eJournals Colloquia Germanica 50/2

Colloquia Germanica
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2017
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Birgitta Krumrey, Ingo Vogler, Katharina Derlin, eds.: Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne? Heidelberg: Winter, 2014. 292 Seiten. € 39,00.

2017
Arne Klawitter
Reviews 251 des Bardengesangs, seine Auseinandersetzung mit den charismatischen Figuren in Schillers Wallenstein -Trilogie und die Abarbeitung am Feindbild Napoleon integriert. Die Verknüpfung der einzelnen Literaturwissenschaften untereinander leisten die Beiträge von Sabine Griese, die der Umgestaltung der mittelalterlichen Legende in Kleists Heiliger Cäcilie nachspürt und dabei zahlreiche Umkehrungsfiguren wie die Ersetzung der Heilung durch die Erkrankung erkennt, und von Bernhard Zimmermann, der Kleists dramatisches Schaffen (insbesondere den Krug , den Guiskard , die Penthesilea und die Familie Schroffenstein ) als Auseinandersetzung mit dem thebanischen Sagenkreis in dessen Gestaltung durch die attischen Tragiker Sophokles und Euripides liest und dabei auf die spezifische Rezeption der attischen Tragödie durch Kleist verweist, indem er die Vermittlung derselben sowohl durch die Parodien des Aristophanes als auch durch die Antikerezeption der Weimarer Klassik in Goethes Iphigenie und Schillers Braut von Messina betont. In der Gesamtbetrachtung ist damit zu konstatieren, dass der vorliegende Sammelband die im Titel angekündigten “neuen Ansichten” in der Umsetzung tatsächlich breit entfaltet; insbesondere trägt der Verzicht auf einen gemeinsamen Leitgedanken, dem sich die Zugänge der einzelnen Beiträger verpflichtet fühlen müssten, dazu bei, dass die Ringvorlesung auch in ihrer verschriftlichten Form die verschiedensten (wenn auch natürlich bei weitem nicht alle) Facetten der Kleist-Forschung repräsentiert. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Heiko Ullrich Birgitta Krumrey, Ingo Vogler, Katharina Derlin, eds.: Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne? Heidelberg: Winter, 2014. 292 Seiten. € 39,00. Ausgehend von einem “neuen Wirklichkeitsbedürfnis in der zeitgenössischen Kultur” wurde der Gegenwartsliteratur verschiedenenorts eine “Sehnsucht nach Wirklichkeit”, bisweilen sogar eine “Wirklichkeitsgier” zugeschrieben, was Maxim Biller veranlasste, im Oktober 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine “Ichzeit” und damit ein nach-postmodernes Schreiben zu proklamieren, das immer mehr Anteile von “Wirklichkeit” in ihre Werke einarbeitet und sich durch eine größere Welthaltigkeit auszeichnet. Der vorliegende Band vereint die Beiträge einer Tagung, die zu dieser Thematik im Herbst 2012 am Deutsch-Italienischen Zentrum für Europäische Exzellenz der Villa Vigoni stattgefunden hat. Den drei Überblicksdarstellungen folgen im Buch sechs Aufsätze zur Themenstellung “Schreiben an der Wirklichkeit. Realitätsillusion und Verfrem- 252 Reviews dungseffekt” und sechs Texte zum Problemkreis “Das Schreiben am Autor. (Auto)-Biographeme und Autofiktion”. Die Beiträger untersuchen dazu verschiedene Gegenwartsromane, die für sie gleichsam einen neuen Kanon konstituieren, u. a. Arno Geigers Es geht uns gut (2005), Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), Uwe Tellkamps Der Turm (2008), Charlotte Roches Feuchtgebiete (2008) sowie Joachim Lottmanns Der Geldkomplex (2009). Im Einleitungsteil befassen sich Albert Meier und Dirk Niefanger mit den Realitätsreferenzen im deutschsprachigen Gegenwartsroman und kommen zur Feststellung, dass die “Realitätseffekte” - anders als Barthes’ effets de reél , die auf Deutsch als “Wirklichkeitseffekte” wiedergegeben werden - als ästhetisches Stör-Potential post-postmoderner Literatur fungieren. Differenzierter betrachtet Alessandro Costazza das Konzept des Wirklichkeitseffekts bei Barthes’, um dessen Anwendbarkeit als Unterscheidungsmerkmal einer post-postmodernen Literatur zu hinterfragen. Die Textanalysen des zweiten Teils untersuchen den Zusammenhang zwischen den heterogenen Wirklichkeitsmaterialien und der Fiktion mit Blick auf eventuelle post-postmoderne Schreibverfahren. Während bei Arno Geiger ein ausgeprägter Realismus festgestellt wird, der historische