eJournals Colloquia Germanica 48/1-2

Colloquia Germanica
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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Ausgehend von der Beobachtung, dass Bernhard Schlinks “Der Vorleser” in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einem Klassiker des schulischen Kanons geworden ist, verfolgt der Beitrag das Ziel, die unterrichtliche Praxis noch genauer in den Blick zu nehmen. Dabei soll, nachdem die curricularen Rahmenbedingungen betrachtet wurden, im Folgenden gezeigt werden, wie zwei ausgewählte Schulbücher, die eine Auseinandersetzung mit dem Roman ermöglichen, mit dem durch die erzählte Geschichte aufgestoßenen Spannungsfeld aus historischem Wissen, literarischer Bildung textvermittelter Sinnstiftung literaturdidaktisch verfahren. In einem abschließenden Fazit soll nochmals eine Evaluierung des literaturdidaktischen Potenzials des Romans vorgenommen werden, die von der Prämisse ausgeht, dass die komplexe narrative Strukturierung der Geschichte um Michael Berg vor allem dazu dienen kann, historische Fragehorizonte zu eröffnen, nicht jedoch vermeintlich klare und historisch wahre Antworten zu geben.
2015
481-2

Immer wieder Schlink?

2015
Sascha  Feuchert
Björn Bergmann
82 Denise M. Della Rossa Notes 1 The film premiered on the European television channel ARTE on October 6, 2014, and I have the great fortune to count Olivier Morel among my colleagues in the Department of Film, Television and Theater at the University of Notre Dame. Works Cited Connelly, Kate. “Former Auschwitz guard Oskar Gröning jailed over mass murder.” The Guardian 15 July 2015. ---. “Poland declares state of emergency after ‘Arbeit macht frei’ stolen from Auschwitz.” The Guardian 18 Dec. 2009. Geyer, Matthias. “Vergangenheitsbewältigung. Der Buchhalter von Auschwitz.” Der Spiegel 5 Sep. 2005: 154-60. Hage, Volker. “Gewicht der Wahrheit.” Der Spiegel 29 March 1999: 242-43. Kolbert, Elizabeth. “Last Trial. A Great-grandmother, Auschwitz, and the Arc of Justice.” The New Yorker 16 Feb. 2015: 24-31. Stolleis, Michael. “Die Schaffnerin. Bernhard Schlink läßt vorlesen.” Frankfurter Allgemeine Zeitung 9 Sept. 1995. Immer wieder Schlink? Der Vorleser und seine literaturdidaktischen Chancen und Grenzen im Spiegel schulischer Praxis in Deutschland Sascha Feuchert und Björn Bergmann Justus-Liebig-Universität Gießen Abstract: Ausgehend von der Beobachtung, dass Bernhard Schlinks “Der Vorleser” in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einem Klassiker des schulischen Kanons geworden ist, verfolgt der Beitrag das Ziel, die unterrichtliche Praxis noch genauer in den Blick zu nehmen. Dabei soll, nachdem die curricularen Rahmenbedingungen betrachtet wurden, im Folgenden gezeigt werden, wie zwei ausgewählte Schulbücher, die eine Auseinandersetzung mit dem Roman ermöglichen, mit dem durch die erzählte Geschichte aufgestoßenen Spannungsfeld aus historischem Wissen, literarischer Bildung textvermittelter Sinnstiftung literaturdidaktisch verfahren. In einem abschließenden Fazit soll nochmals eine Evaluierung des literaturdidaktischen Potenzials des Romans vorgenommen werden, die von der Prämisse ausgeht, dass die komplexe narrative Strukturierung der Geschichte um Michael Berg vor allem dazu dienen kann, historische Fragehorizonte zu eröffnen, nicht jedoch vermeintlich klare und historisch wahre Antworten zu geben. Keywords: Schüler, Geschichte, Aufgabenstellung, Analyse, Lernen In unregelmäßigen Abständen bestreiten deutsche überregionale Qualitätszeitungen wie Der Spiegel oder Die Zeit einen mutmaßlich notwendigen ‘Kanon-Feldzug’ zur Rettung des seit jeher bedrohten Literaturunterrichts. Getragen von der allgemein akzeptierten Vorstellung, dass Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schullaufbahn über ein Mindestmaß an literarisch wertvoller Bildung verfügen müssten, fordern einflussreiche Literaturkritiker/ -innen immer wieder literarische Standortbestimmungen der für den Unterricht Verantwortlichen ein. Naturgemäß gehen dabei aber die Vorstellungen darüber, 84 Sascha Feuchert und Björn Bergmann was (noch) gelesen werden muss, sehr weit auseinander. Texte der Gegenwartsliteratur und vermeintliche Klassiker eines häufig nicht näher umrissenen vermeintlichen Schulkanons werden gegeneinander abgewogen. Einig sind sich die professionellen Kritiker jedoch zumeist in der apodiktischen Trennung zwischen der erwünschten E- und der in unterrichtlichen Zusammenhängen eher weniger geschätzten U-Literatur. Äußerst erstaunlich mutet es nun in diesem Zusammenhang an, dass ausgerechnet Bernhard Schlinks Der Vorleser , welcher sich - wie der Autor höchstselbst 1 betont - der Kategorisierung in E- und U-Literatur merklich verweigert, aus dem Deutschunterricht der höheren Jahrgangsstufen (ab Jahrgangsstufe 10) schon kurz nach dem Erscheinen nicht mehr wegzudenken war: Nur fünf Jahre nach der Erstauflage prognostizierten etwa Kammler / Surmann auf der Basis einer fragebogengestützten Lehrerbefragung bereits einen solchen Trend zur Kanonisierung in der Sekundarstufe II � Der vorliegende Beitrag nähert sich dem Werk in drei aufeinander aufbauenden Schritten. In einem ersten Zugang soll ein Blick in die bundesdeutschen Curricula klären, wo und unter welchen Überschriften Der Vorleser als Lektüre vorgeschlagen wird. In einem zweiten Schritt soll wenigstens exemplarisch mittels einer Analyse zweier Lesebücher eruiert werden, unter welchen Gesichtspunkten der Roman im Deutschunterricht momentan betrachtet wird, ehe es in einem letzten Schritt darum gehen wird, das literaturdidaktische Potential des Vorlesers - auch in Abgrenzung bzw. Ergänzung der ermittelten schulischen Praxis - herauszustellen. Dabei sollen ausgehend von der These, dass dem Literaturunterricht in der Verbindung von historischem Wissen, literarischer Bildung und textvermittelter Sinnstiftung (vgl. Birkmeyer) eine enorme Bedeutung zuwächst, um stabile kulturelle Identitäten herauszubilden, noch einmal die literaturdidaktischen Chancen und Grenzen des schulischen Umgangs mit dem Roman erörtert werden. Curriculare Richtlinien. Eine kurze Bestandsaufnahme Möchte man, wie es sich dieser Beitrag auch zur Aufgabe macht, einen Überblick über die gegenwärtige Praxis des Literaturunterrichts zu Bernhard Schlinks Der Vorleser leisten, so setzt dies zunächst einen vergleichenden Blick in die curricularen Vorgaben der einzelnen deutschen Bundesländer 2 voraus, da diese die unterrichtenden Lehrkräfte rechtlich binden. Jene Rahmen- oder Bildungspläne beinhalten bekanntlich Anmerkungen zum Grundverständnis des Faches, Angaben über die zu erreichenden Bildungsziele oder Kompetenzen sowie in vielen Fällen Lektüreempfehlungen, auf die sich die folgenden Ausführungen hauptsächlich stützen. Im Rahmen der Analyse wurde zwischen den Schulfor- Immer wieder Schlink? 