eJournals Colloquia Germanica 50/2

Colloquia Germanica
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2017
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Werner Frick, ed. Heinrich von Kleist. Neue Ansichten eines rebellischen Klassikers. Reihe Litterae 186. Freiburg i. Br.: Rombach, 2014. 426 pp. € 49,80

2017
Heiko Ulrich
Reviews Werner Frick, ed. Heinrich von Kleist. Neue Ansichten eines rebellischen Klassikers. Reihe Litterae 186. Freiburg i. Br.: Rombach, 2014. 426 pp. € 49,80. Der vorliegende Band versammelt die Aufsatzfassungen einer Ringvorlesung an der Ludwig-Alberts-Universität Freiburg, die sich zum Ziel gesetzt hat, Kleist aus interdisziplinärer Perspektive und unter dem Blickwinkel der Spannung zwischen der Unangepasstheit dieses Autors und seinem dennoch (oder deshalb) schließlich erreichten Status als Klassiker näher zu beleuchten. Im ersten Beitrag, der den Titel des Sammelbands sowie dessen Zielsetzung anhand einer gründlichen Diskussion der verschiedenen Fragestellungen und Probleme der Kleist-Forschung erläutert, bietet der Herausgeber Werner Frick einen fundierten Überblick über Kleists Versuche der Selbstbehauptung in einer zunehmend als kontingent empfundenen Welt. Dieser Einleitung entspricht der letzte Beitrag des Bandes, in dem Sabina Becker dieser produktionsästhetischen Zugangsweise die rezeptionsästhetisch orientierte Einordnung Kleists in die Literaturgeschichte gegenüberstellt und mit der Darstellung der Modernität dieses Autors eine überzeugende Klammer um das Projekt einer Definition des “rebellischen Klassikers” schließt. Einen in der Forschung gerade auch aufgrund dieser (vermeintlichen? ) Modernität Kleists häufig vernachlässigten Weg beschreitet Dieter Martin, indem er das Verhältnis dieses literarischen Außenseiters zu den Vertretern Weimarer Klassik (Wieland, Schiller, Goethe) untersucht und hier zu einer Differenzierung der meist ausgehend vom angeblichen Skandal um die Weimarer Inszenierung des Zerbrochnen Krugs formulierten Pauschalisierungen gelangt. Der interdisziplinären Ausrichtung der Ringvorlesung tragen die Beiträge des Philosophen Günter Figal, der in einer detaillierten Analyse der Sprechersituation in Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater die dort erfolgende Annäherung an den Begriff der Anmut mit dem entsprechenden Konzept Paul Valérys vergleicht, und des Historikers Jörn Leonhard Rechnung, der in der Herrmannschlacht , der Verlobung , der Penthesilea , dem Prinzen Friedrich von Homburg sowie in den politischen Schriften Kleists dessen “Bellizismus” nachspürt, wobei eine historische Kontextualisierung gelingt, die Grundlagen für ein angemessenes Verständnis dieser Texte legt. Die Aufsätze der Juristen Andreas Voßkuhle und Johannes Gerberding, die den rechtshistorischen Hintergrund des Michael Kohlhaas ausloten, aber auch nach den Gründen für die immer 250 Reviews wieder behauptete Aktualität der “Sozialfigur” Kohlhaas fragen und dabei zahlreiche Missverständnisse ausräumen können, sowie des Theologen Eberhard Schockenhoff, der in Kleists Zweikampf und dem Erdbeben in Chili eine Theologie der Vergebung herausliest, die den Opfern eine entscheidende Rolle bei der Erlösung der Täter zuweist, entfernen sich dagegen ein Stück weit von der hermeneutischen Untersuchung der Texte, deuten aber eindrucksvoll an, worin die Zeitlosigkeit des “Klassikers” Kleist begründet liegt. In besonderer Weise zeigt der Beitrag des Linguisten Peter Auer die Fruchtbarkeit des interdisziplinären Ansatzes, indem seine Untersuchung der von Kleist für seinen Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken gewählten Beispiele konsequent an die zeitgenössischen rhetorischen und sprachphilosophischen Diskurse rückbindet und von dieser Grundlage aus sprachwissenschaftliche Fragestellungen erörtert. Natürlich bilden die im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Beiträge innerhalb des Sammelbandes eine Mehrheit, gleichwohl wird auch hier der Blick über den Tellerrand hinaus praktiziert: So verbindet Günter Schnitzler seine Untersuchung des dramatischen Erstlings Die Familie Schroffenstein mit der vieldiskutierten ‘Kant-Krise’ Kleists und bestimmt ausgehend von diesem Zusammenhang Kleists Auseinandersetzung mit Kant als selbständige Weiterentwicklung