des Immergleichen - auf Hoffnung und Freude folgen Schmerz und Verlust - spiegelt sich u.a. im leitmotivisch wiederkehrenden Refrain wider, dessen schwingender, fast tänzerischer Rhythmus im Kontrast zur melancholischen Gesamtaussage des Gedichts steht. 180 Eva Leitzke-Ungerer 37 (2008) Personnages Texte Ton de lecture Musique et bruitage 1 L’homme La femme Narrateur Sous le pont Mirabeau coule la Seine Et nos amours Faut-il qu’il m’en souvienne La joie venait toujours après la peine Ah, quelle peine, le pauvre ! Vienne la nuit sonne l’heure Les jours s’en vont il demeure mélancolique ironique neutre Musique symphonique moderne Bruit d’eau ; son rythmé et répété Effet d’écho Son de cloches PAUSE 2 L’homme La femme Narrateur Les mains dans les mains restons face à face Tandis que sous Le pont de nos bras passe Des éternels regards l’onde si lasse Rien n’est éternel ! Vienne la nuit sonne l’heure Les jours s’en vont il demeure mélancolique supérieur neutre Bruit d’eau ; son rythmé et répété Effet d’écho Son de cloches PAUSE 3 L’homme La femme Narrateur L’amour s’en va comme cette eau courante L’amour s’en va Comme la vie est lente Et comme l’Espérance est violente J’en ai marre de toi Vienne la nuit sonne l’heure Les jours s’en vont il demeure mélancolique blasé neutre Bruit d’eau ; son rythmé et répété Effet d’écho Son de cloches PAUSE 4 L’homme La femme Narrateur Passent les jours et passent les semaines Ni temps passé Ni les amours reviennent Sous le pont Mirabeau coule la Seine Eh bien, saute, si tu veux ! Vienne la nuit sonne l’heure Les jours s’en vont il demeure désespéré énervé neutre Bruit d’eau ; son rythmé et répété Effet d’écho Son de cloches Musique symphonique moderne Abb. 5: Skript zur akustischen Inszenierung von A POLLINAIRE , Le Pont Mirabeau Wie kann man das Gedicht akustisch inszenieren? Genügt es, eine kaleidoskopartige Szenenfolge, d.h. eine reine Lesung, mit Musik und Geräuschen (z.B. das Fließen von Wasser), zu gestalten, die die Stimmung der Melancholie und den Eindruck der Zyklizität des Lebens verstärkt? Einen Weg dazu zeigt die wiederkehrende Sequenz aus Flussrauschen, rhythmisch wiederkehrendem Ton und Glockenschlag, kombiniert mit moderner symphonischer Musik als Einstieg und Ausklang, die im Skript vorgeschlagen wird. Doch die akustische Untermalung dient in diesem Skript - wie schon angekündigt - Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 181 8 G ROENE spricht hier vom Hörspiel im engeren Sinn; alle anderen Formen subsumiert er unter den „weiten Hörspielbegriff“ (G ROENE 1980b: 14; 2001: 348; vgl. N ÜNNING / S URKAMP 2006: 279). 37 (2008) nur als Folie für eine sehr viel radikalere Inszenierung, die durch die Übertragung des Refrains auf einen Erzähler und vor allem durch die Einführung eines zweiten lyrischen Ich (der Frau) eine völlig andere Sprechsituation schafft. So ergibt sich eine neue, die Aussage des Originalgedichts im Grunde dekonstruierende Lesart (ganz abgesehen davon, dass auf diese Weise ein in sich faszinierendes Hörerlebnis entsteht). Dabei sind die Veränderungen gegenüber der Textvorlage noch geringfügiger als im Fall der Bearbeitung von La Playa. Wie ein Blick auf die kursiv gesetzten Passagen des Sprechtexts im Skript zeigt, manifestiert sich die Verselbständigung des Refrains, in dem die Ich-Perspektive durch die Erzählerperspektive ersetzt wird, allein durch den Wechsel des Personalpronomens von „je demeure“ zu „il demeure“. Damit wird der Refrain zum Kommentar des Erzählers: Das lyrische Ich, nun als Mann („l’homme“) interpretiert, ‚bleibt‘ („demeure“) und sinniert über die Vergänglichkeit, während alles andere ‚vergeht‘ (s’en aller und passer sind die beiden häufigsten Verben des Gedichts). Die entscheidende Änderung ergibt sich aber aus der Einführung der Frau („la femme“) als weiterer Sprecherrolle; ihre Redebeiträge werden jeweils zwischen der Strophe (als der Rede des Mannes) und dem Refrain eingeschoben. Dabei greifen die ersten beiden Einwürfe jeweils ein Wort aus der vorhergehenden Strophe auf und deuten dieses um; zugleich durchbricht die Imperativform die syntaktische Form und den schwingenden Rhythmus des Gedichttexts: La joie venait toujours après la peine (Originalgedicht) Ah, quelle peine, le pauvre ! (Hörspieltext) Des éternels regards l’onde si lasse (Originalgedicht) Rien n’est éternel ! (Hörspieltext) Während es sich hier noch um einen distanzierten ironischen Kommentar zu den Worten des Mannes handelt, spricht die Frau in den beiden letzten Einschüben den Mann direkt an und schafft damit ein neues lyrisches Du. Offen bleibt, ob es sich um ‚ihren‘ Mann oder um einen Unbekannten handelt. Der Inhalt ihrer Bemerkung („J’en ai marre de toi“) und ihrer Aufforderung zum Selbstmord („Eh bien, saute, si tu veux! “) steht in völligem Kontrast zur Aussage des Originaltexts, einem melancholischen Sinnieren über die Vergänglichkeit von Zeit und Liebe, und vollendet damit gleichsam die Dekonstruktion. 