85 men, die zum mittleren Abschluss bzw. zur allgemeinen Hochschulreife führen, kein signifikanter Unterschied gemacht. Um das konzeptionelle Vorgehen der Untersuchung transparent zu machen, soll vorab ein genauerer, exemplarischer Blick auf die hessischen Lehrplanvorgaben der gymnasialen Oberstufe gerichtet werden. Anschließend werden die Ergebnisse dieser Analyse der Gesamtheit der bundesdeutschen Curricula ab der Jahrgangsstufe 10 gegenübergestellt, um belastbare Hypothesen zum gegenwärtigen Stellenwert des Vorlesers in der schulischen Praxis zu entwickeln. Das Beispiel Hessen Das Leistungsprofil der gymnasialen Oberstufe in Hessen ist nach Kurshalbjahren gegliedert, denen verbindliche Themen ( Lehrplan Deutsch , Hessisches Kultusministerium 60) zugeordnet werden. Diese weit gefassten Themenschwerpunkte werden zur besseren Handhabbarkeit durch Stichworte konkretisiert und mit Textanregungen versehen. In der Einführungsphase wird für das erste Halbjahr (E1) der Themenkomplex “Identitätsfindung” vorgeschlagen, in dessen Rahmen die Teilaspekte “Sozialisation und Erziehung”, “Liebe”, “Vorurteile” sowie “Nähe und Ferne / Begegnung mit unterschiedlichen Welten” beleuchtet werden. Im zweiten Halbjahr (E2) befassen sich die Lernenden mit dem weiter gefassten Thema der “Lebensentwürfe”. Wenngleich festgelegt wird, dass literarische Texte aus dem 20. Jahrhundert diskutiert, mit aktuellen und historischen Bezügen ausgestattet und zu den jeweiligen Halbjahresthemen in Bezug gesetzt werden sollen, fehlt in den Lektüreempfehlungen für diese Phase (noch) der Verweis auf Schlinks Werk. Die an die Einführungsphase sich anschließende sogenannte Qualifikationsphase erstreckt sich über vier Halbjahre (Q1 bis Q4). Dem ersten Halbjahr ist der Themenschwerpunkt “Das Individuum im Spannungsfeld zwischen Ideal und Wirklichkeit” zugeordnet, in dem die Beschäftigung mit den Epochen der Weimarer Klassik und der Romantik im Zentrum steht. Im zweiten Halbjahr (Q2) hingegen, das sich dem Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft widmet, ist Der Vorleser unter den beiden Stichworten “Leben in der Gesellschaft” und “Beziehungen zwischen Mann und Frau” zu finden ( Lehrplan Deutsch 62) Während das dritte Halbjahr (Q3) unter dem Themenfeld “Weltentwürfe” einen anderen Schwerpunkt setzt, findet sich im letzten Schulhalbjahr, im Zusammenhang mit Fragen der literarischen Wertung (Q4: Wirkungszusammenhänge von Literatur) an prominenter Stelle erneut der Verweis auf den Roman. 86 Sascha Feuchert und Björn Bergmann Die Lehrplanvorgaben der Bundesländer im Vergleich: Ein Überblick Die 28 untersuchten Lehrplanvorgaben der Jahrgänge 10-13 sind in ihrer Gestaltung recht unterschiedlich. 3 Einige Bundesländer haben die Wende von rein input-orientierten Lehrplänen zu tendenziell output-orientierten Standards bereits vollzogen und demnach die inhaltlichen Vorgaben der Kultusministerien auf einen von den Einzelschulen mit Lektüreempfehlungen zu füllenden Rahmen reduziert, so dass eine Aussage über die schulische Kanonzugehörigkeit des Vorlesers in diesen Bundesländern (z. B. in Bremen, Berlin, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern) nicht ohne weiteres zu treffen ist. Andere Bundesländer hingegen behalten bei gleichzeitiger Umstellung auf Kompetenzen die bisher gängige Praxis der Lektüreempfehlungen bei, manche unter ihnen in einer sehr umfassenden Form, z. B. Niedersachsen ( Kerncurriculum für das Gymnasium, Niedersächsisches Kultusministerium) oder Baden-Württemberg ( Bildungsplan 2004 , Ministerium für Kultus, Jugend und Sport). Betrachtet man all diese Rahmenlehrpläne genauer, so ergibt sich mit Blick auf den Einsatz des Vorlesers ein sehr aussagekräftiges Bild, welches zudem recht unabhängig von dem zu erreichenden Bildungsabschluss ist: In mehr als 60 Prozent der curricularen Lektüreempfehlungen finden sich Verweise auf dessen Behandlung im Unterricht, in einigen Bundesländern ist die Lektüre sogar als Prüfungsstoff verbindlich vorgeschrieben. Im Freistaat Sachsen beispielsweise beziehen sich die schriftlichen Abschlussprüfungen zur Erreichung des mittleren Abschlusses auf den Roman. Auffällig sind neben der relativen Häufigkeit auch die in den curricularen Richtlinien vorgeschlagenen Unterrichtskontexte, in denen Der Vorleser thematisiert werden soll. Hier zeigt sich nunmehr, dass die aus den Lehrplanvorgaben ablesbare Kanonisierungstendenz nicht unbedingt mit einer konsensualen Lesart des Romans korrespondiert. Allerdings sind Epochenzuordnungen, in deren Kontext Der Vorleser empfohlen wird, wie etwa “Literatur des 20. Jahrhunderts” (Saarland, Baden-Württemberg) bzw. “Literatur von 1945 bis zur Gegenwart” (Bayern) auch nur sehr bedingt geeignet, um eine schlüssige didaktische Perspektive zu eröffnen. Überzeugender sind hier die niedersächsischen und die bereits beschriebenen hessischen Vorschläge, da sie den Text nicht primär in einen zeitlichen Zusammenhang, sondern in einen stoffgeschichtlich-inhaltlichen Kontext einzuordnen versuchen. In Niedersachsen wird der Roman im Rahmen eines Wahlpflichtmoduls “Auseinandersetzung mit Krieg, Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus” und damit (auch) zum historischen Lernen empfohlen. Orientiert man sich an den weiteren thematischen Vorgaben, geht es eindeutig darum, mithilfe des Textes Fragen von Schuld und Verantwortung im Immer wieder Schlink? 87 gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs (vgl. Kerncurriculum für das Gymnasium, Niedersächsisches Kultusministerium 42) zu erörtern. Der Vorleser in aktuellen deutschsprachigen Schulbüchern: Eine Evaluation Nachdem anhand der Lehrplananalysen der von Kammler / Surmann vermutete Kanonisierungsprozess klar bestätigt werden konnte, wollen wir uns exemplarisch der gegenwärtigen schulischen Praxis unter Zuhilfenahme zweier Schulbücher nähern. Eine einschränkende Bemerkung sei jedoch vorab erlaubt: Natürlich kann die Untersuchung von Schulbüchern keinen wirklich umfassenden Einblick in das tatsächliche alltägliche Unterrichtsgeschehen geben, da Lehrende ihre didaktischen Entscheidungen eigenständig treffen. Dennoch kann man festhalten, dass Bildungsmedien in der Planung und Durchführung von Unterricht in aller Regel einen sehr großen Stellenwert haben. Es ist daher davon auszugehen, dass vor allem Schulbzw. Lesebücher, die zumeist einem Genehmigungsverfahren durch die Kultusministerien unterliegen, von Lehrerinnen und Lehrern in verschiedenen Phasen des Lehr-Lern-Prozesses, häufig in der Erarbeitung, Sicherung und Anwendung des Gelernten, genutzt werden, so dass auch