der Gedanken des großen Vorbilds, die sich im Drama eher wiederfänden als die Philosophie Kants selbst. In seiner gründlichen und anregenden psychoanalytischen Studie arbeitet Carl Pietzcker die bislang unterschätzte Bedeutung der Scham für die Marquise und den Kohlhaas heraus, wohingegen Fred Löbker die Konstituierung eines Subjekts im Käthchen und der Penthesilea untersucht. Während Schnitzler, Pietzcker und Löbker auf eine Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur weitgehend verzichten, verortet Achim Aurnhammer seine Analyse des unzuverlässigen Erzählens in Kleists Werk, das zunächst in einem Überblick und dann am Beispiel des Zweikampfs untersucht wird, zunächst in der Forschungsdiskussion dieses narrativen Phänomens, bevor er an zahlreichen erhellenden Detailbetrachtungen demonstriert, wie Zeitstruktur, Erzählhaltung und Fokalisierung wesentlich zur Textaussage der Novelle beitragen, und nachweist, dass die Anwendung dezidiert narratologischer Kategorien mindestens eine Alternative zur gerne praktizierten Rückführung von Kleists Erzählen auf eine dramatische Grundstruktur darstellt. Einen systematischen Zugang weist auch Gesa von Essens Beitrag auf, der Kleists Anekdoten unter den Aspekten der “Kontingenz”, der “Pointierung” und des “Volksgeistes” untersucht und in der “kleinen Form” Strukturen herausarbeitet, die sich auch auf die umfangreicheren Erzähltexte Kleists übertragen lassen. Peter Philipp Riedls sehr ausführliche Studie über die propagandistischen Strategien Kleists in der Herrmannsschlacht und den zur selben Zeit entstandenen politischen Schriften zeichnet ein differenziertes Bild, das Kleists Adaption von Klopstocks Konzept Reviews 251 des Bardengesangs, seine Auseinandersetzung mit den charismatischen Figuren in Schillers Wallenstein -Trilogie und die Abarbeitung am Feindbild Napoleon integriert. Die Verknüpfung der einzelnen Literaturwissenschaften untereinander leisten die Beiträge von Sabine Griese, die der Umgestaltung der mittelalterlichen Legende in Kleists Heiliger Cäcilie nachspürt und dabei zahlreiche Umkehrungsfiguren wie die Ersetzung der Heilung durch die Erkrankung erkennt, und von Bernhard Zimmermann, der Kleists dramatisches Schaffen (insbesondere den Krug , den Guiskard , die Penthesilea und die Familie Schroffenstein ) als Auseinandersetzung mit dem thebanischen Sagenkreis in dessen Gestaltung durch die attischen Tragiker Sophokles und Euripides liest und dabei auf die spezifische Rezeption der attischen Tragödie durch Kleist verweist, indem er die Vermittlung derselben sowohl durch die Parodien des Aristophanes als auch durch die Antikerezeption der Weimarer Klassik in Goethes Iphigenie und Schillers Braut von Messina betont. In der Gesamtbetrachtung ist damit zu konstatieren, dass der vorliegende Sammelband die im Titel angekündigten “neuen Ansichten” in der Umsetzung tatsächlich breit entfaltet; insbesondere trägt der Verzicht auf einen gemeinsamen Leitgedanken, dem sich die Zugänge der einzelnen Beiträger verpflichtet fühlen müssten, dazu bei, dass die Ringvorlesung auch in ihrer verschriftlichten Form die verschiedensten (wenn auch natürlich bei weitem nicht alle) Facetten der Kleist-Forschung repräsentiert. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Heiko Ullrich Birgitta Krumrey, Ingo Vogler, Katharina Derlin, eds.: Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne? Heidelberg: Winter, 2014. 292 Seiten. € 39,00. Ausgehend von einem “neuen Wirklichkeitsbedürfnis in der zeitgenössischen Kultur” wurde der Gegenwartsliteratur verschiedenenorts eine “Sehnsucht nach Wirklichkeit”, bisweilen sogar eine “Wirklichkeitsgier” zugeschrieben, was Maxim Biller veranlasste, im Oktober 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine “Ichzeit” und damit ein nach-postmodernes Schreiben zu proklamieren, das immer mehr Anteile von “Wirklichkeit” in ihre Werke einarbeitet und sich durch eine größere Welthaltigkeit auszeichnet. Der vorliegende Band vereint die Beiträge einer Tagung, die zu dieser Thematik im Herbst 2012 am Deutsch-Italienischen Zentrum für Europäische Exzellenz der Villa Vigoni stattgefunden hat. Den drei Überblicksdarstellungen folgen im Buch sechs Aufsätze zur Themenstellung “Schreiben an der Wirklichkeit. Realitätsillusion und Verfrem-