Ereignisse für eine Familiengeschichte fiktionalisiert, wird in Bezug auf Uwe Tellkamp eine Poetik der “1000 Kleinen Dinge” postuliert. Die “Post-Ostmoderne”, wie Alessandra Goggio diese neue literarische Richtung nennt, zu der sie Tellkamps Der Turm zurechnet, zeichne sich insbesondere dadurch aus, “dass sie die Merkmale einer klassischen Moderne im Sinne Thomas Manns mit den Kennzeichen des postmodernen historischen Romans verbind[e], indem sie die epische Haltung der traditionellen Erzählkunst mit Realitätsfragmenten durchsetzt” (137). In den Zwischenraum zwischen Realität und Fiktion siedelt Ingo Vogler auch seinen Aufsatz über Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten an. Krachts kontrafaktischer Gegenentwurf zur Realhistorie, in der Forschung (u. a. von Moritz Baßler) als “parahistorische Erzählung” bezeichnet, begreift er als ein Zusammenspiel von Fantasie und Verwirrung: “Nicht nur ist eine Diskrepanz zwischen einer ‘fortschrittlichen militärischen Raketentechnologie einerseits und dem archaischen Gebrauch von Pferden und Kutschen als Transportmittel andererseits’ eklatant, sondern Verwirrung stiften ferner eine Reihe science-fiction-lastiger Komponenten.” (166) Dabei interessiert sich der Verf. weniger für die Ironie in Krachts Roman als vielmehr dafür, wie sich die Schreibverfahren von den etablierten, d. h. postmodernen Mustern abheben, wobei die postmoderne Ästhetik vornehmlich im Modus der Zitathaftigkeit, Fiktionalität und Tiefenlosigkeit wahrgenommen wird. Reviews 253 Der einzige Beitrag, der sich nicht mit einem Gegenwartsroman, sondern mit einem Theaterstück der Postdramatik beschäftigt, ist Alexander Webers Aufsatz über Roland Schimmelpfennigs Der goldene Drache , an dem das Paradigma einer “Neodramatik” vorgeführt wird, die wieder Geschichten erzählt, welche ihrerseits “kausal aufgebaut, chronologisch geordnet und im Falle der integrierten Analepsen chronologisch markiert sind” (195). Von einer Verweigerung zusammenhängender Darstellung, einer radikalen Fragmentierung und einer Zurschaustellung des gleitenden Signifikanten, wie sie das postdramatische Theater auszeichnete, könne keine Rede mehr sein. Der dritte Teil des Bandes beschäftigt sich mit dem Thema der Autofiktion, wobei Alban Nikolai Herbsts Meere , Monika Marons Endmoränen und Ach Glück , Charlotte Roches Feuchtgebiete und Schoßgebete , Sibylle Lewitscharoffs Apostoloff und Felicitas Hoppes Hoppe im Mittelpunkt stehen. (Auto-)Biographeme, darin stimmen die Verf. überein, weisen auf die außerliterarische Existenz des Autors hin, werden aber zum Zweck der Irritation oder Irreführung in die Narration eingefügt. Was entsteht, ist eine Autofiktion im Sinne einer “metafiktionalen Traumbiographie” statt einer traditionellen Autobiographie, bei der Autor-Ich, Erzähler-Ich und Ich-Person identisch sind und die nach Authentizität strebt. Das wird insbesondere am Roman Hoppe deutlich gemacht, in den die Autorin gleichsam sich selbst einschreibt, indem sie mit der Namensidentität sowie mit autobiographischen Übereinstimmungen zwischen sich selbst als Autorperson und den Romanfiguren spielt. Der letzte Beitrag verweist, wie schon der erste, auf Maxim Billers Artikel “Ichzeit” und thematisiert in Hinblick auf Hoppes Roman die Unmöglichkeit, “Ich” zu sagen und eine Wahrheit abzubilden. Über sich selbst zu berichten, sei für Hoppe ein notwendig fiktionaler Akt und daher könne die Autobiographie als Genre der Wahrheitsbekundung und Ich-Findung nicht mehr ernst genommen werden. Mit dem Begriff der “Realitätseffekte” verbinden die Beiträger ein allgemeines Wirklichkeitsbedürfnis, das sich in der Gegenwartsliteratur artikuliert. Anteile von “Wirklichkeit” werden in die Fiktion eingefügt; aus der Perspektive der Postmoderne könnte man sogar von einer Rückführung von Wirklichkeit in die Fiktion sprechen, doch bleibt letzten Endes fraglich, ob das Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit tatsächlich als eine einfache Wechselwirkung beschrieben werden kann. Alles in allem erscheinen die Beiträge sehr schematisch, und man gewinnt den Eindruck, dass sie im Grunde von denselben Ausgangspunkten ausgehen und auch zu denselben Ergebnissen kommen. Waseda University, Tokyo Arne Klawitter