Aufgabenstellungen zum Teil unmittelbar übernommen werden. Eine wie hier vorgenommene Analyse der Aufgabenstellungen muss aus diesem Grund versuchen, didaktische Akzentuierungen herauszuarbeiten und prüfen, ob und wie sich die eingangs formulierte Zielvorstellung des Literaturunterrichts, nämlich die Vermittlung von historischem Wissen, literarischer Bildung und textvermittelter Sinnstiftung, in der konzeptionellen Gestaltung der Schulbuchkapitel widerspiegelt. Deutsch in der Oberstufe (Schöningh-Verlag) Das untersuchte Teilkapitel mit dem Titel “Bernhard Schlink: Der Vorleser - Roman eines zeitgenössischen deutschen Erzählers” (S. 291-300) ist verhältnismäßig knapp gehalten; neben einem großformatigen Foto des Autors auf der Einstiegsseite beinhalten die folgenden neun Seiten Informationen zu Leben und Werk des Autors, eine inhaltliche und chronologische Rekonstruktion der Handlung, zwei zentrale Auszüge aus dem Romantext und eine Auswahl verschiedener “kontroverse[r] Stimmen zum Buch”. Der Aufbau des Kapitels setzt die Lektüre des gesamten Romans nicht explizit voraus. Die Anmerkungen zum inhaltlichen Verlauf, die die zentralen Motive und Themen erläutern, sowie die Informationen zur Chronologie der Ereignisse 88 Sascha Feuchert und Björn Bergmann erwecken vor dem Hintergrund der noch folgenden Aufgaben im Gegenteil den problematischen Eindruck, als genüge die Zusammenfassung des Plots, um die moralisch komplexen (Be-)Deutungsebenen sinnstiftend erschließen zu können. 4 Nach dem Einleitungsteil folgt eine längere Textpassage aus dem ersten Teil des Romans, die wiederum aus zwei eigentlich im Handlungsverlauf isolierten Abschnitten zusammengesetzt ist. Nachdem Michael im ersten Abschnitt von dem Streit und dem Gewaltausbruch Hannas in Amorbach ( D. V. Kap. 11) 5 erzählt (vgl. S. 293 f., Z. 1-57), folgen ohne signifikante typografische Trennung - etwa einen größeren Absatz - Michaels Erinnerungen ( D. V. Kap. 15) an die Schwimmbadnachmittage mit seinen Schulkameraden (vgl. S. 294, Z. 58-150). Der letzte Satz der Passage ist gleichzeitig der erste Satz von Kapitel 16 des Romans, in dem Michael das Verschwinden Hannas konstatiert. Wenngleich die typografische Realisierung nicht optimal gelöst ist, überzeugt die Auswahl der Textpassagen durch die Darstellung der Ambivalenz Hannas als Figur, die sich nach körperlicher Nähe sehnt, emotionale Nähe aber kaum zulässt und ohne erkennbaren Grund vorerst aus dem Leben des Protagonisten verschwindet. Folgerichtig beschäftigt sich auch die textanalytische Aufgabenstellung zunächst mit der Beziehung Michaels zu Hanna, um schließlich - dem Arrangement der Ausschnitte entsprechend - in einem nächsten Schritt auch Michaels Verhältnis zu Sophie und den anderen Klassenkameraden zu beleuchten. Der in der didaktisch fruchtbaren Montage der beiden Abschnitte angedeutete Rollenkonflikt Michaels als Liebhaber einer deutlich älteren Frau und als Jugendlicher in seiner Peer-Group wird durch die Aufgabenstellung, den von Michael angenommenen “Verrat” an Hanna zu erklären, nachvollziehbar verdeutlicht. Unmittelbar anschließend findet sich dann die folgende Aufgabenstellung, die Michael nicht primär als Handelnden, sondern als Erzählenden (s)einer Geschichte in den Blick nimmt: “Beschreiben Sie Erzählerfigur und Erzählergegenwart / Erinnerungsperspektive des Erzählers sowie die Wirkung auf den Leser. Erläutern Sie, wie sich diese Wirkung unterscheiden würde, wenn der Verfasser einen allwissenden Erzähler gewählt hätte” (S. 295). Nimmt man, so wie wir das auch nachfolgend tun, an, dass der Analyse der erzählerischen Vermittlung eine zentrale Bedeutung zukommen muss, um den Roman tatsächlich zu verstehen, so scheint die Aufgabenstellung besonders geeignet, den Erzähler in seiner Rolle als “inadäquaten Erzähler” zu charakterisieren. Ebenso bedeutsam für das Verständnis des Romans ist die in der Aufgabenstellung angedeutete Umkehrung der narrativen Handlungslogik. Durch diesen didaktischen Kniff ergibt sich die Möglichkeit, literarisches Lernen zu initiieren: Durch die Ich-Perspektive bewusst gesetzte Leerstellen werden hier als Literarisierungsstrategien offenbar, auch damit zusammenhängende Momente der Immer wieder Schlink? 89 Spannungserzeugung können identifiziert und auf ihre Funktion für den weiteren Handlungsverlauf diskutiert werden. Freilich wird man hier einschränken müssen: Didaktisch fruchtbar wird diese Aufgabenstellung natürlich allerdings erst dann, wenn der Roman in Gänze bekannt ist. Der zweite im Kapitel befindliche Auszug stammt aus dem zweiten Teil des Romans und bezieht sich erneut auf mehrere didaktisch reduzierte Textpassagen. Michael erkennt hier etwa, dass Hanna weder lesen noch schreiben kann, er stellt Mutmaßungen über ihre Rolle als Täterin und seine eigene (Mit-) Schuld an, die er aber deutlich relativiert. Der Auszug endet mit dem Richterspruch ( D. V. Kap. 17). Die Arbeitsanregungen zu diesen zentralen Abschnitten fokussieren die Schuldgefühle Michaels und seinen inneren Konflikt, ohne diesen jedoch anhand sprachlicher Auffälligkeiten - z. B. die häufige Verwendung rhetorischer Fragen - zu belegen bzw. genauer zu diskutieren. 6 Hier verschenkt die Aufgabenstellung die Möglichkeit, den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Inhalt und Form aufzuzeigen. Die weiteren vertiefenden Arbeitsanregungen zielen darauf ab, erste eigene literarische Wertungen vorzunehmen. Ausgehend von dem oben skizzierten Textauszug sollen die Lernenden erläutern, “inwieweit der Analphabetismus Hannas die ‘Täterin’ zugleich auch als ‘Opfer’, zumindest als Opfer zweiter Ordnung, erscheinen lässt” (S. 296). Problematisch ist hier zweierlei: Auf der Ebene der konkret formulierten Aufgabenstellung ist äußerst fragwürdig, wieso Hannas eindeutige Täterschaft durch den Einsatz von Anführungszeichen eingeschränkt und damit relativiert wird. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die auf der inhaltlichen Ebene suggerierte Gleichsetzung von individueller Täterschaft mit dem vermeintlich gesellschaftlich bedingten Opfer-Sein der Analphabetin Hanna Schmitz. Die sich anschließende Gesprächsanregung, die Relativierung der Schuld kritisch zu sehen, vermag die vorherigen problematischen Setzungen aber nur noch bedingt auszugleichen. 