5. Ausblick: Vom klassischen Hörspiel zur Hörcollage Wie die Skriptbeispiele zeigen, haben die Studierenden in allen Fällen - selbst im Fall der als Ausgangstext ungewöhnlichen Gattung des lyrischen Gedichts - ein prototypisches Hörspiel, ein fiktives Spiel mit Szenen und Rollen, geschaffen. 8 In der fast hundertjährigen Geschichte des Hörspiels haben sich aber auch andere, experimentellere Formen des Hörspiels herausgebildet; unter dieses weite Verständnis von Hörspiel fallen die nicht 182 Eva Leitzke-Ungerer 9 Vgl. dazu H ICKETHIER (2003: 301-305), L A R OCHE / B UCHHOLZ (2004: 239-244). 10 Einen solchen Versuch könnte man mit Paris-Gedichten (z.B. B REL , C’est Paris, L UCAS -D UBOSCQ , Le Métro, C HARPENTREAU , Le Front de Seine), mit Liebesgedichten (z.B. C ERNUDA , Te quiero, G ARCÍA M ONTERO , Tú me llamas, amor, yo cojo un taxi, N ERUDA , Poema 20) oder auch mit Herbstgedichten (z.B. C ARDARELLI , Settembre a Venezia, P ASCOLI , Novembre, V ALERI , Riva di pena, canale d’oblio) wagen. Für das Englische ergäben die von B URWITZ -M ELZER (2001: 20-26) - wenn auch mit anderer, interkultureller Zielsetzung - zusammengestellten themenorientierten Gedichtzyklen (z.B. We and Them - alike or different? ; Growing up) eine reizvolle Materialbasis. 37 (2008) immer trennscharf zu beschreibenden Genres Hörcollage, Hörbild und (Hör-)Feature. 9 Am vielversprechendsten, gerade im Hinblick auf lyrische Texte, erscheint die Hörcollage, da sich ihre Prinzipien der Montage und des „Offenlegens der Anschlussstellen“ (V OHWINCKEL 1995: 14) nicht nur auf eine einzige Textvorlage anwenden lassen, sondern auch die Einbeziehung unterschiedlicher, aber z.B. motivgleicher Gedichte ermöglichen. 10 Literatur Die Originaltexte und ihre Quellen Le Pont Mirabeau: A POLLINAIRE , Guillaume (1920): Alcools. Paris: Gallimard. Page d’écriture: P RÉVERT , Jacques (1949): Paroles. Paris: Gallimard. La canzone del cancello: R ODARI , Gianni (1980): Il gioco dei quattro cantoni. Turin: Einaudi. La playa: S ÁNCHEZ R OSILLO , Eloy (1989): Autorretratos. Barcelona: Península. Weitere Literatur B URWITZ -M ELZER , Eva (2001): „‚Such is the power of poets …‘: Gedichte und interkulturelles Bewusstsein“. In: Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 5, 17-26. E VERLING , Esther (1988): Ein Hörspiel produzieren. Aneignung sprachlicher und technischer Gestaltungselemente in der Sekundarstufe I. Frankfurt/ M.: Cornelsen Scriptor. G ROENE , Horst (Hrsg.) (1980a): Das Hörspiel im Englischunterricht. Theorie und Praxis. Paderborn: Schöningh. G ROENE , Horst (1980b): „Didaktische Überlegungen zur Arbeit mit englischen Hörspielen“. In: G ROENE , Horst (H RSG .) Das Hörspiel im Englischunterricht. Theorie und Praxis. Paderborn: Schöningh, 11-34. G ROENE , Horst (2001): „Das Hörspiel im modernen Fremdsprachenunterricht“. In: J UNG , Udo (Hrsg.): Praktische Handreichung für Fremdsprachenlehrer. Frankfurt/ M.: Lang, 347-352. H ICKETHIER , Knut (2003): Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler. J ENDROK , Bettina (o.J.): Künstlerisches Projekt: Hörspiel. Dokumentation einer fächerübergreifenden Unterrichtseinheit der Fächer Musik und Deutsch. http: / / www.medienbausteine.bildung-lsa.de/ pdf/ jendrok.pdf (Aufruf am 1.12.07). L A R OCHE , Walter von / B UCHHOLZ , Axel (Hrsg.) (2004): Radio-Journalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis im Hörfunk. München: List. L EITZKE -U NGERER , Eva (2006): „Texttheater im Fremdsprachenunterricht“. In: H AHN , Angela / K LIPPEL , Friederike (Hrsg.): Sprachen schaffen Chancen. München: Oldenbourg, 75-83. Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im ... Literaturunterricht 183 37 (2008) N ÜNNING , Ansgar / S URKAMP , Carola (2006): Englische Literatur unterrichten. Grundlagen und Methoden. Seelze-Velber: Kallmeyer/ Klett. P ÖTTINGER , Ida (1997): Lernziel Medienkompetenz. Theoretische Grundlagen und praktische Evaluation anhand eines Hörspielprojekts. München: KoPäd. R EHM , Dieter (2003): Ton ab! Wir produzieren ein Hörspiel. Bausteine zum produktionsorientierten und fächerübergreifenden Unterricht Deutsch-Musik. Horneburg: Persen. T HIERSCH , Antje (2000): „HÖRspiel SCHREIBEN - ein Unterrichtsprojekt“. In: Fremdsprachenunterricht 6, 422-426. V OWINCKEL , Antje (1995): Collagen im Hörspiel. Die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Würzburg: Königshausen & Neumann.