7 Didaktisch wenig ergiebig scheint die auszugsweise und sehr knappe Beschäftigung mit dem Romaninhalt im weiteren Verlauf vor allem aber vor dem Hintergrund des Umgangs mit der Rezeptionsgeschichte (vgl. S. 297 f.). Zwar deutet die bereits erwähnte Überschrift “Kontroverse Stimmen zum Buch Der Vorleser ” bereits an, dass sowohl relevante Auszüge aus affirmativen als auch aus kritischen Rezensionen gegenübergestellt werden, so dass ein breites Feld literarischer Deutungen eröffnet wird. Jedoch müssen die von den Schülern eingeforderten wertenden Stellungnahmen unweigerlich an der (Text-) Oberfläche bleiben, da die Lernenden aufgrund der bisherigen Arbeitsanregungen nicht über eine umfassende Textkenntnis verfügen (können): Ein dem literarischen Lernen gerecht werdender Umgang (etwa durch einen differenzierten Abgleich 90 Sascha Feuchert und Björn Bergmann des Gesamttextes mit den so unterschiedlichen Argumentationsschemata der Rezensenten) ist daher für Schülerinnen und Schüler kaum möglich. Nicht unwesentlich ist hierbei auch, dass die historischen Hintergründe, auf die sich die Rezensenten ansatzweise beziehen, nicht durch Recherche-Aufträge oder sonstige Arbeitsanweisungen erarbeitet und vertieft werden. Das anzustellende Fazit für dieses Lesebuch ist daher auch einigermaßen ernüchternd: Folgt der Unterricht ausschließlich den Vorgaben der nur wenig aufeinander aufbauenden Aufgabenstellungen, so findet eine spürbare thematische Verengung statt, die der im Roman angelegten Vielfalt möglicher Sinnbildungsprozesse ernsthaft zuwiderläuft. Auch die Relativierung der Täterschaft Hannas scheint hier zumindest möglich, ebenso eine Übertragung auf reale Täter, was historisch mehr als fragwürdig ist. Praxis Sprache 10: Sachsen (Westermann-Verlag) Das zweite untersuchte Kapitel stammt aus dem Band Praxis Sprache 10 , der von Westermann für den Unterricht an sächsischen Schulen konzipiert worden ist und sich daher konsequent an den Vorgaben des sächsischen Kultusministeriums zur Erreichung des mittleren Abschlusses orientiert. Es handelt sich um ein sehr umfängliches Kapitel (S. 270-89), mit dessen Hilfe eine selbstgesteuerte Vorbereitung auf die zentrale Abschlussprüfung ermöglicht werden soll. Die schlüssige kompetenzorientierte Ausrichtung spiegelt sich in den vielfältigen analytischen Aufgabenstellungen wider; auch setzt die Konzeption des Kapitels die Lektüre der Ganzschrift ab einem gewissen Zeitpunkt zwingend voraus, um u. a. die Raum- und Zeitgestaltung (S. 272), die Figurenkomposition (S. 273, 274 ff., 284-87) und die zentralen Handlungsmotive (S. 278 ff.) zu analysieren. Abschließend beschäftigt sich das Kapitel zunächst mit der Wertung des Romans, um letztlich in einem Exkurs den Autor vorzustellen und auf Bezüge zwischen Leben und Werk zu verweisen (S. 289). Die didaktische Strukturierung bildet in aller Regel die narrative Handlungslogik ab; die gewählten Überschriften der jeweiligen Teilkapitel formulieren die ihnen zugrundeliegenden literarischen Kompetenzen (z. B.: “Figuren- und Konfliktanlage untersuchen”, “Handlungsmotive literarischer Figuren nachvollziehen”, “Erzählperspektiven und Erzählweisen erkennen”), so dass der Kompetenzerwerb nach der eigenständigen und sorgfältigen Bearbeitung der Aufgaben transparent wird. Noch bevor im Kapitelzusammenhang darauf verwiesen wird, dass die Lernenden Schlinks Roman aufmerksam gelesen haben sollten (vgl. S. 271), erfolgt der Einstieg in die Sequenz über die Betrachtung der Paratexte. Abgedruckt wurden hierzu einige Pressestimmen sowie das Cover der Originalausgabe. Immer wieder Schlink? 91 Die zugehörige Aufgabe fordert die Lernenden auf, vor dem Hintergrund ihrer Beobachtungen “Gedanken und Fragen zum Inhalt zu formulieren” (S. 270), so dass zu diesem Zeitpunkt eine Hypothesenbildung der Lernenden über das noch zu Lesende angeregt wird. Vor dem Hintergrund des Umfanges und der für Schülerinnen und Schüler häufig als komplex empfundenen Erzählstruktur des Romans ist die Vorbereitung einer entsprechenden (impliziten) Lesehaltung eminent wichtig. Diese didaktische Sensibilität wird auch an der nächsten Aufgabenstellung deutlich, die ebenfalls noch der Vorbereitung der Lektürephase dient. Hier findet sich nämlich bereits der erste kurze Romanauszug, in dem Michael das titelgebende Motiv und Ritual des Vorlesens ( D.V . Kap. 14) erläutert. Die zugehörige Aufgabenstellung, die nach dem ersten Eindruck und dem Verhältnis der beiden Hauptfiguren fragt (vgl. S. 271), erscheint geeignet, das für die Romanhandlung konstitutive Element der Liebesgeschichte für die Lektürephase vorzuentlasten. Dies ist auch aus dem Grund wichtig, da Jugendliche, die sich in einem ähnlichen Alter befinden wie Michael, einen großen Altersunterschied in einer Liebesbeziehung häufig als befremdlich wahrnehmen und dadurch Gefahr laufen können, sich der erzählten Geschichte zu verweigern. Anders als im zuvor untersuchten Lehrwerk zeigt sich auch im weiteren Verlauf, dass der inhaltlichen Arbeit an und mit Der Vorleser , ergo dem literarischen Lernen und der textvermittelten Sinnstiftung, ein deutlich größeres Gewicht beigemessen wird. Belege hierzu sind die vielfach vorhandenen, den Lektüre- und Arbeitsprozess begleitenden Arbeitsanregungen, wie etwa das Anfertigen von Figurenkarten (S. 276), die häufigen Rückverweise auf längere Textstellen, die zur Bearbeitung der Aufgaben nochmals zu lesen sind, oder die den primären Leseprozess begleitende Erarbeitung einer umfassenden Handlungsübersicht, die auch die Benennung der Handlungszeit und der jeweiligen Handlungsräume einschließt. Sinnvollerweise vertiefen die sich hiernach unmittelbar anschließenden Aufgaben immer wieder die Ergebnisse dieses Konspekts; etwa wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit zu bestimmen (S. 271) oder die Raumstruktur des Erzählten nachzuvollziehen. Sowohl zur Zeitgestaltung als auch zur Struktur der Handlungsräume finden sich zudem Merkkästen mit instruktiven Ausführungen, die das literarische Handlungswissen der Lernenden zweckmäßig vertiefen und den sicheren Umgang mit fachsprachlichen Konzepten unterstützen. 8 Beispielhaft für den erfreulich häufigen und sinnvollen Einsatz dieser Merkkästen mag das Teilkapitel zur Analyse der Konfliktlage stehen. Nachdem vorab die Figurenkonstellation - erneut mit dem Hinweis, auf den Konspekt zurückzugreifen - erarbeitet worden ist (S. 273), definiert der erste Merkkasten den Begriff des Konflikts als “Kampf von Gegensätzen, die in einer Person / Figur oder zwischen zwei Personen / Figuren existieren. Gegensätzliche Kräfte und Willensrichtungen, 92 Sascha Feuchert und Björn Bergmann Ideen, Vorstellungen und Erwartungen treffen aufeinander, spitzen sich zu und erfordern eine Lösung” (S. 273). Daran anschließend finden sich drei Auszüge aus dem ersten Teil und ein weiterer aus dem zweiten Teil des Romans, die die Lernenden vor dem Hintergrund der gegebenen Definition zu inneren und äußeren Konflikten untersuchen sollen. Die vorgeschlagene Visualisierung der Arbeitsergebnisse in Tabellenform ist darüber hinaus geeignet, das Gegenüber von inneren und äußeren Konflikten nochmals zu verdeutlichen, so dass das Einfühlen in die Figur erleichtert wird. Die Auszüge sind zudem äußerst funktional gewählt, da sie einerseits geeignet sind, die Konfliktlage, in der sich Michael befindet, zu veranschaulichen und andererseits eine erste Bezugnahme auf charakteristische Figurenmerkmale, wie in einer weiteren Arbeitsanregung (S. 274, Aufgabe 4) gefordert, ermöglichen. 9 In einem weiteren die Figurenkomposition vertiefenden Schritt beleuchten die Autoren auch die sprachliche Gestaltung des Romans anhand der bekannten Auszüge der vorherigen Seiten, so dass ein Textverständnis, das Inhalt und Form zueinander in Beziehung setzt, angebahnt wird. Die grafische Übersicht (S. 276) konzentriert sich dabei auf wesentliche rhetorische Figuren (Antithese, Vergleich, rhetorische Frage, Wiederholung, Personifikation), die anhand von Zitaten belegt und anschließend kurz gedeutet werden, so dass die Schülerinnen und Schüler diesen interpretatorischen Dreischritt kennenlernen und auf die bekannten Textauszüge anwenden können. In einem weiteren kurzen Einschub zur Analyse der Erzählhaltung (S. 277) beziehen sich die Autoren auf das Modell von Franz K. Stanzel, das den Lernenden mithilfe eines Merkkastens vorgestellt wird. Die Aufgabenstellung, die Erzählperspektive zu bestimmen, stellt sicherlich keine größere Herausforderung dar. Allerdings wäre die im Kontext der Analyse des Schöningh-Kapitels angedeutete Herangehensweise der Umkehrung der Erzählstruktur an dieser Stelle deutlich anspruchsvoller und auch gewinnbringender, da so die inhaltlichen und formalen Konsequenzen einer alternativen Erzählperspektive aufgezeigt würden. Auch die Limitierungen der Ich-Erzählperspektive würden so deutlicher herausgearbeitet - und damit auch die Abhängigkeit des gesamten Erzählkonstrukts und seiner dadurch ausgelösten Fragen von dieser Perspektive. In den folgenden Abschnitten, die sich den Handlungsmotiven der literarischen Figuren widmen, geht es hauptsächlich darum, die Entwicklung der (Beziehung der) Protagonisten anhand verschiedener Ausschnitte aus dem zweiten Teil des Romans zu erläutern. Zunächst sollen die Motive, die den Beginn der Beziehung kennzeichnen, herausgearbeitet und verglichen werden. Hierzu verweist die Aufgabenstellung (S. 278) die Lernenden auf einzelne Romankapitel, die unter der obigen Fragestellung nochmals nachzulesen sind. Die weiteren im Kapitelverlauf zu findenden ausführlichen Rückverweise und die Immer wieder Schlink? 93 gezielten Arbeitsanregungen sprechen für die konsequente Arbeit an und mit dem Primärtext. Einen Eindruck hiervon kann nachfolgende Aufgabenstellung geben, die sich am Ende dieses Teilkapitels befindet: Beschreibt zusammenfassend die Entwicklung der Beziehung von Hanna und Michael. Denkt dabei an folgende Aspekte: die Art der Beziehung zwischen den beiden, das Verbindende und Trennende dabei, die Veränderungen in ihrer Beziehung vor und nach der Zeit des Prozesses, die erzählerischen und sprachlichen Gestaltungsmittel, Fragen, die für euch als Leser offenbleiben, eure abschließende Wertung der Beziehung. (S. 280) Durch die Erwähnung der bisherigen Arbeitsergebnisse (“Art der Beziehung zwischen den beiden, das Verbindende und Trennende” etc.), die für den Analyseaufsatz gleichsam als Schreibkriterien produktiv gemacht werden, wird auf einer inhaltlichen Ebene nochmals spürbar illustriert, wie komplex die Figurengestaltung im Roman ist. Das wichtige und für den Ich-Erzähler zentrale Handlungsmotiv Hannas, ihr Analphabetismus, wird - in Anlehnung an die Handlungslogik des Romans - auch in der Rückschau erarbeitet. Um “Hannas Vertuschungsstrategien während ihrer Beziehung zu Michael” (S. 281) zusammenzustellen und anschließend mit Blick auf die Konsequenzen dieses Verhaltens (Gewaltausbruch in Amorbach oder ihr Verhalten vor Gericht) kritisch zu diskutieren, verweist die Aufgabenstellung erneut auf die entsprechenden Seiten der Romanausgabe. Die Diskussionsimpulse sind erfreulich offen formuliert, so dass der sich anschließenden Auseinandersetzung mit der Schuldfrage Hannas nicht vorgegriffen wird. Die Thematisierung der Schuld Hannas ist notwendigerweise multiperspektivisch angelegt. Zunächst regt ein Merkkasten (S. 283) dazu an, die eigene Schulddefinition mit der juristischen sowie der ethisch-moralischen Definition abzugleichen. Daran anknüpfend geht es darum, die historische Rolle von KZ -Aufseherinnen zu recherchieren, um schließlich vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse Hannas Rolle und Verhalten vor Gericht zu analysieren, so dass die Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage ihrer Arbeitsergebnisse tatsächlich beurteilen können, “inwieweit man bei Hanna von Schuld sprechen muss” (S. 283). Gleichzeitig wird mit dem Vergleich zu historischen Täterinnen zumindest ermöglicht, auch den Konstruktcharakter der Figur Hannas zu erkennen und zu reflektieren. Didaktisch stringent steuert so der Aufbau des Kapitels letztlich auch auf die bedeutsame Frage der literarischen Wertung zu. Ausgehend von einer eigenständigen Recherche verschiedener Rezensionen sollen die Lernenden zusammenfassen, “welche Grundeinstellungen gegenüber dem Roman deutlich werden” (S. 288), so dass davon auszugehen ist, dass sich die kontroverse Rezeption in den Arbeitsergebnissen abbildet. 94 Sascha Feuchert und Björn Bergmann Noch bevor die Schülerinnen und Schüler sodann eine eigene Rezension verfassen sollen, die durch entsprechende Schreibkriterien adäquat entlastet wird, setzen sich die Lernenden mit einer abgedruckten Rezension (vgl. S. 288) auseinander, die in ihrer affirmativen Tendenz exemplarisch für die erste Periode der Rezeptionsgeschichte des Vorlesers steht. Das anzustellende Fazit für dieses Lehrwerk ist deutlich erfreulicher: Das Kapitel basiert auf einer klaren didaktischen Konzeption, die das literarische Lernen durch abwechslungsreiche Aufgabenstellungen mit entsprechenden Perspektivwechseln nachhaltig fördert. Die Arbeitsanregungen bauen zweckmäßig aufeinander auf und helfen dabei, die narrative Handlungslogik des Romans zu verstehen. Insofern zentrale Aspekte (Figurenkonstellation, Konfliktlage und Schuldfrage) so vermittelt wurden, dass das Gelesene potentiell mit einem subjektiven Sinn versehen werden kann, ohne dabei historische Aspekte, die zur Beurteilung der Schuldfrage (nicht nur der Figur) potentiell notwendig sind, zu vernachlässigen, stellt das analysierte Kapitel einen äußerst gelungenen Versuch dar, der Komplexität des Werks und den Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Kein Roman über den Holocaust: Literaturdidaktische Perspektiven, Chancen und Grenzen Nach dieser (kursorischen) Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Stellenwertes des Vorlesers in der bundesdeutschen Schulpraxis sollen abschließend noch einmal die literaturdidaktischen Chancen und Grenzen des Romans zugespitzt dargestellt werden. Vielleicht beginnt man eine solche Auseinandersetzung am besten mit der Feststellung, was Der Vorleser nicht ist, trotz gegenteiliger Einordnungen in manchen Lektürehilfen und Curricula (etwa Niedersachsen) - nämlich ein Roman über den Holocaust. 10 Immer wieder wurde er als solcher verstanden und interpretiert. Dabei liegt es schon bei einer oberflächlichen Lektüre auf der Hand: Der Roman erzählt nichts, was den Leser verstehen lassen würde, wie der Holocaust wirklich zustande kam oder organisiert wurde. Er erzählt nicht einmal etwas über eine tatsächliche oder glaubwürdige Täterfigur: Eine Analphabetin hätte schlichtweg nicht die - wenn auch nur kurze - Ausbildung zur Aufseherin in einem Konzentrationslager absolvieren können, sie wäre vermutlich noch nicht einmal soweit gekommen. Von den etwa 3500 Angehörigen des so genannten “ SS -Gefolges”, die bis 1945 Dienst in den verschiedenen Frauenlagern taten, “gerieten” auch die wenigsten in diesen “Beruf ”, etwa über Dienstverpflichtungen: Die allermeisten meldeten sich freiwillig, reagierten auf Anzeigen des Arbeitsamtes oder entsprechende Angebote. 11 Immer wieder Schlink? 95 Um es noch einmal deutlich zu sagen: Mit der Figur Hanna Schmitz erfahren wir also weder etwas über Auschwitz, noch über die Motivationen von realen Täter(inne)n. Allerdings, und das ist eine wichtige Feststellung, kann der Roman sehr wohl etwas erzählen zur Geschichte der (auch literarischen) “Vergangenheitsbewältigung”. Darüber hinaus bleibt selbstverständlich - wie mit jedem anderen Roman auch - literarisches Lernen ganz allgemein möglich, wie auch die Analyse der Lesebücher im vorherigen Abschnitt gezeigt hat. Der Vorleser hat also sehr wohl das Potential, Gegenstand eines guten Literaturunterrichts zu sein, der schließlich immer ein Lernen mit und über Literatur ermöglicht. Wir wollen das nachstehend wenigstens beispielhaft verdeutlichen und unterstützen, wenngleich sich auch die Akzente im Vergleich zu den analysierten Lehrwerken und einigen curricularen Vorgaben deutlich verschieben. Die Erzählperspektive Wie entscheidend die genaue Analyse der Erzählperspektive bzw. des Erzählertyps prinzipiell bei einem Roman ist, dürfte Schülerinnen und Schülern gerade mit dem Vorleser sehr deutlich werden. Der Roman kann seine ganze Wirkung überhaupt nur entfalten, weil wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun haben, der seine Sicht der Geschichte, seine Interpretation der Ereignisse vorlegt und dem Leser zur ‘Prüfung’ übergibt. Und natürlich ist dieser Michael Berg nicht nur wie alle Ich-Erzähler ‘befangen’ und in seiner Fähigkeit, die Motivationen, Gedanken und Gefühle anderer Figuren einzuschätzen, eingeschränkt; er will und muss mit seiner Erzählung auch noch das Trauma seines Lebens bewältigen: Immerhin hat er eine Frau geliebt, die in Auschwitz tätig war. Hanna ist und bleibt eine Mörderin - und Michael muss damit zurechtkommen, dass er sie eine Zeitlang zum Zentrum seines Lebens gemacht hat. 12 Dass Berg deshalb auch mit seiner Erzählung ringt, immer wieder neue Anläufe unternimmt, teilt er selbst mit, zwar erst fast am Ende, aber es ist eine Stelle, die dem Leser klarmacht, dass Michael Berg ein “inadäquater Erzähler” ist, also einer, der seiner eigenen Geschichte recht eigentlich nicht gewachsen ist: 13 Den Vorsatz, Hannas und meine Geschichte zu schreiben, habe ich bald nach ihrem Tod gefaßt. Seitdem hat sich unsere Geschichte in meinem Kopf viele Male geschrieben, immer wieder ein bißchen anders, immer wieder mit neuen Bildern, Handlungs- und Gedankenfetzen. So gibt es neben der Version, die ich geschrieben habe, viele andere. Die Gewähr dafür, dass die geschriebene die richtige ist, liegt darin, daß ich sie geschrieben und die anderen Versionen nicht geschrieben habe. Die geschriebene Version wollte geschrieben werden, die vielen anderen wollten es nicht. 96 Sascha Feuchert und Björn Bergmann Zuerst wollte ich unsere Geschichte schreiben, um sie loszuwerden. Aber zu diesem Zweck haben sich die Erinnerungen nicht eingestellt. Dann merkte ich, wie unsere Geschichte mir entglitt, und wollte sie durchs Schreiben zurückholen, aber auch das hat die Erinnerung nicht hervorgelockt. Seit einigen Jahren lasse ich unsere Geschichte in Ruhe. Ich habe meinen Frieden mit ihr gemacht. Und sie ist zurückgekommen, Detail um Detail und in einer Weise rund, geschlossen und gerichtet, daß sie mich nicht mehr traurig macht. ( D. V. S. 205 f.) Man wird mit Schülerinnen und Schülern diese bedeutsame Stelle sehr ausführlich besprechen und ihre Konsequenzen verdeutlichen müssen. Sie kann dazu dienen, um an einem extremen Beispiel klar zu machen, warum ein Ich-Erzähler auf der einen Seite die “epische Distanz” maximal verringert - er steht ja mitten im Geschehen -, gleichzeitig aber sein Blickfeld extrem eng ist und er seine Geschichte nur im Hinblick auf sich selbst erzählen kann. Und diese Stelle illustriert auch Wesentliches zum Erzählen allgemein: Denn wir alle erzählen unsere (Lebens-)Geschichten in der Regel so, dass sie unser Ich stabilisieren, dass sie uns, um es einmal drastisch zu sagen, überleben lassen. Es bedarf einer gezielten didaktischen Entscheidung, ob man diese Stelle sogar zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit dem Vorleser macht oder der Chronologie des Romans folgt und sie erst am Ende bespricht und damit noch einmal alle bis dahin getroffenen Urteile einer kritischen Prüfung unterzieht. Auf jeden Fall macht dieser metanarrative Kommentar des Ich-Erzählers, der an einer sehr exponierten Stelle, nämlich an einem der Ränder der Erzählung, steht, deutlich, dass dies ein Roman über Michael ist, über seine Urteile, seine “(Nicht-)Bewältigung” der Vergangenheit. Damit wird auch der Titel noch einmal klar, der auf den ersten Blick auch ‘falsch’ wirken kann: Es geht eben nicht um “die Analphabetin” oder “die Täterin”, es geht hauptsächlich um den Vorleser , um Michael Berg. Mit dieser Erkenntnis lesen sich Bergs Urteile über Hanna oder über Täter allgemein aber anders. Man wird versucht sein, seine mehrfach wiederholten und dadurch narrativ stark privilegierten Aussagen zum Auseinanderfallen von Entscheiden und Handeln noch deutlicher zurückzuweisen, als man es vielleicht schon getan hat: Ich denke, komme zu einem Ergebnis, halte das Ergebnis fest und erfahre, daß das Handeln eine Sache für sich ist und der Entscheidung folgen kann, aber nicht folgen muß. Oft genug habe ich im Laufe meines Lebens getan, wofür ich mich nicht entschieden hatte. Es, was immer es sein mag, handelt; es fährt zu der Frau, die ich nicht mehr sehen will, macht gegenüber dem Vorgesetzten eine Bemerkung, mit der ich mich um Kopf und Kragen rede, raucht weiter, obwohl ich mich entschlossen habe, das Rauchen aufzugeben, und gibt das Rauchen auf, nachdem ich eingesehen habe, daß ich Raucher bin und bleiben werde. Ich meine nicht, daß Denken und Entscheiden Immer wieder Schlink? 97 keinen Einfluß auf das Handeln hätten. Aber das Handeln vollzieht nicht einfach, was davor gedacht und entschieden wurde. Es hat seine eigenständige Quelle und ist auf ebenso eigenständige Weise mein Handeln, wie mein Denken mein Denken ist, und mein Entscheiden mein Entscheiden. ( D. V. S. 21 f.) Man versteht, warum Michael Berg dieses Erklärungsmuster entwickelt, warum er unbedingt begründen muss, dass Hanna den Dienst im KZ nicht gewollt hat, sich nicht für ihn entschieden hat - denn damit wäre auch er aus dem Schneider, seine Liebe zu ihr wäre dann nicht mehr das Produkt eines furchtbar verirrten Gefühls. Er hätte sich nicht hingezogen gefühlt zu einer gewalttätigen Mörderin, zu einer, die über Leben und Tod zu entscheiden vermochte. Für Michael Bergs Aussage, seine Geschichte habe sich für ihn gerundet, sie mache ihn nicht mehr traurig, kennt man nun den Preis: Er muss eine scheinbare anthropologische Konstante finden, die ihm erklärt, warum Hanna offenbar aus freien Stücken nach Auschwitz ging, ohne es doch gewollt zu haben. Ebenso ohne es zu wollen, gibt der Erzähler freilich im Laufe seiner Geschichte preis, dass diese Erklärung nicht so ganz stimmen kann. Hanna hat ganz offensichtlich etwas Gewalttätiges an sich, etwas Unkontrollierbares - und das erfährt auch Michael Berg buchstäblich am eigenen Leibe, als sie ihn nach ihrem bereits thematisierten Wutanfall ( D.V . Kap. 11) züchtigt. Dass auch dafür - in Michaels Verständnis - ihre Furcht vor der Entdeckung als Analphabetin verantwortlich ist, ändert nichts an der (fiktiven) Tatsache, dass sie unkontrolliert und brutal zuschlägt. Auch der Beginn der Erzählung und damit auch der Beginn der Beziehung zwischen Hanna und Michael hält einen Hinweis für den Leser bereit, dass das Verhältnis zwischen beiden nicht gesund, nicht “normal” ist: Schon in den ersten Sätzen berichtet Michael, dass sich Hanna ihm, der an Gelbsucht litt, “fast grob” zuwandte. Nach der Interpretation des metanarrativen Kommentars werden auch Schülerinnen und Schüler diese Zeichen besser verstehen und deuten können. Genau das aber ist das Ziel guten Literaturunterrichts: Literarisches Lernen heißt u. a., zu verstehen, wie Literatur funktioniert, wie sie ihre Wirkungen erzielt. Dabei kommt der Analyse der erzählerischen Vermittlung eine entscheidende Bedeutung zu: Schülerinnen und Schüler sollen eine (grundsätzlich empathische) Beziehung zum Erzählten aufbauen, aber dabei auch kritisch bleiben und Mitgeteiltes immer auch auf seine Stichhaltigkeit hin überprüfen. Schließlich lesen wir auch die Werke Goethes nicht, um uns kritiklos mit den durch die literarische Inszenierung privilegierten Positionen seiner Figuren zu identifizieren. Stattdessen geht es darum, Schülerinnen und Schüler auch literarisch urteilsfähig zu machen. 98 Sascha Feuchert und Björn Bergmann Von dort ausgehend begreifen sie auch, dass ein Roman immer auch einen Kontext hat, dass er mitunter auf bestimmte Interpretationen und Lesarten verkürzt wird, dass er gewisse Leserinteressen bedienen kann, etc. Das wiederum führt uns zu einem zweiten, literaturdidaktisch fruchtbaren Feld, das mit dem Vorleser bestellt werden kann. Die Analyse von Rezeptionsprozessen Es ist mittlerweile hinlänglich bekannt, dass der Vorleser eigentlich zwei Rezeptionen erfuhr: Unmittelbar nach seinem Erscheinen 1995 waren die Besprechungen ganz überwiegend positiv; sie strichen vor allem die erzählerische Konstruktion heraus, lobten aber auch besonders die Darstellung der Täterfigur Hanna. Durch sie sahen viele Rezensenten die “Aufrichtigkeit” des Romans sichergestellt, der, wie Rainer Moritz in seiner überschwänglichen Kritik in der Weltwoche schrieb, angeblich “die bequemen Ausflüchte all derer hinfort [fegt], die einem ‘Aufarbeiten der Vergangenheit’ eilfertig das Wort reden.” Man fand allgemein, dass Schlink mit Hanna eine entdämonisierte Täterfigur entworfen habe und somit auch den realen Tätern, die in den wenigsten Fällen unmenschliche Psychopathen und damit auf wohltuende Weise unverständlich waren, nahegekommen sei. Dabei wurde gerade die von Michael Berg gelieferte Begründung für Hannas Täterschaft, ihr Analphabetismus, als Ausdruck einer - im Sinne Hannah Arendts - “banalen” Täterschaft akzeptiert. 50 Jahre nach Kriegsende schien dieses Täterbild also offenbar - nicht nur in Deutschland - konsensfähig zu sein. Hat man mit Schülerinnen und Schülern die Erzählperspektive, deren Folgen und Bedingungen aber klar analysiert und auch die vom Erzähler gleichsam unbewusst mitgelieferten Zeichen, die belegen, dass seine Erklärungen nicht stimmen können, dann wird bei der Diskussion einzelner Rezensionen aus der ersten Rezeptionsphase jedoch fast automatisch die Frage entstehen, wie es zu dieser Akzeptanz kommen konnte. Abgesehen von den - ob nun absichtlich oder unabsichtlich vom Autor - mitgelieferten Widersprüchen im Roman wird die Lernenden sicher die Frage beschäftigen, wie es den Rezensenten gelingen konnte, Bergs (weiter oben bereits zitierte) Positionen zum Auseinanderfallen von Entscheiden und Handeln so ohne Weiteres anzunehmen. Denkt man diese schließlich konsequent zu Ende, dann wäre auch unser allgemeines Verständnis von Täterschaft und vor allem von Rechtsprechung in Gefahr: Wenn letztlich keiner für das Es , das da in ihm handelt, verantwortlich ist, kann es eigentlich auch für keine Form des Verbrechens eine Bestrafung geben. Für die Schülerinnen und Schüler wird durch eine Analyse dieser ersten Rezeptionsphase verständlich, warum es eine zweite - ab 2002 - gab oder bes- Immer wieder Schlink? 99 ser: geben musste, die den Roman nunmehr heftig kritisierte. Willi Winkler bezeichnet den Roman in der Süddeutschen Zeitung gar als “Holo-Kitsch” und machte sein hartes Urteil erneut an der Täterfigur Hanna fest: Auf seine wenig subtile Art variiert Schlink das Klischee vom schäferhundliebenden und abends geigespielenden KZ -Kommandanten, indem er seine Hanna wenigstens nachträglich in das Reich der Dichter & Denker beruft. Die ehemalige Lageraufseherin ist nämlich Analphabetin, deshalb braucht sie den Vorleser. Weil sie nicht lesen konnte, und die Entdeckung fürchtete, hat Hanna, armes Ding, ihre Laufbahn bei Siemens aufgeben müssen und bei der SS Unterschlupf gefunden, wo ihre Leseschwäche nicht weiter auffiel. Auch die mitgelieferten Erklärungen Bergs wurden nun hart zurückgewiesen - allerdings geriet jetzt vor allem auch der Autor Bernhard Schlink in die Kritik. Die Ebenen Autor / Erzähler wurden konsequent vermischt, die erzählerische Vermittlung, ihre Bedingungen und Möglichkeiten, wurden kaum noch beachtet. Auch hier ist literarisches Lernen mit den Schülerinnen und Schülern sehr gut möglich: Zum einen können sie selbst noch einmal überprüfen, wo eine Trennung von Autor und Erzähler dringend geboten erscheint und wo man sie gegebenenfalls sinnvollerweise aufheben kann. Darüber hinaus lernen sie an der Auseinandersetzung mit den Rezeptionsphasen auch eine Menge über den aktuellen Literaturbetrieb und seine Aktanten. Das Arbeitsfeld “Wirkungszusammenhänge von Literatur” (wie es im hessischen Lehrplan etwa vorgesehen ist) wird an dem nachgerade spektakulären Fall des Vorlesers sehr transparent. Gleichzeitig lässt sich, wie bereits angedeutet, trefflich diskutieren, warum sieben Jahre vergehen mussten, ehe sich der sehr affirmativen Lesart, die sich ja nicht nur im Gedenkjahr an das Kriegsende, sondern auch nur zwei bzw. drei Jahre nach den rechtsradikalen Ausschreitungen und Gewalttaten von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen entwickelte, eine - bisweilen über das Ziel hinausschießende - relativierende Interpretation des Vorlesers entgegenstellte. Das wäre eine Ebene des historischen Lernens mit dem Roman, die sehr wohl auch möglich ist: Nämlich nicht über die Geschichte des Holocaust, sondern über den gesellschaftlichen Umgang mit ihm und mit Täterschaft allgemein, wie er an der Rezeption eines literarischen Werks vor zwanzig bzw. dreizehn Jahren hervortritt. Ein Fazit Der vorliegende Aufsatz hat versucht, exemplarisch Aufschluss darüber zu geben, welcher Stellenwert dem Vorleser noch immer in der bundesdeutschen 100 Sascha Feuchert und Björn Bergmann Schulpraxis zukommt. Zum einen konnte gezeigt werden, dass der Roman noch immer curricular fest verankert ist, zum anderen wurde mithilfe der kritischen Analyse zweier erst vor Kurzem erschienenen Lehrwerke gezeigt, dass und unter welchen Voraussetzungen literarisches Lernen mit ihm möglich ist. Deutlich wurde, dass die Verkürzung des Romaninhalts auf die historische Schuldproblematik didaktisch überaus fraglich ist. Eine angemessene Auseinandersetzung kann dagegen gelingen, wenn die erzählerische Komplexität des Vorlesers transparent und zum Ausgang weiterer Überlegungen gemacht wird. In einem weiteren Schritt wollten wir zeigen, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Roman dann noch immer lohnt, wenn man das literarische Lernen (vor allem zur erzählerischen Vermittlung) koppelt mit einem wohlverstandenen historischen Lernen: nicht über den Holocaust selbst, sondern über Rezeptionsprozesse und deren Umfeld und Ursachen. Notes 1 So äußert sich Schlink etwa in einem Interview mit Tilman Krause: “[…] mein Traum war immer, dass meine Bücher in den Bahnhofsbuchhandlungen ausliegen.” 2 Die Rechtseinheit im Bildungsbereich wird durch die bildungsföderale Ausrichtung Deutschlands verhindert, so dass die einzelnen Bundesländer ihre inhaltlichen Zielvorgaben souverän bestimmen können. Gleichwohl wird es nach Beschluss der Kultusministerkonferenz eine Vereinheitlichung der Schulabschlüsse geben; ab dem Jahr 2017 gelten bundesweit einheitliche Richtlinien zur Erlangung der allgemeinen Hochschulreife, dem höchsten Schulabschluss in Deutschland. 3 Trotz ihrer Unterschiedlichkeit haben die Richtlinien gemein, dass sie auf vergleichbare literarische Kompetenzen abzielen: Schülerinnen und Schüler sollen im Kern mithilfe geeigneter Texte lernen, mit Fiktionalität und sprachlichen Bildern umzugehen sowie narrative Handlungslogiken und Perspektiven literarischer Figuren nachzuvollziehen. 4 Diesen Eindruck bestätigt auch die folgende Aufgabenstellung (S. 295): “Untersuchen Sie die Beziehung zwischen Hanna und Michael und zwischen Michael und Sophie und den anderen Klassenkameraden. Orientieren sie sich während oder nach der Lektüre auch an der Inhaltsangabe (S. 291 f.) und der Auflistung zur Chronologie der Ereignisse (S. 292 f.).” 5 Im Folgenden werden zur besseren Orientierung für die Verweise auf den Vorleser die Siglen D. V. verwendet. Sie beziehen sich auf die im deutschen Markt befindliche Diogenes Taschenbuchausgabe (1997). Immer wieder Schlink? 101 6 Die Aufgabenstellung lautet etwa: “Erschließen Sie durch markierendes, selektives Lesen den Text: Zu welchen Überlegungen und Einsichten kommt Michael, als er erkennt, dass Hanna Analphabetin ist? Welche Konflikte und Schuldgefühle bedrängen ihn? ” (S. 296). 7 “Diskutieren Sie, inwiefern die Absicht des Verfassers, ‘die Monster’ als Menschen zu zeigen, vom Leser auch als eine Relativierung ihrer Schuld gedeutet werden könnte” (S. 296). 8 In dem erfreulich häufigen Einsatz dieser Merkkästen als Instrument des literarischen Lernens offenbart sich eine der großen Stärken des konzeptionellen Vorgehens. 9 Die typografisch sauber getrennten Auszüge beschäftigen sich u. a. mit Michaels Scham, als er Hanna erstmals in Unterwäsche sieht (S. 15 ff.), mit Michaels Eingeständnis des Schulschwänzens und Hannas Verärgerung darüber (S. 35 f.), mit Hannas Gewaltsausbruch in Amorbach (S. 54 f.) und dem von Michael beschriebenen Gefühl der Betäubung während der Gerichtsverhandlung (S. 96 f.). 10 Vgl. hierzu besonders Donahue. 11 Anders als es oft kolportiert wird, gab es keine weiblichen Mitglieder der SS . Die Aufseherinnen in den Konzentrationslagern waren Mitglieder des “ SS -Gefolges” und - trotz ihrer Uniformen - zivile Angestellte der SS . Vgl. hierzu Erpel. 12 Dieses Trauma formuliert Michael selbst sehr deutlich (S. 128). 13 Das Konzept stammt von dem britischen Literaturwissenschaftler John Mullan, der damit eigentlich einen Ich-Erzähler meint, “that requires the reader to supply what the narrator cannot understand” (S. 50). Mullan erläutert dies an dem autistischen Ich-Erzähler Christopher in Mark Haddons The Curious Incident of the Dog in the Night-Time , der selbst um seine Schwierigkeiten nicht weiß. Wir möchten die Bezeichnung hier ausdehnen auch auf jene Ich-Erzähler, denen - auf die eine oder andere Weise - bewusst ist, dass sie mit ihrer Geschichte überfordert sind. Works Cited Birkmeyer, Jens. “Erinnerung als didaktische Kategorie? Ethische Zugänge im Literaturunterricht.” Holocaust-Literatur und Deutschunterricht. Perspektiven schulischer Erinnerungsarbeit . Hohengehren: Schneider Verlag 2007. 61-78. Bildungsplan 2004. Allgemein bildendes Gymnasium. Ed. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, 2005. Web. 27 May 2015. Deutsch in der Oberstufe. Ein Arbeits- und Methodenbuch. Ed. Peter Kohrs. Paderborn: Schöningh, 2011.